Alles begann mit einer Annonce: „Accordion Mystery. Roman für einen Schauspieler und einen Akkordeonisten“. Mit Tobias Morgenstern hatte ich ein paar Jahre zuvor Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ gemacht. Ich stellte eine Theaterfassung her. Wir probierten in Morgensterns Wohnzimmer, in Zollbrücke, im Oderbruch, im Ort mit den neunzehn Einwohnern. Aber wir hatten die Rechte vom Verlag nicht. Guck mal hier, dein Wohnzimmer ist so zweigeteilt, wie ein Theaterportal, wir spielen das hier bei dir, da merkt‘s keiner. Wo nehmen wir die Bühne hin, da oder da, wo das Fenster ist an der Rückfront, mit der schönen Birke draußen. In der Endprobenphase, bei 18 Grad Kälte, bauten wir das Theater ein, für 32 Leute. Zur Premiere war es voll. Es kamen Freunde und Bekannte. Dann kamen zehn, dann zwanzig. Wir kriegten auch die Rechte fürs Stück. Es wurde voller und voller. Wir legten das Theater längs ins Haus. 70 Zuschauer. 50 Grad Hitze im Sommer. Wir nahmen noch mal eine Wand raus. Dann war dahinter nur noch das Oderbruch. Wir gingen raus auf die Wiese und merkten, was die Sterne, der Mond, der Abendwind, die Nähe zum Fluss, mit dem Stück und uns und den Zuschauern machten. Wir bauten an verschiedenen Plätzen einfache Holzbühnen, und probierten wahrscheinlich schon unbewusst, wo ein richtiges Theater hin könnte. Eines Abends saßen vor uns 400 Zuschauer, in dem Ort mit neunzehn Einwohnern, und wir dachten, jetzt trauen wir‘s uns. Und bauten ein richtiges Theater. Aus Holz.
So fing alles an mit dem Theater am Rand. Zwei Künstler, die nicht mehr aufhören wollten Musik zu machen und Texte zu sprechen – selbstgewählte literarische Stoffe anders und neu – gemeinsam zu interpretieren. Gemeinsam und doch jeder für sich. Denn der Akkordeonist Tobias Morgenstern erzählt mit seinem Instrument auf der Bühne seine Geschichte bzw. seine Interpretation der Geschichte, die Thomas Rühmann spricht und spielt, per Wort und Stimmklang virtuos auch erzählt. Nebeneinander fangen sie jeden Abend neu an von Lebensgeschichten, großen Zusammenhängen der Weltgeschichte selbstbestimmt zu erzählen und ziehen ihr Publikum damit in den Bann.
Wer einmal da war, will wieder kommen. Im Sommer kann das Theater nach 3 Seiten hin geöffnet werden und Schauspieler und Musiker und Publikum sind auf einmal mitten in der Natur. Das ist auch das Prinzip, das die beiden Künstler ihr Geheimnis nennen: Das Theater am Rand: Verwirklichte Utopie das Prinzip Entwicklung. Damit meinen sie nicht allein ihre je eigene Entwicklung und Selbstbestimmung als Künstler, sondern einen Prozess, der eine Bewegung mit der sie umgebenden Natur bedeutet. So richtet sich manch eine Aufführung nach der Wetterlage oder dem Dämmern des Abends bis hin zum Einbruch der Dunkelheit, wo dann Mensch und Mensch und Natur und Mensch und Du und ich und ich du wieder vereint sind und den Abend harmonisch ausklingen lassen bei einem Glas Wein. Das Theater am Rand ist ein kleines Theater im Oderbruch am östlichen Ende Deutschlands. Dann direkt der Fluss – was kommt dahinter? Man sagt, es sei Polen… Vielleicht auch Phantasien oder Nangijala…. ?!
Rühmann und Morgenstern verbindet seit vielen vielen Jahren eine Künstlerfreundschaft. Tobias Morgenstern ist ein virtuoser Musiker, Akkordeonist und Thomas Rühmann ist Mime ebenso wie Klangund Wortschöpfer. In Klang und Ton lassen sie es gemeinsam auf der Bühne blitzen, rauschen, dämmern, Abend und schließlich Nacht werden… Sie haben jeweils einen anderen Blick auf die zwar zeitgleich erzählten Geschichten und aus den Wörtern, die Thomas Rühmann spricht und aus der Musik, die Tobias Morgenstern spielt, machen sie ihre Kunst. Sie nennen es manchmal erzählendes Theater, weil auf der Bühne gar nicht so viel stattfinde, so Rühmann – vielmehr findet sich das Geschehen im Erzählen. Hin und wieder springen sie auch in Dialoge und spielen Rollen und wechseln die Situationen auf der Bühne, doch das Wesentliche von dem sie erzählen, ist etwas Magisches. Das Publikum des Theaters ist bunt gemischt: Bauern, Intellektuelle, Alte, Junge kommen aus Berlin herübergefahren oder oft auch von viel weiter her für einen Abend oder gar für ein ganzes Wochenende – manchmal drei Tage, wenn es auf der Bühne im Theater am Rand Freitagabend, Samstagabend und Sonntagvormittag um die „beredten Menschengeschichten dieser Welt“ geht.
