Marcel Duchamp: Richard Mutt’s Fountain

Seit eini­ger Zeit tobt ein buch­stäb­li­cher Sturm gegen Richard Mutt ali­as Mar­cel Duch­amp und sein berühm­tes­tes Werk, das Pis­soir mit dem Titel «Foun­tain», aus dem Jah­re 1917. In vie­len frag­wür­di­gen Arti­keln wird behaup­tet, dass Duch­amp die Idee zu sei­nem Jahr­hun­dert­werk der heu­te weit­ge­hend ver­ges­se­nen, deut­schen Lebens­künst­le­rin Baro­ness Elsa von Frey­tag-Loring­ho­ven (1874–1927) gestoh­len hät­te. Die­se Behaup­tung hat sich zudem auf dem Inter­net nicht nur wie ein Lauf­feu­er ver­brei­tet, son­dern sie wird in der Zwi­schen­zeit auch vie­ler­orts als ein unum­stöss­li­ches Fak­tum ver­stan­den, obwohl sie jeg­li­cher Grund­la­ge ent­behrt. In mei­nem kürz­lich erschie­nen Buch Mar­cel Duch­amp: Richard Mutt’s Foun­tain habe ich sämt­li­che rele­van­ten Doku­men­te zusam­men­ge­tra­gen, die bele­gen, dass die Baro­ness defi­ni­tiv nichts mit der Ent­ste­hung die­ses berühm­ten Rea­dy­ma­des zu tun hat.

Ste­fan Banz, Mar­cel Duch­amp: Richard Mutt’s Foun­tain, 2019, 280 Sei­ten, 88 Abbil­dun­gen, Ver­lag für moder­ne Kunst, Wien und Les Pres­ses du réel, Dijon.

Kurio­ser­wei­se stand Fran­cis Nau­mann, Ame­ri­kas renom­mier­tes­ter Duch­amp-Spe­zia­list, unbe­ab­sich­tigt am Anfang die­ser Fal­sch­nach­rich­ten, als er näm­lich 1994 in sei­nem bekann­ten Buch New York Dada 1915–23 ver­such­te, das künst­le­ri­sche Werk der Baro­ness auf­zu­wer­ten. So wies er der Künst­le­rin zum Bei­spiel eine Co-Autor­schaft an Mor­ton L. Scham­bergs Rea­dy­ma­de God zu, wel­ches in gewis­ser Wei­se eine Ant­wort auf Richard Mutts Foun­tain dar­stellt. Das wie­der­um moti­vier­te Ire­ne Gam­mel 2003 in ihrer Mono­gra­fie Dada Baro­ness: Das wil­de Leben der Elsa von Frey­tag-Loring­ho­ven2 zu behaup­ten, dass die Künst­le­rin mög­li­cher­wei­se die Autorin von Duch­amps Foun­tain sein könn­te. Siri Hust­vedt, die pro­mi­nen­te ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­le­rin, hat die­se Dar­le­gung schliess­lich mit einem offen­sicht­lich #met­too-inspi­rier­ten Ges­tus über­nom­men und damit den Skan­dal ins Rol­len gebracht, obwohl sie selbst weder Duch­amp-Spe­zia­lis­tin noch aner­kann­te Ken­ne­rin des Werks der Baro­ness ist und hin­ter ihren State­ments auch stark ihre eige­ne Bio­gra­fie durch­schim­mert, wie sie wäh­rend Jah­ren im Schat­ten ihres berühm­ten Man­nes, Paul Aus­ter, gestan­den hat­te. Gam­mel und Hust­vedt stüt­zen sich bei ihren Behaup­tun­gen auf Mar­cel Duch­amps Tele­gramm an sei­ne Schwes­ter Suzan­ne vom 11. April 1917, in wel­chem er schreibt: «Ma chè­re Suzan­ne […] Une de mes amies sous un pseud­ony­me mas­cu­lin, Richard Mutt, avait envoyé une pis­so­tiè­re en por­ce­lai­ne com­me sculp­tu­re […]. Affect. Mar­cel.» Foun­tain wur­de Anfang April 1917 tat­säch­lich von einer Frau an die First Annu­al Exhi­bi­ti­on of the Socie­ty of Inde­pen­dent Artists im Grand Cen­tral Palace in New York eingereicht.

