Seit einiger Zeit tobt ein buchstäblicher Sturm gegen Richard Mutt alias Marcel Duchamp und sein berühmtestes Werk, das Pissoir mit dem Titel «Fountain», aus dem Jahre 1917. In vielen fragwürdigen Artikeln wird behauptet, dass Duchamp die Idee zu seinem Jahrhundertwerk der heute weitgehend vergessenen, deutschen Lebenskünstlerin Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven (1874–1927) gestohlen hätte. Diese Behauptung hat sich zudem auf dem Internet nicht nur wie ein Lauffeuer verbreitet, sondern sie wird in der Zwischenzeit auch vielerorts als ein unumstössliches Faktum verstanden, obwohl sie jeglicher Grundlage entbehrt. In meinem kürzlich erschienen Buch Marcel Duchamp: Richard Mutt’s Fountain habe ich sämtliche relevanten Dokumente zusammengetragen, die belegen, dass die Baroness definitiv nichts mit der Entstehung dieses berühmten Readymades zu tun hat.
Kurioserweise stand Francis Naumann, Amerikas renommiertester Duchamp-Spezialist, unbeabsichtigt am Anfang dieser Falschnachrichten, als er nämlich 1994 in seinem bekannten Buch New York Dada 1915–23 versuchte, das künstlerische Werk der Baroness aufzuwerten. So wies er der Künstlerin zum Beispiel eine Co-Autorschaft an Morton L. Schambergs Readymade God zu, welches in gewisser Weise eine Antwort auf Richard Mutts Fountain darstellt. Das wiederum motivierte Irene Gammel 2003 in ihrer Monografie Dada Baroness: Das wilde Leben der Elsa von Freytag-Loringhoven2 zu behaupten, dass die Künstlerin möglicherweise die Autorin von Duchamps Fountain sein könnte. Siri Hustvedt, die prominente amerikanische Schriftstellerin, hat diese Darlegung schliesslich mit einem offensichtlich #mettoo-inspirierten Gestus übernommen und damit den Skandal ins Rollen gebracht, obwohl sie selbst weder Duchamp-Spezialistin noch anerkannte Kennerin des Werks der Baroness ist und hinter ihren Statements auch stark ihre eigene Biografie durchschimmert, wie sie während Jahren im Schatten ihres berühmten Mannes, Paul Auster, gestanden hatte. Gammel und Hustvedt stützen sich bei ihren Behauptungen auf Marcel Duchamps Telegramm an seine Schwester Suzanne vom 11. April 1917, in welchem er schreibt: «Ma chère Suzanne […] Une de mes amies sous un pseudonyme masculin, Richard Mutt, avait envoyé une pissotière en porcelaine comme sculpture […]. Affect. Marcel.» Fountain wurde Anfang April 1917 tatsächlich von einer Frau an die First Annual Exhibition of the Society of Independent Artists im Grand Central Palace in New York eingereicht.
Es war aber nicht Elsa von Freytag-Loringhoven, sondern Louise Norton (1890–1989), die spätere Frau von Edgar Varèse (1883–1965). Das können wir mit Hilfe von unterschiedlichen Dokumenten zweifelsfrei belegen: Auf dem berühmten Foto von Alfred Stieglitz (1864–1946) (Abb. 2) sehen wir zum Beispiel, dass die Organisatoren unten links ein Etikett am Pissoir befestigt haben, auf welchem auf der obersten Zeile «[Fou]ntain» steht. Dann erscheint zweimal der Künstlername «Richard Mutt», und schliesslich wird «110 West 88 St.», die Adresse von Louise Norton, als Wohnsitz des Künstlers Richard Mutt angegeben (Abb. 3).4 Norton hat die Arbeit in Duchamps Auftrag eingereicht, weil dieser zum Organisationskomitee gehörte. Wäre seine Autorschaft bekannt gewesen, dann hätte dies sein subtiles Spiel um die Frage «Was ist Kunst?» beeinflusst und in eine falsche Richtung gelenkt. Duchamp hatte im April 1917 zudem nachweislich eine intime Affäre mit Louise Norton.5 Die junge Frau gehörte darüber hinaus im Mai 1917 auch zum Autorenteam der zweiten Ausgabe des von Duchamp, Henri-Pierre Roché (1879–1959) und Beatrice Wood (1893–1998) selbstverlegten Kunstmagazins The Blind Man, das nahezu ausschliesslich der skandalösen Ablehnung von Fountain gewidmet war. Sie schrieb darin «The Buddha of the Bathroom», den allerersten Essay über Richard Mutts Fountain. Mit anderen Worten, sie war von Anfang an ein konspiratives Mitglied dieser revolutionären, Duchamp’schen Mise-en-scène um Kunst, Qualität und Autorschaft.
In keinem von Elsas Werken finden wir sanitäre Reminiszenzen. Sie war – im Unterschied zu Duchamp und Norton – auch nicht an den Aktivitäten der First Independents Exhibition und an der Produktion des The Blind Man Nr. 2 beteiligt. Und wäre sie von den Herausgebern der Zeitschrift tatsächlich an einer Mitarbeit gehindert worden, dann hätte sie sich spätestens bei deren Erscheinen mit lauter Stimme zu Wort gemeldet. Denn eine selbstbewusste Frau wie die Baroness, die ihre Ansichten und Gefühle gegenüber anderen stets unverblümt zum Ausdruck brachte, hätte Duchamp mit Sicherheit öffentlich angegriffen, wenn dieser nicht nur eine künstlerische Idee von ihr übernommen, sondern sie auch an der Promotion dieser Idee gehindert hätte, genau so wie sie es als enttäuschte Verliebte in ihrem Gedicht Graveyard Surrounding Nunnery tat, als sie schrieb: «I loved Marcel Dushit / He behaved mulish — / (A quit.)». Darüber hinaus nahm die Baroness auch nie mit Alfred Stieglitz Kontakt auf, um nach dessen berühmter Fountain-Fotografie zu fragen, während der einzige, heute noch existierende Abzug immer im Besitz von Marcel Duchamp geblieben ist.
