Agnes Egger Andergassen
Jeder freut sich, wenn bei uns in Südtirol Musikkapellen oder Schützenkompanien in ihren farbenprächtigen Trachten aufmarschieren oder Chöre und Volkstanzgruppen in ihren ortsüblichen Trachten auftreten. Wir nehmen das als etwas ganz Selbstverständliches hin. Es gehört zur Verschönerung unserer kirchlichen und weltlichen Feiern ganz einfach dazu! Und doch ist es noch keine 100 Jahre her, als zur Zeit des Faschismus das deutsche Vereinswesen und das Tragen der Tracht für uns Südtiroler verboten war. Wir waren nahe daran, uraltes Kulturgut zu verlieren! Erst nach dem 2. Weltkrieg konnten mit größter Mühe die Vereine wieder gegründet und damit verbunden die Tracht zu neuem Leben erweckt werden. Kein leichtes Unterfangen, war doch in der Zwischenzeit in der Bevölkerung der natürliche Bezug zur Tracht vielfach verloren gegangen.
Es bedurfte sogar einer Anlaufstelle, wo Vereine und Privatpersonen sich Informationen zur Tracht einholen konnten. So kam es im Jahre 1980 zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Lebendige Tracht“ im Heimatpflegeverband Südtirol. Als dann vonseiten der Südtiroler Landesregierung großzügig Fördergelder ausgeschüttet wurden, kam es zu einem wahren Trachtenboom in unserem Land. Die Materialbeschaffung stellte noch kein Problem dar und, was die Anfertigung der Trachten betraf, konnte man auf Handwerker zurückgreifen, die noch altüberliefertes Fachwissen hatten. So wurde im Laufe der Jahre in Südtirol wieder eine blühende Trachtenlandschaft aufgebaut, die sich sehen lassen kann. Lebendige Tracht pur!
Was ist dran an der Tracht, dass sich nicht nur Vereine, sondern auch viele Privatpersonen vom Tragen der Tracht begeistern lassen? Die Tracht hat nicht nur einen kulturellen Wert, sie hat auch eine soziale Botschaft. Heute mehr denn je hat der Mensch das Bedürfnis, in dieser globalisierten Welt nicht alleine dazustehen. Tracht schafft Gemeinschaft und gibt Zusammengehörigkeitsgefühl. Nicht nur für Vereine. Sie ist mehr als nur ein Gewand! Damit man das Phänomen Tracht versteht, muss man sich eingehend mit ihr auseinandersetzen. Und je mehr man sich mit ihr auseinandersetzt, umso interessanter wird sie. Jeder einzelne Teil hat seine eigene Geschichte. Die Tracht ist etwas unheimlich Komplexes. Man kann sie von vielen Seiten her beleuchten: Geschichte, Politik, Ideologie, Religion, Wirtschaft, Handwerk, Mythos, Volkskunde, Brauchtum, Kunst … all dies findet in der Tracht seinen Niederschlag. Und das ist das Faszinierende an der Tracht.
Jedes Mal, wenn man eine Tracht anzieht, ist es wie das Eintauchen in eine längst vergangene Zeit, als die Tracht ganz selbstverständlich zum Alltag unserer bäuerlichen Bevölkerung gehört hat. Das Wort Tracht kommt ja von „tragen“. Zum Arbeiten trug man eine einfache Werktagstracht. Aber an Feiertagen holte man die schönste von allen aus der Truhe: die prunkvolle Festtagstracht. Ihren Höhepunkt erreichte die Tracht zur Zeit des Barock. Und genau auf diese Trachten gehen in ihrem Ursprung unsere heutigen Trachten zurück. Zur Zeit des Biedermeier kamen dann noch die sogenannten Tüchltrachten dazu. Trachtengeschichte war immer auch Kleidergeschichte.
Eine Tracht sollte man sich immer ganz von der Nähe aus ansehen. Erst dann erkennt man, wie viel fachliches Können und Handarbeit da drinnen stecken. Die kleinen, feinen Details voll Symbolik und Mythologie sind es, die ihre Einmaligkeit ausmachen. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles hat seinen tieferen Sinn. Da ein gestickter Lebensbaum als Wunsch für Fruchtbarkeit, dort ein springender Hirsch als Zeichen der Manneskraft. Auf dem Rücken des Mieders trägt die Frau „Himmelsleitern“ und die magischen sieben Paar Schnürhaken am Mieder sollen in ihrer Schlangenform Unheil abwehren. Durch die Tracht werden auch Signale ausgesandt. Rote Schnüre auf dem Hut zeigen an, dass der Bursche noch zu haben ist. Die verheirateten Männer tragen grüne Schnüre. Überhaupt ist die Kopfbedeckung sowohl bei den Männer- als auch bei den Frauentrachten das markanteste Zeichen, das über Herkunft, Familienstand und Anlass Auskunft gibt. Bei den Männern ist es zudem die Joppe und bei den Frauen das Mieder, das uns sofort erkennen lässt, aus welcher Gegend ein Trachtenträger kommt.
Die Tracht ist uns vertraut wie kaum etwas. Sie gehört einfach zu uns, wie unsere Landschaft, unser Dialekt, unsere Traditionen. Sie ist etwas Besonderes, etwas Einmaliges, Unverwechselbares, etwas, das nur uns gehört, uns von den anderen unterscheidet. Wer heute eine Tracht trägt und um ihren geschichtlichen Hintergrund weiß, der trägt sie mit Stolz und Würde.
Doch: Ohne Handwerk, keine Tracht! Es ist interessant einmal aufzuzählen, wie viele Handwerksberufe es für die Herstellung der Trachten braucht: Weber, Trachtenschneider und Trachtenschneiderinnen, Federkielsticker, Lederhosenschneider, Schuhmacher, Hutmacher, Silberschmiede für Schnallen, Haken, Ringe, Haarnadeln und Silbergürtel, Riemer für Zinnstiftranzen, Knopfmacher, Spitzen-Klöpplerinnen, Strickerinnen für Strümpfe, Tatzlen und Wollhauben, Fransenknüpferinnen, Kunsthandwerker für Klosterarbeiten und Myrtenkränze, dazu noch Goldschmiede für das nötige Schmuckwerk: Ohrringe, Broschen und Ketten. Südtirol besitzt eine große Trachtenvielfalt und unzählige Trachtenträger. Damit diese auch morgen noch zu ihren Trachten kommen, müssen wir heute etwas dafür tun. Als Teil unserer Volkskultur sind die Trachten immer auch ein Spiegel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes. Heute sind vor allem die schwierige Materialbeschaffung, die Gefahr des Aussterbens alten Handwerks sowie der massive Druck der billigen Konfektionstrachten auf den Markt die großen Herausforderungen für die Arbeitsgemeinschaft „Lebendige Tracht“. Wo Tracht draufsteht, sollte auch in Zukunft Tracht drinnen sein. Nur so hat die Tracht eine Überlebenschance.
Doch dürfen wir dabei eines nicht vergessen: die Bewusstseinsbildung. Nur was man gut kennt, dafür kann man sich auch begeistern. Kritisch, ehrlich und authentisch müssen wir unser Wissen an die nächste Generation weitergeben. Die Arbeitsgemeinschaft ist auf dem richtigen Weg. Ihre Zusammensetzung ist eine gesunde Mischung aus Jung und Alt, wobei die Jugend sich besonders stark engagiert. Letztendlich ist sie die Hoffnung für eine lebendige Tracht mit Nachhaltigkeit!