Mor­ton L. Scham­berg, God; nicht signiert und nicht datiert, Holz­geh­rungs­la­de, guss­ei­ser­ne Klemp­ner­fal­le; Höhe: 31,4 cm, Sockel: 7,6 × 12,1 × 29,5 cm; Phil­adel­phia Muse­um of Art, Samm­lung Loui­se und Wal­ter Are­n­sberg. Bemer­kung: Die­se Foto­gra­fie wur­de von Scham­berg auf­ge­nom­men, signiert und mit 1917 datiert, Gela­ti­ne-Sil­ber­druck, 24,1 × 19,2 cm, The Met, New York, The Eli­sha Whit­tel­sey Coll­ec­tion. Im Hin­ter­grund sieht man zudem Tei­le sei­nes Gemäl­des Pain­ting, 1916, Yale Uni­ver­si­ty Gal­lery, New Haven.

Es war aber nicht Elsa von Frey­tag-Loring­ho­ven, son­dern Loui­se Nor­ton (1890–1989), die spä­te­re Frau von Edgar Varè­se (1883–1965). Das kön­nen wir mit Hil­fe von unter­schied­li­chen Doku­men­ten zwei­fels­frei bele­gen: Auf dem berühm­ten Foto von Alfred Stieg­litz (1864–1946) (Abb. 2) sehen wir zum Bei­spiel, dass die Orga­ni­sa­to­ren unten links ein Eti­kett am Pis­soir befes­tigt haben, auf wel­chem auf der obers­ten Zei­le «[Fou]ntain» steht. Dann erscheint zwei­mal der Künst­ler­na­me «Richard Mutt», und schliess­lich wird «110 West 88 St.», die Adres­se von Loui­se Nor­ton, als Wohn­sitz des Künst­lers Richard Mutt ange­ge­ben (Abb. 3).4 Nor­ton hat die Arbeit in Duch­amps Auf­trag ein­ge­reicht, weil die­ser zum Orga­ni­sa­ti­ons­ko­mi­tee gehör­te. Wäre sei­ne Autor­schaft bekannt gewe­sen, dann hät­te dies sein sub­ti­les Spiel um die Fra­ge «Was ist Kunst?» beein­flusst und in eine fal­sche Rich­tung gelenkt. Duch­amp hat­te im April 1917 zudem nach­weis­lich eine inti­me Affä­re mit Loui­se Norton.5 Die jun­ge Frau gehör­te dar­über hin­aus im Mai 1917 auch zum Autoren­team der zwei­ten Aus­ga­be des von Duch­amp, Hen­ri-Pierre Roché (1879–1959) und Bea­tri­ce Wood (1893–1998) selbst­ver­leg­ten Kunst­ma­ga­zins The Blind Man, das nahe­zu aus­schliess­lich der skan­da­lö­sen Ableh­nung von Foun­tain gewid­met war. Sie schrieb dar­in «The Bud­dha of the Bath­room», den aller­ers­ten Essay über Richard Mutts Foun­tain. Mit ande­ren Wor­ten, sie war von Anfang an ein kon­spi­ra­ti­ves Mit­glied die­ser revo­lu­tio­nä­ren, Duchamp’schen Mise-en-scè­ne um Kunst, Qua­li­tät und Autorschaft.

Alfred Stieg­litz, Foun­tain by R. Mutt (Mar­cel Duch­amp), April 1917, Gela­ti­ne-Sil­ber­druck, 23,5 × 17,8 cm, Privatbesitz.

In kei­nem von Elsas Wer­ken fin­den wir sani­tä­re Remi­nis­zen­zen. Sie war – im Unter­schied zu Duch­amp und Nor­ton – auch nicht an den Akti­vi­tä­ten der First Inde­pend­ents Exhi­bi­ti­on und an der Pro­duk­ti­on des The Blind Man Nr. 2 betei­ligt. Und wäre sie von den Her­aus­ge­bern der Zeit­schrift tat­säch­lich an einer Mit­ar­beit gehin­dert wor­den, dann hät­te sie sich spä­tes­tens bei deren Erschei­nen mit lau­ter Stim­me zu Wort gemel­det. Denn eine selbst­be­wuss­te Frau wie die Baro­ness, die ihre Ansich­ten und Gefüh­le gegen­über ande­ren stets unver­blümt zum Aus­druck brach­te, hät­te Duch­amp mit Sicher­heit öffent­lich ange­grif­fen, wenn die­ser nicht nur eine künst­le­ri­sche Idee von ihr über­nom­men, son­dern sie auch an der Pro­mo­ti­on die­ser Idee gehin­dert hät­te, genau so wie sie es als ent­täusch­te Ver­lieb­te in ihrem Gedicht Gra­vey­ard Sur­roun­ding Nun­nery tat, als sie schrieb: «I loved Mar­cel Dus­hit / He beha­ved mulish — / (A quit.)». Dar­über hin­aus nahm die Baro­ness auch nie mit Alfred Stieg­litz Kon­takt auf, um nach des­sen berühm­ter Foun­tain-Foto­gra­fie zu fra­gen, wäh­rend der ein­zi­ge, heu­te noch exis­tie­ren­de Abzug immer im Besitz von Mar­cel Duch­amp geblie­ben ist.

