Studien zum Empraktischen

In Aben­teu­er­ro­ma­nen und Mär­chen gibt es ver­wun­sche­ne Orte, die gleich­zei­tig Traum­län­der, Para­die­sor­te sind – Orte, an die der gelangt, der sei­ner Phan­ta­sie frei­en Lauf las­sen kann. Es sind Orte des Gehei­men, Mys­ti­schen. Sie sind vol­ler Geheim­nis­se. Sie sind ver­wun­sche­ne Orte und wun­der­schön und man will nie wie­der weg von ihnen.

Alles ist Stau­nen. Bil­der inten­si­vie­ren sich zu Hör- und Schmeck- und Riech- und Tast­bil­dern und unter­stüt­zen das Auge. Wie sah man die Fee, die gera­de aus den Was­sern stieg und unter den Wet­tern spiel­te und rief? Sie war da und ist gleich­drauf ins end­lo­se Wei­te des Unsicht­ba­ren und Begriffs­lo­sen fort.

Aber es gibt alle erdenk­li­chen Arten von Wesen und Stof­fen und deren Anlie­gen ist die Bewah­rung und Ret­tung der Welt – am Ran­de der Welt. Hier ist das Sam­mel­be­cken aller flie­hen­den und sich der Gefahr der Auf­lö­sung nähern­den – teils ängst­lich flüch­ten­den, teils erzürnt tür­men­den – Fan­ta­sien-Mäch­te, die eigent­lich nichts mehr erzäh­len wol­len. Sie haben noch ech­te Kri­tik und Weis­heit in sich – sind Kri­tik-Mäch­te – deren exis­ten­zi­el­ler Stoff stark geschwächt und ent­täuscht und sich selbst ver­lo­ren erscheint. Ihnen wird hier ihre Weis­heit ent­lockt. Die­se Kraft ret­tend, die noch vor­han­den im Auf­fan­gen der­sel­ben, ist der letz­te Hilfs­akt, den sie bekom­men und gleich­zei­tig not­wen­di­ger Akt, um Zukunft zu sichern.

Die klu­gen und muti­gen Geis­ter des Oder­bruchs sind’s, Intel­li­gen­zen der See­le – Kri­tik­Mäch­te offen und klar. Sie sam­meln Fan­ta­sie und Klug­heit, sie behü­ten alle Poe­sie und Dich­tung und Weis­heit, sie bewah­ren Erzäh­lun­gen und gro­ße Geschich­ten. Sie sau­gen sie auf, damit ihre Welt am Ran­de nicht unter­ge­he und der letz­te Schutz für die gan­ze Welt nicht in den gro­ßen Was­sern ertrin­ke. Nein! Sie sor­gen sich, dass vom Ran­de her dop­pel­te und dop­pel­dop­pel­te Kraft in die Welt zurück­strömt. Sie sind die Sor­ge um den immer wie­der erblü­hen­den Anfang – um das Moment des wie­der­keh­ren­den Neuen.

„Thea­ter am Rand“ 0,80mx1,20m Acryl und Öl auf Lein­wand – Caysa 2019/2020

HIER WELTET DIE WELT
Hier am Rand wel­tet die Welt, weil sie den Traum und Wachtraum­stoff der Men­schen, die hier­her­kom­men ver­wal­ten und sehr dar­auf ach­ten, dass sie nie alles weg­ge­ben und zur Ret­tung aus Dun­kel­heit und Fan­ta­sie­lo­sig­keit her­ge­ben müs­sen. Auf­ga­be die­ser Kri­tik- und Fan­ta­sie-Mäch­te, ja ihre Lebens­pflicht ist es aske­tisch und rausch­haft bis zum Exzess Die­ner der Frei­heit die­ses hei­len­den Ortes am Ran­de zu sein – frei­wil­lig und aus Frei­heit die­nen sie ihm unter Ein­satz ihres Lebens. So sor­gen sie dafür, dass am ver­meint­li­chen Ende der Welt immer auch Anfang entstehe.

Sie haben ihr Zen­trum zu ver­sor­gen und zu füt­tern und lie­ben: das Thea­ter am Rand – das Ora­kel des Oder­bruch. Ora­cu­lum (lat.: ora­re = beten, spre­chen) ist Göt­ter­spruch, auch: Sprech­stät­te: Medi­um, das offen, wahr und zukünf­tig aus dem ehr­lichs­ten Bedürf­nis des Men­schen her­aus – der Sehn­sucht – Welt erneu­ert im Zwie­ge­spräch mit einer höhe­ren Instanz. Die­se ist einst Gott genannt wor­den – das Gött­li­che ist es geblie­ben: Das uns Ver­ei­nen­de mit einem Höhe­ren, als wir je selbst sein kön­nen, das aber auch nicht ohne uns wäre. Ein Eins­wer­den für Momen­te mit sich selbst in imma­nen­ter Tran­szen­denz, die das Erken­nen und das Ergrei­fen des Ande­ren, der Lie­be, der Freund­schaft, der rich­ti­gen und ech­ten Gemein­schaft bedeutet.

Offen­ba­rung des Zukünf­ti­gen, die Kraft zur rich­ti­gen Ent­schei­dung erfah­ren wir nicht mehr über Zei­chen aus dem Jen­seits säku­la­rer Exis­tenz von einem ora­keln­den Medi­um. Nein, Ora­kel sind Erzäh­ler dies­sei­ti­ger Sinn­stif­tung – Medi­en – phi­lo­so­phi­sche Erzähl­küns­te (in Wort und Musik), der Zei­chen­set­zung, gewollt oder nicht, in den Men­schen selbst zün­det. Hier eint Sehn­sucht nach Sinn den Künst­ler mit dem Phi­lo­so­phen und ist der Grund der Lie­be beider.

