Eine Frau in Beige steht in der Galerie und staunt. „Da muss man erst mal drauf kommen“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Wer als Galerist mehr zeigt als Dekoration, wird diesen Satz oft hören, wenn auch mit unterschiedlicher Tonalität. Er kann anerkennend klingen, voller Bewunderung sein, aber auch Fassungslosigkeit oder Empörung ausdrücken. In jedem Fall macht er einen deutlichen Abstand der Vorstellungswelt der Betrachterin zu der des Künstlers deutlich.
Künstler kommen eben auf sowas; das ist der Witz bei der Kunst und nennt sich Kreativität. Spätestens wenn die sich mal zeitweise verpieselt, fragt man sich als Künstlerin, warum, wo sie hin ist und wo sie überhaupt her kommt. Natürlich kann man alles mit einem saftigen Musenkuss erklären, aber das wäre vielleicht eine Spur zu lyrisch. In Wahrheit kommt alles aus der Großen Leere. Aus der Sicht der Quantenphysik entsteht die Welt nämlich aus dem Vakuum. Alles tritt aus dem Zustand vollkommener Leere in ihre reale Erscheinung. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Östliche Kulturen sprechen schon ewig von der Potentialität der Großen Leere, die Myriaden von Dingen unterschiedlichster Form hervorzubringen vermag. Der Ursprung aller Dinge hat danach folgende Eigenschaften: Er ist eine vollkommen gestaltlose Einheit, er kann aus sich hervortreten und er differenziert sich. Das ist − kurz gesagt − der Entstehungsprozess von Kunst (und anderen, unwichtigeren Dingen). Die Fähigkeit des Künstlers liegt nun darin, diese Differenzierung zur Welt zu bringen, und das ist manchmal eine schwere Geburt, weil… Er muss erst mal draufkommen! – Das läuft nicht ohne Imagination.
Inspiration ist da vergleichsweise einfach: Musenkuss, göttlicher Funke, Geistesblitz – und fertig! Mit der Imagination fängt die Arbeit an. Man muss sich etwas vorstellen, was es (noch) gar nicht gibt. Einbildungskraft hat übrigens tatsächlich was mit Kraft zu tun, die man ständig trainieren muss, damit einem etwas einfällt. So gesehen sind Künstler echte Bodybuilder. Kraftstrotze, die auf dem „Body“ ihrer Bilder oder Objekte real werden lassen, was eben noch Geist war. Dazu gehört, wie beim Yoga, die Fähigkeit, sich zu entspannen, innere Bilder hochkommen zu lassen, sie umzuwandeln und zu Kunst zu machen. Das kann gefährlich sein, denn innere Bilder haben irgendwie eine Affinität zum Unbewussten. Und da lauern so einige Abgründe, in die man lieber nicht schauen möchte, weshalb die Frau in Beige sich auch lieber an die Realität hält und beim Wundern bleibt.
Künstler aber müssen transzendent sein, müssen ihren Phantasien Raum lassen, müssen sich ihren geistigen Bildern hingeben, sonst wird es nichts mit der Kunst. Schaden kann es nicht, denn ein erweitertes Bewusstsein und Selbstreflexion sind ja immer gut. – Es ist nur so furchtbar anstrengend! Aber genau dafür werden sie bezahlt. Die Preise in der Kunst sind keine Arbeitszeitpauschalen, keine Materialkostenerstattung und keine Lohnkosten. Es ist der Preis für ein Kunstwerk, die Entlohnung für die Wirklich-Werdung und den Ausdruck innerer Bilder, Gefühle und Gedanken. Für die Freilegung der Seele und für den Mut, sich zu zeigen. Es ist das Entgelt für die Eintrittskarte in die geistige Welt des Künstlers. Der Rest ist Handwerk.
Auf die Frage „Wie kommt man auf sowas?“ gibt es übrigens auch eine kürzere Antwort: „Was denken Sie denn?“ Wenn die Frau in Beige jetzt eine Antwort in sich findet, hat die Kunst eine weitere Aufgabe erfüllt: Sie hat angeregt. Zum Denken, Fühlen und zu mehr Imagination. Imagine all the people…