Nach­dem Loui­se Nor­ton Foun­tain Anfang April 1917 in Duch­amps Auf­trag als ein Werk von Richard Mutt an die First Inde­pend­ents Exhi­bi­ti­on ein­ge­reicht hat­te, wur­de das Objekt nach kon­tro­ver­ser Dis­kus­si­on von der Mehr­heit der Orga­ni­sa­to­ren abge­lehnt, obwohl in ihren offi­zi­el­len Teil­nah­me­be­din­gun­gen nicht nur «No Jury, No Pri­zes» stand, son­dern auch, dass jeder, wel­cher der Socie­ty einen Betrag von 5 Dol­lars zahl­te, an der Aus­stel­lung teil­neh­men dür­fe. Der Künst­ler Wil­liam J. Gla­ckens, Prä­si­dent des Orga­ni­sa­ti­ons­ko­mi­tees, nann­te Foun­tain gegen­über der Pres­se «das Pro­dukt einer unter­drück­ten Ado­les­zenz» und hielt das Objekt für unan­stän­dig und schon gar nicht für ein Kunst­werk. Dar­auf­hin tra­ten Mar­cel Duch­amp und Wal­ter Are­n­sberg von ihren ope­ra­ti­ven Ämtern zurück, und eini­ge Tage spä­ter wur­de das Rea­dy­ma­de auf Duch­amps Initia­ti­ve hin in die New Yor­ker Gale­rie 291 gebracht, wo es Alfred Stieg­litz, Foto­graf und Direk­tor der Gale­rie, auf einen weis­sen Sockel stell­te und vor Mars­den Hart­leys Gemäl­de The War­ri­ors foto­gra­fier­te. Kurz
dar­auf ver­schwand das signier­te Pis­soir auf mys­te­riö­se Wei­se und ist bis heu­te nicht wie­der aufgetaucht.

Es ist nun beson­ders bemer­kens­wert, dass Duch­amps spä­te­re, für den Aus­stel­lungs­be­trieb geschaf­fe­ne Foun­tain-Repli­ken – die Minia­tur­ver­si­on für die Boî­te-en-vali­se 1938, und die berühm­ten, in Ori­gi­nal­grös­se her­ge­stell­ten Nach­ah­mun­gen für die Edi­ti­on Schwarz 1964, – durch tra­di­tio­nel­le Ver­fah­ren her­ge­stell­te Skulp­tu­ren sind. Mit ande­ren Wor­ten, es sind Objek­te, die qua­si durch die von Hand gefer­tig­te Imi­ta­ti­on einer Mas­sen­wa­re zum Ori­gi­nal und anschlies­send durch erneu­te Ver­viel­fäl­ti­gung wie­der­um zu einem Mul­ti­ple wer­den. Die vom ame­ri­ka­ni­schen Star-Gale­ris­ten Sid­ney Janis (1896–1989) 1950 in Paris gekauf­te Replik für sei­ne legen­dä­re Aus­stel­lung Chall­enge and Defy in sei­ner New Yor­ker Gale­rie, ist dage­gen ein Stell­ver­tre­ter-Objekt für das «Ori­gi­nal» in der Stieg­litz-Foto­gra­fie und somit eine neue, selbst­stän­di­ge Vari­an­te der ursprüng­li­chen Foun­tain-Idee von 1917. Und das 1963 von Ulf Lin­de (1929–2013) in einem Restau­rant in Stock­holm gefun­de­ne und in der Gale­rie Burén aus­ge­stell­te Pis­soir, modi­fi­zier­te Duch­amp ein Jahr spä­ter und signier­te es auf der Rück­sei­te mit “pour copie con­for­me Mar­cel Duch­amp”. Mit ande­ren Wor­ten: Wir tre­ten als Betrach­ter, Rezi­pi­ent, Inter­pret nicht mit dem «Original»-Readymade Foun­tain in einen Dia­log, son­dern viel­mehr mit einer Art künst­le­ri­schen Refe­renz, die wir gleich­zei­tig in unse­rer Vor­stel­lung in den Reso­nanz­raum Kunst­werk zurückprojizieren.