Ver­wun­schen ist der Ort, denn alles ist ver­traut und fremd, ver­trau­te Frem­de, die eine unheim­li­che Anzie­hungs­kraft aus­übt und zugleich von Zeit zu Zeit irr­lich­tig mahnt, dass man nicht glau­be den Ort und alles, was ihn aus­macht zu ken­nen, zu haben, zu besit­zen. Die Gefahr des gefun­de­nen Ver­trau­ten besteht dar­in, es durch Unacht­sam­keit oder Über­schwang statt zu umar­men zu erdrü­cken. Das gefun­de­ne Glück, das sich vor­bild­los ereig­net, birgt Angst vor dem Ver­lust. So wird es nie etwas Geschenk­tes blei­ben, son­dern ver­langt Arbeit an sich selbst, um den neu­en Ort, der zur rich­ti­gen Zeit gefun­den, nicht nur zu hal­ten, son­dern auch mit ihm zu wach­sen, sich und ihn, den Ande­ren, zur gemein­sa­men Arbeit ech­ten Selbst­wachs­tums zu führen.

Tho­mas Rüh­mann und Tobi­as Mor­gen­stern haben mit dem Thea­ter am Rand einen Ort erschaf­fen, der aus der Sehn­sucht nach künst­le­ri­schem Aus­druck sie als je ein­zel­ne über­steigt. Ein Gesamt­kunst­werk, das aber nicht nach einem letzt­gül­ti­gen Ziel­punkt, ein Fer­ti­ges (Thea­ter) strebt, son­dern in sei­ner Bil­dung und sei­nem Über-sich-hin­aus-wach­sen, in sei­nem Wer­den durch die Leben­dig­keit, die es Moment für Moment erfährt, erwächst. Das Thea­ter am Rand schwillt an, schwillt ab, ver­än­dert sei­ne Form – der Stoff in Bau­werk als auch in Büh­nen­stof­fen begrif­fen- erschafft sich wie­der­keh­rend neu. Das Maß des Schwel­lens wird bestimmt durch die Leben­dig­keit des Spie­lens, des Bau­ens am Gesamt­kunst­werk. So soll­te doch jeder, der dort zur Bau­sub­stanz gehört als Arbei­ter, Tech­ni­ker, Schau­spie­ler, Regis­seur etc. min­des­tens ein Instru­ment spie­len kön­nen, um die Melo­die, den Rhyth­mus zu ver­ste­hen, der die­ses Gesamt­kunst­werk folgt. Ins Offe­ne gehen kön­nen, emprak­tisch, im Voll­zug Teil des Gesam­ten zu sein und als sol­cher am Gesam­ten zu par­ti­zi­pie­ren – damit ist jeder ein­zel­ne nicht Teil allein für sich, son­dern gleich­zei­tig immer auch das Gan­ze selbst.

Die Par­ti­tur bil­det der Aus­druck der ein­zel­nen Stim­men, die eine ewig – im Frag­ment je für sich voll­kom­me­ne – Unvoll­ende­te bleibt und in die­sem Blei­ben erst wird. Die Kom­po­si­ti­on ist leben­dig durch das Jetzt der Augen­bli­cke, durch den in ihrer Anfäng­lich­keit sich stets erneu­ern­den Anfang. So ist es Geburt, Lebens­quell. Sich durch den Hoff­nungs­ort ver­ge­gen­ständ­lich­te Sehn­sucht. Die Sehn­sucht ist die Grö­ße, die das Thea­ter am Rand per­spek­ti­viert, es ist die Sehn­sucht nach „ich weiß nicht was“ (Ernst Bloch), das in die­sem Nicht­wis­sen ihr eigent­li­ches Wis­sen aus­drückt, im Über-sich-hin­aus­wach­sen zu sich selbst und damit zur eigent­li­chen Sinn­stif­tung kommt.

Sehn­sucht nach Anfang Acryl und Öl auf Lein­wand 0,80mx1,20m – Caysa 2019
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Künstlerphilosophin. Sie promovierte zum Thema: „Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie“. Lehre seit 2006 an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Darunter: Philosophisches Institut der Universität Leipzig, Hochschule für Grafik und Buchkunst zu Leipzig, Kulturwissenschaftliches Institut der Uni Leipzig, Germanistische Institute der Universitäten Lodz, Piliscisiaba/Budapest und Sydney/Australien. Außerdem hielt sie Vorlesungen und Seminare vom WS 2012/13 – WS 2013/14 als Juniorprofessorin (i.V.) an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig. Kolumnistin der Leipziger Zeitung seit 2015. Mitglied des kulturwissenschaftlichen Beirates Klinikum Bremen Ost. Von 2002 bis 2010 war sie Vorstandsmitgleid der Nietzsche Gesellschaft e.V.. Wichtigste Publikationen: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Nietzsche – Macht – Größe (De Gruyter), Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Experimente des Leibes (Peter-Lang-Verlag 2008), Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie (2011), Askese als Verhaltensrevolte (2015), Denken des Empraktischen (2016). www.empraxis.net. Foto © Hagen Wiel

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