Nachdem Louise Norton Fountain Anfang April 1917 in Duchamps Auftrag als ein Werk von Richard Mutt an die First Independents Exhibition eingereicht hatte, wurde das Objekt nach kontroverser Diskussion von der Mehrheit der Organisatoren abgelehnt, obwohl in ihren offiziellen Teilnahmebedingungen nicht nur «No Jury, No Prizes» stand, sondern auch, dass jeder, welcher der Society einen Betrag von 5 Dollars zahlte, an der Ausstellung teilnehmen dürfe. Der Künstler William J. Glackens, Präsident des Organisationskomitees, nannte Fountain gegenüber der Presse «das Produkt einer unterdrückten Adoleszenz» und hielt das Objekt für unanständig und schon gar nicht für ein Kunstwerk. Daraufhin traten Marcel Duchamp und Walter Arensberg von ihren operativen Ämtern zurück, und einige Tage später wurde das Readymade auf Duchamps Initiative hin in die New Yorker Galerie 291 gebracht, wo es Alfred Stieglitz, Fotograf und Direktor der Galerie, auf einen weissen Sockel stellte und vor Marsden Hartleys Gemälde The Warriors fotografierte. Kurz
darauf verschwand das signierte Pissoir auf mysteriöse Weise und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Es ist nun besonders bemerkenswert, dass Duchamps spätere, für den Ausstellungsbetrieb geschaffene Fountain-Repliken – die Miniaturversion für die Boîte-en-valise 1938, und die berühmten, in Originalgrösse hergestellten Nachahmungen für die Edition Schwarz 1964, – durch traditionelle Verfahren hergestellte Skulpturen sind. Mit anderen Worten, es sind Objekte, die quasi durch die von Hand gefertigte Imitation einer Massenware zum Original und anschliessend durch erneute Vervielfältigung wiederum zu einem Multiple werden. Die vom amerikanischen Star-Galeristen Sidney Janis (1896–1989) 1950 in Paris gekaufte Replik für seine legendäre Ausstellung Challenge and Defy in seiner New Yorker Galerie, ist dagegen ein Stellvertreter-Objekt für das «Original» in der Stieglitz-Fotografie und somit eine neue, selbstständige Variante der ursprünglichen Fountain-Idee von 1917. Und das 1963 von Ulf Linde (1929–2013) in einem Restaurant in Stockholm gefundene und in der Galerie Burén ausgestellte Pissoir, modifizierte Duchamp ein Jahr später und signierte es auf der Rückseite mit “pour copie conforme Marcel Duchamp”. Mit anderen Worten: Wir treten als Betrachter, Rezipient, Interpret nicht mit dem «Original»-Readymade Fountain in einen Dialog, sondern vielmehr mit einer Art künstlerischen Referenz, die wir gleichzeitig in unserer Vorstellung in den Resonanzraum Kunstwerk zurückprojizieren.
Und wir bedienen uns Avataren – die Stieglitz-Fotografie, die Janis-Stellvertreterin, das verbesserte Linde-«Surrogat » oder die Schwarz-Replik – wenn wir über die Bedeutung von Fountain nachdenken, spekulieren und diskutieren. Und plötzlich ist das «Readymade» überall präsent, ohne tatsächlich zu existieren. Das Werk ist ein Mythos, und wir glauben dennoch zu wissen, was es ist, wie es ist und was es für uns tut. Und so rückt es unmissverständlich in die Nähe von mythischen Figuren wie Feen, Elfen, Hexen, Gespenstern, Kobolden, Luftgeistern, Dämonen, Irrlichtern oder Poltergeistern, die uns in Form von Skulpturen und Bildern durchs Leben begleiten und uns stimulieren und verunsichern. Das ist Fountain, etwas, das «nur» durch Überlieferung existiert, wie ein Ufo, das plötzlich auftaucht, von ein paar wenigen gesehen wird und sogleich wieder verschwindet.
Duchamp wollte, dass wir die Idee der Autorschaft in der bildenden Kunst einer grundsätzlichen Revision unterziehen, dass wir sie komplett neu denken. Und mit Fountain ist es ihm zudem gelungen, alle Facetten des Umgangs, der Bedeutung, der Ästhetik und der Autorschaft bezüglich eines Gegenstands oder eines Phänomens sichtbar und begreifbar zu machen. Und genau deshalb ist dieses Readymade zu einem der signifikantesten und wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts geworden, weil über kein anderes so viel nachgedacht und weil kein anderes so viel zitiert, kopiert, variiert und adaptiert wurde wie Fountain.
Urinierbecken gehörten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Errungenschaften der Moderne, weil sie wesentlich dazu beitrugen (und noch immer beitragen), die allgemeine Hygiene in unserem Alltag zu verbessern. Inzwischen aber haben wir schon längst vergessen, wie wichtig diese Einrichtungen damals waren, um all die vielen Infektionskrankheiten zu bekämpfen. Das war Duchamps Ausgangspunkt für sein «infames» Readymade, ein wichtiges Faktum, das in meinem kürzlich erschienenen Buch «Marcel Duchamp: Richard Mutt’s Fountain» – nebst anderen bisher unbekannten Erkenntnissen – zum ersten Mal detailliert und mit vielen zeitgeschichtlichen Dokumenten nachgezeichnet wird.