Und wir bedie­nen uns Ava­ta­ren – die Stieg­litz-Foto­gra­fie, die Janis-Stell­ver­tre­te­rin, das ver­bes­ser­te Linde-«Surrogat » oder die Schwarz-Replik – wenn wir über die Bedeu­tung von Foun­tain nach­den­ken, spe­ku­lie­ren und dis­ku­tie­ren. Und plötz­lich ist das «Rea­dy­ma­de» über­all prä­sent, ohne tat­säch­lich zu exis­tie­ren. Das Werk ist ein Mythos, und wir glau­ben den­noch zu wis­sen, was es ist, wie es ist und was es für uns tut. Und so rückt es unmiss­ver­ständ­lich in die Nähe von mythi­schen Figu­ren wie Feen, Elfen, Hexen, Gespens­tern, Kobol­den, Luft­geis­tern, Dämo­nen, Irr­lich­tern oder Pol­ter­geis­tern, die uns in Form von Skulp­tu­ren und Bil­dern durchs Leben beglei­ten und uns sti­mu­lie­ren und ver­un­si­chern. Das ist Foun­tain, etwas, das «nur» durch Über­lie­fe­rung exis­tiert, wie ein Ufo, das plötz­lich auf­taucht, von ein paar weni­gen gese­hen wird und sogleich wie­der ver­schwindet.

Duch­amp woll­te, dass wir die Idee der Autor­schaft in der bil­den­den Kunst einer grund­sätz­li­chen Revi­si­on unter­zie­hen, dass wir sie kom­plett neu den­ken. Und mit Foun­tain ist es ihm zudem gelun­gen, alle Facet­ten des Umgangs, der Bedeu­tung, der Ästhe­tik und der Autor­schaft bezüg­lich eines Gegen­stands oder eines Phä­no­mens sicht­bar und begreif­bar zu machen. Und genau des­halb ist die­ses Rea­dy­ma­de zu einem der signi­fi­kan­tes­ten und wich­tigs­ten Wer­ke des 20. Jahr­hun­derts gewor­den, weil über kein ande­res so viel nach­ge­dacht und weil kein ande­res so viel zitiert, kopiert, vari­iert und adap­tiert wur­de wie Fountain.

Uri­nier­be­cken gehör­ten zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts zu den wich­tigs­ten Errun­gen­schaf­ten der Moder­ne, weil sie wesent­lich dazu bei­tru­gen (und noch immer bei­tra­gen), die all­ge­mei­ne Hygie­ne in unse­rem All­tag zu ver­bes­sern. Inzwi­schen aber haben wir schon längst ver­ges­sen, wie wich­tig die­se Ein­rich­tun­gen damals waren, um all die vie­len Infek­ti­ons­krank­hei­ten zu bekämp­fen. Das war Duch­amps Aus­gangs­punkt für sein «infa­mes» Rea­dy­ma­de, ein wich­ti­ges Fak­tum, das in mei­nem kürz­lich erschie­ne­nen Buch «Mar­cel Duch­amp: Richard Mutt’s Foun­tain»  – nebst ande­ren bis­her unbe­kann­ten Erkennt­nis­sen – zum ers­ten Mal detail­liert und mit vie­len zeit­ge­schicht­li­chen Doku­men­ten nach­ge­zeich­net wird.

The Plum­ber Pro­tects the Health of the Nati­on, Wer­bung für die Pas­saic Plum­bing Sup­p­ly Co., Pas­saic, NJ, auf der Rück­sei­te des Kata­logs: “Stan­dard” Plum­bing Fix­tures for the Home von Stan­dard Sani­ta­ry Mfg. Co., Pitts­burgh, PA, ca. 1920.
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Er ist Künstler und Autor und ein Marcel-Duchamp-Spezialist. Sein umfassendes Buch Eilshemius: Peer of Poet-Painters, das u.a. den Einfluss dieses unbekannten Malers auf Marcel Duchamp thematisiert, erhielt 2016 den Peter C. Rollins Book Award und den Eric Hoffer Book Award und war für den Jan-Michalski-Preis für Literatur nominiert. 2018 erschien One Rock Upon Another (mit Essays über Duchamp, Jules Verne, Beuys, Max Bill, Fischli|Weiss und Ai Weiwei) und erst kürzlich sein bahnbrechendes Buch Marcel Duchamp: Richard Mutt’s Fountain.

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