In Abenteuerromanen und Märchen gibt es verwunschene Orte, die gleichzeitig Traumländer, Paradiesorte sind – Orte, an die der gelangt, der seiner Phantasie freien Lauf lassen kann. Es sind Orte des Geheimen, Mystischen. Sie sind voller Geheimnisse. Sie sind verwunschene Orte und wunderschön und man will nie wieder weg von ihnen.
Alles ist Staunen. Bilder intensivieren sich zu Hör- und Schmeck- und Riech- und Tastbildern und unterstützen das Auge. Wie sah man die Fee, die gerade aus den Wassern stieg und unter den Wettern spielte und rief? Sie war da und ist gleichdrauf ins endlose Weite des Unsichtbaren und Begriffslosen fort.
Aber es gibt alle erdenklichen Arten von Wesen und Stoffen und deren Anliegen ist die Bewahrung und Rettung der Welt – am Rande der Welt. Hier ist das Sammelbecken aller fliehenden und sich der Gefahr der Auflösung nähernden – teils ängstlich flüchtenden, teils erzürnt türmenden – Fantasien-Mächte, die eigentlich nichts mehr erzählen wollen. Sie haben noch echte Kritik und Weisheit in sich – sind Kritik-Mächte – deren existenzieller Stoff stark geschwächt und enttäuscht und sich selbst verloren erscheint. Ihnen wird hier ihre Weisheit entlockt. Diese Kraft rettend, die noch vorhanden im Auffangen derselben, ist der letzte Hilfsakt, den sie bekommen und gleichzeitig notwendiger Akt, um Zukunft zu sichern.
Die klugen und mutigen Geister des Oderbruchs sind’s, Intelligenzen der Seele – KritikMächte offen und klar. Sie sammeln Fantasie und Klugheit, sie behüten alle Poesie und Dichtung und Weisheit, sie bewahren Erzählungen und große Geschichten. Sie saugen sie auf, damit ihre Welt am Rande nicht untergehe und der letzte Schutz für die ganze Welt nicht in den großen Wassern ertrinke. Nein! Sie sorgen sich, dass vom Rande her doppelte und doppeldoppelte Kraft in die Welt zurückströmt. Sie sind die Sorge um den immer wieder erblühenden Anfang – um das Moment des wiederkehrenden Neuen.
HIER WELTET DIE WELT
Hier am Rand weltet die Welt, weil sie den Traum und Wachtraumstoff der Menschen, die hierherkommen verwalten und sehr darauf achten, dass sie nie alles weggeben und zur Rettung aus Dunkelheit und Fantasielosigkeit hergeben müssen. Aufgabe dieser Kritik- und Fantasie-Mächte, ja ihre Lebenspflicht ist es asketisch und rauschhaft bis zum Exzess Diener der Freiheit dieses heilenden Ortes am Rande zu sein – freiwillig und aus Freiheit dienen sie ihm unter Einsatz ihres Lebens. So sorgen sie dafür, dass am vermeintlichen Ende der Welt immer auch Anfang entstehe.
Sie haben ihr Zentrum zu versorgen und zu füttern und lieben: das Theater am Rand – das Orakel des Oderbruch. Oraculum (lat.: orare = beten, sprechen) ist Götterspruch, auch: Sprechstätte: Medium, das offen, wahr und zukünftig aus dem ehrlichsten Bedürfnis des Menschen heraus – der Sehnsucht – Welt erneuert im Zwiegespräch mit einer höheren Instanz. Diese ist einst Gott genannt worden – das Göttliche ist es geblieben: Das uns Vereinende mit einem Höheren, als wir je selbst sein können, das aber auch nicht ohne uns wäre. Ein Einswerden für Momente mit sich selbst in immanenter Transzendenz, die das Erkennen und das Ergreifen des Anderen, der Liebe, der Freundschaft, der richtigen und echten Gemeinschaft bedeutet.
Offenbarung des Zukünftigen, die Kraft zur richtigen Entscheidung erfahren wir nicht mehr über Zeichen aus dem Jenseits säkularer Existenz von einem orakelnden Medium. Nein, Orakel sind Erzähler diesseitiger Sinnstiftung – Medien – philosophische Erzählkünste (in Wort und Musik), der Zeichensetzung, gewollt oder nicht, in den Menschen selbst zündet. Hier eint Sehnsucht nach Sinn den Künstler mit dem Philosophen und ist der Grund der Liebe beider.
Verwunschen ist der Ort, denn alles ist vertraut und fremd, vertraute Fremde, die eine unheimliche Anziehungskraft ausübt und zugleich von Zeit zu Zeit irrlichtig mahnt, dass man nicht glaube den Ort und alles, was ihn ausmacht zu kennen, zu haben, zu besitzen. Die Gefahr des gefundenen Vertrauten besteht darin, es durch Unachtsamkeit oder Überschwang statt zu umarmen zu erdrücken. Das gefundene Glück, das sich vorbildlos ereignet, birgt Angst vor dem Verlust. So wird es nie etwas Geschenktes bleiben, sondern verlangt Arbeit an sich selbst, um den neuen Ort, der zur richtigen Zeit gefunden, nicht nur zu halten, sondern auch mit ihm zu wachsen, sich und ihn, den Anderen, zur gemeinsamen Arbeit echten Selbstwachstums zu führen.
Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern haben mit dem Theater am Rand einen Ort erschaffen, der aus der Sehnsucht nach künstlerischem Ausdruck sie als je einzelne übersteigt. Ein Gesamtkunstwerk, das aber nicht nach einem letztgültigen Zielpunkt, ein Fertiges (Theater) strebt, sondern in seiner Bildung und seinem Über-sich-hinaus-wachsen, in seinem Werden durch die Lebendigkeit, die es Moment für Moment erfährt, erwächst. Das Theater am Rand schwillt an, schwillt ab, verändert seine Form – der Stoff in Bauwerk als auch in Bühnenstoffen begriffen- erschafft sich wiederkehrend neu. Das Maß des Schwellens wird bestimmt durch die Lebendigkeit des Spielens, des Bauens am Gesamtkunstwerk. So sollte doch jeder, der dort zur Bausubstanz gehört als Arbeiter, Techniker, Schauspieler, Regisseur etc. mindestens ein Instrument spielen können, um die Melodie, den Rhythmus zu verstehen, der dieses Gesamtkunstwerk folgt. Ins Offene gehen können, empraktisch, im Vollzug Teil des Gesamten zu sein und als solcher am Gesamten zu partizipieren – damit ist jeder einzelne nicht Teil allein für sich, sondern gleichzeitig immer auch das Ganze selbst.
Die Partitur bildet der Ausdruck der einzelnen Stimmen, die eine ewig – im Fragment je für sich vollkommene – Unvollendete bleibt und in diesem Bleiben erst wird. Die Komposition ist lebendig durch das Jetzt der Augenblicke, durch den in ihrer Anfänglichkeit sich stets erneuernden Anfang. So ist es Geburt, Lebensquell. Sich durch den Hoffnungsort vergegenständlichte Sehnsucht. Die Sehnsucht ist die Größe, die das Theater am Rand perspektiviert, es ist die Sehnsucht nach „ich weiß nicht was“ (Ernst Bloch), das in diesem Nichtwissen ihr eigentliches Wissen ausdrückt, im Über-sich-hinauswachsen zu sich selbst und damit zur eigentlichen Sinnstiftung kommt.