Anja Es: Imagine all the people

Eine Frau in Beige steht in der Gale­rie und staunt. „Da muss man erst mal drauf kom­men“, sagt sie und schüt­telt den Kopf. Wer als Gale­rist mehr zeigt als Deko­ra­ti­on, wird die­sen Satz oft hören, wenn auch mit unter­schied­li­cher Tona­li­tät. Er kann aner­ken­nend klin­gen, vol­ler Bewun­de­rung sein, aber auch Fas­sungs­lo­sig­keit oder Empö­rung aus­drü­cken. In jedem Fall macht er einen deut­li­chen Abstand der Vor­stel­lungs­welt der Betrach­te­rin zu der des Künst­lers deutlich.

Künst­ler kom­men eben auf sowas; das ist der Witz bei der Kunst und nennt sich Krea­ti­vi­tät. Spä­tes­tens wenn die sich mal zeit­wei­se ver­pie­selt, fragt man sich als Künst­le­rin, war­um, wo sie hin ist und wo sie über­haupt her kommt. Natür­lich kann man alles mit einem saf­ti­gen Musen­kuss erklä­ren, aber das wäre viel­leicht eine Spur zu lyrisch. In Wahr­heit kommt alles aus der Gro­ßen Lee­re. Aus der Sicht der Quan­ten­phy­sik ent­steht die Welt näm­lich aus dem Vaku­um. Alles tritt aus dem Zustand voll­kom­me­ner Lee­re in ihre rea­le Erschei­nung. Die­se Erkennt­nis ist nicht neu. Öst­li­che Kul­tu­ren spre­chen schon ewig von der Poten­tia­li­tät der Gro­ßen Lee­re, die Myria­den von Din­gen unter­schied­lichs­ter Form her­vor­zu­brin­gen ver­mag. Der Ursprung aller Din­ge hat danach fol­gen­de Eigen­schaf­ten: Er ist eine voll­kom­men gestalt­lo­se Ein­heit, er kann aus sich her­vor­tre­ten und er dif­fe­ren­ziert sich. Das ist − kurz gesagt − der Ent­ste­hungs­pro­zess von Kunst (und ande­ren, unwich­ti­ge­ren Din­gen). Die Fähig­keit des Künst­lers liegt nun dar­in, die­se Dif­fe­ren­zie­rung zur Welt zu brin­gen, und das ist manch­mal eine schwe­re Geburt, weil… Er muss erst mal drauf­kom­men! – Das läuft nicht ohne Imagination.

Inspi­ra­ti­on ist da ver­gleichs­wei­se ein­fach: Musen­kuss, gött­li­cher Fun­ke, Geis­tes­blitz – und fer­tig! Mit der Ima­gi­na­ti­on fängt die Arbeit an. Man muss sich etwas vor­stel­len, was es (noch) gar nicht gibt. Ein­bil­dungs­kraft hat übri­gens tat­säch­lich was mit Kraft zu tun, die man stän­dig trai­nie­ren muss, damit einem etwas ein­fällt. So gese­hen sind Künst­ler ech­te Body­buil­der. Kraft­strot­ze, die auf dem „Body“ ihrer Bil­der oder Objek­te real wer­den las­sen, was eben noch Geist war. Dazu gehört, wie beim Yoga, die Fähig­keit, sich zu ent­span­nen, inne­re Bil­der hoch­kom­men zu las­sen, sie umzu­wan­deln und zu Kunst zu machen. Das kann gefähr­lich sein, denn inne­re Bil­der haben irgend­wie eine Affi­ni­tät zum Unbe­wuss­ten. Und da lau­ern so eini­ge Abgrün­de, in die man lie­ber nicht schau­en möch­te, wes­halb die Frau in Beige sich auch lie­ber an die Rea­li­tät hält und beim Wun­dern bleibt.

Künst­ler aber müs­sen tran­szen­dent sein, müs­sen ihren Phan­ta­sien Raum las­sen, müs­sen sich ihren geis­ti­gen Bil­dern hin­ge­ben, sonst wird es nichts mit der Kunst. Scha­den kann es nicht, denn ein erwei­ter­tes Bewusst­sein und Selbst­re­fle­xi­on sind ja immer gut. – Es ist nur so furcht­bar anstren­gend! Aber genau dafür wer­den sie bezahlt. Die Prei­se in der Kunst sind kei­ne Arbeits­zeit­pau­scha­len, kei­ne Mate­ri­al­kos­ten­er­stat­tung und kei­ne Lohn­kos­ten. Es ist der Preis für ein Kunst­werk, die Ent­loh­nung für die Wirk­lich-Wer­dung und den Aus­druck inne­rer Bil­der, Gefüh­le und Gedan­ken. Für die Frei­le­gung der See­le und für den Mut, sich zu zei­gen. Es ist das Ent­gelt für die Ein­tritts­kar­te in die geis­ti­ge Welt des Künst­lers. Der Rest ist Handwerk.

Auf die Fra­ge „Wie kommt man auf sowas?“ gibt es übri­gens auch eine kür­ze­re Ant­wort: „Was den­ken Sie denn?“ Wenn die Frau in Beige jetzt eine Ant­wort in sich fin­det, hat die Kunst eine wei­te­re Auf­ga­be erfüllt: Sie hat ange­regt. Zum Den­ken, Füh­len und zu mehr Ima­gi­na­ti­on. Ima­gi­ne all the people…

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Malt, schreibt, performt und bringt Texte und Bilder als Gesamtkunstwerk mit Musikern auf die Bühne. Ausstellungen und Performances in Deutschland und Dänemark. Mit ihrer Bildserie „La Gonzesse“ in Sammlungen, Galerien und Medien erfolgreich. Anja Es: KUNST! in der Alten Vogtei, Travemünde.

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