Rühmann und Morgenstern entwickeln auf der Bühne eine Form des Erzählens, die etwas wiederentdeckt: nämlich die großen Zusammenhänge dieser Welt, die anhand der Existenz des Einzelnen, an Lebensschicksalen erzählt werden – mal heiter, mal traurig – mal nüchtern und dadurch ergreifend. Der Komödie Kern ist tragisch. Es geht ihnen um nicht mehr und nicht weniger von Anfang an, als um das Spielen selbst, darum selbstgewählte literarische Stoffe auf eigene Art zu interpretieren und so neuen Sinn durch den künstlerischen Ausdruck zu schaffen, für sich und darüber hinaus für die ganze Welt. Sinn in einer scheinbar sinnlos gewordenen Welt zu stiften bedeutet Aufbruch in eine neue Welt, eine andere Welt, die aus den Träumen und Wünschen, aus den individuellen und machbaren Utopien entstehen kann. Neben der Entschlossenheit und dem Mut zur Improvisation und zur selbstbestimmten Haltung während des Spielens und Sprechens, während der Verkörperung eines Charakters so oder so (mit der Stimme, mit dem Musikinstrument) ist es auch die Einsicht in die Notwendigkeit, sich dem Ganzen des Spielens hinzugeben, die innere Freiheit, die Gelassenheit einzuüben, nichts verkrampft zu wollen und sich dem Willen eines Ganzen “auszuliefern“, um als Teil an diesem Ganzen, dieser Einheit, tatsächlich partizipieren zu können.
Es ist die Fähigkeit, die beide Abend für Abend, ja Moment für Moment immer neu und anfänglich begreifen und in diesem Begreifen des Stoffes entsteht er neu, entwickelt sich der Stoff mit der Ausdrucksmacht, die nie einem Endziel schlussgültiger Perfektion folgt, weil sie sonst in ihrem Wesen – der Prozesshaftigkeit jäh unterbrochen und beendet, zu Tode gekommen wäre. Erzeugung und Fortführung lebendiger Prozesse, die ins Offene, Ungeplante, ins Geländerlose streben -… Alles kann hier sein. Jeder Moment ein anderer. In der Mitte ein Anfang, am Ende das Fremde, das weitergeträumt werden kann. Damit wird all-uraufführungs-anfänglich neu verstanden was der scheinbar selbe Text der Möglichkeit nach erzählen kann, was er in sich trägt, was er noch verbarg und es scheint gleichzeitig ein übergeordnetes Ganzes des Wesens der Kunst im Schaffen und Spielen selbst hervor, von dem noch lange nicht alles erzählt ist.
Das Wesen der Kunst ist die Freiheit in der Gestaltung und Bildung eines Werkes. Lebensstoff betrifft alle Menschen, weil es Stoffe des alle Menschen betreffenden Lebens erzählt und alle Menschen, die in das Theater am Rand kommen und die fähig sind sich einzulassen, sich zu öffnen, können eine Veränderung ihres eigenen Verstehens von Leben, von Welt, von ihrem Umgang mit Fremden, Anderem erfahren – sich selbst neu erfahren im Mit-schritt ins Offene. Das Theater am Rand ist das Gesamtkunstwerk philosophischen Erzählkunsttheaters. Der Mime, der Dichter – der Musiker und weise Erzähler: Künstlerfreunde, die ihr gemeinsames Schaffen, ihre Kunst verbindet. Kunst ist zukünftig, sie geht ins Offene, sie schreitet oder rennt auch manchmal, nach vorn und dann kommt sie zurück auf uns zu und berichtet. Das nennt man dann Wahrsagerei. Aber es sind Künstler, Frauen und Männer, die sich durch ihr künstlerisches Werk zum Lebenskunstwerk vorantrauen. Sie trauen sich auch, Antworten der Kunst, des Gesandten, der in anderer Form und neuer, nie aber ganz fremder Gestalt, wieder „zurückkommt“: auf uns zukommt (aus der Zukunft) und weder Argument noch Beweis für seine Existenz uns liefern muss. Denn er selbst ist „Beweis“ uns kraft seiner Existenz.“ Der Gesandte, der aus der Zukunft der Kunst in unserer künstlerischen Gegenwart Heimat findet erinnert uns an Bedeutung und Sinn unseres Lebens.
Es ist diese Erinnerung, die wir bekommen, wenn uns im Theater am Rand jene großen Geschichten erzählt werden. In ihnen spüren wir Größe, wir erahnen an ihnen die Größe unseres Lebens, die Größe des Lebens überhaupt. Treffen sich Menschen, die solch existenzielle KünstlerLebensentwürfe gestalten, kann im Zusammenschluss derer ein Gesamtkunstwerk von höherer Harmonie und tieferem Verstehen werden, als sie es je vorher allein oder je überhaupt jemand hätte ahnen können. Das Theater am Rand ist gegründet und geführt – nach vorn – von Lebenskünstlern, die selbstbestimmt und in diesem Sinne frei das Kunstwerk Leben gestalten.
Wir spielen, wo wir sind und die Bühne ist da wo wir hingehen.
Dort und nirgend anders ist der gute Ort, dem wir vertrauen, der einzig wirklich verlässliche. Ich denke, Morgenstern und Rühmann würden mir zustimmen. Kommen Sie vorbei, schauen Sie es sich selbst an.