Interview mit Sissa Micheli
Auf der Titelseite der September-Ausgabe der Vogue strahlen uns Werke der afroamerikanischen Maler*innen Jordan Casteel und Kerry James Marshall entgegen. Diese Verbindung von Lifestyle, Mode und Kunst, oft auch gepaart mit Aktivismus und Performance, lässt sich bei anderen Projekten renommierter Künstler*innen immer wieder entdecken, auch schon vor der Gesundheitskrise. Wenn Künstler*innen bei Projekten im Fashion-Metier intervenieren, dann steht in der Regel nicht das Produkt im Vordergrund, vielmehr zählt der künstlerische Ausdruck, und die Ästhetik ergibt sich in erster Linie aus dem Inhalt.
Ein gutes Beispiel einer gelungenen Synergie ist das Kunstprojekt „Self“ von Saint Laurent, welches vor 2 Jahren auf der Art Basel in Miami präsentiert wurde. Es war eine Hommage an die Selbstverwirklichung der Frau. Das Projekt wollte die Vielfalt, Individualität, das Selbstbewusstsein und eine zensurfreie Persönlichkeitsentfaltung in der Modewelt bestärken. Umgesetzt wurde dieser Gedanke in Zusammenarbeit mit verschiedenen internationalen Fotograf*innen, Filmemacher*innen und Künstler*innen. Beteiligt war daran die Performance-Künstlerin Vanessa Beecroft. Diese führte 2019 auch bei einem außergewöhnlichen Projekt des Luxuslabes Moncler in Mailand Regie. In drei Pop-ups verknüpfte die Marke Ende 2019 Mode und Kultur. Aus diesem Anlass kehrte die zeitgenössische Künstlerin Vanessa Beecroft nach Italien zurück, um in Zusammenarbeit mit der Marke die Performance „VB87“ zu realisieren. Dafür bediente sich die Künstlerin der Erinnerung und Tradition der Marke, brachte den Inhalt in den zeitgenössischen Kontext und schuf ein Bild, das genau zwischen „Vintage“ und vergänglich angesiedelt ist.
Im Zuge der Recherche dieser Ausgabe sind auch wir auf ein spannendes Projekt der in Wien lebenden Künstlerin Sissa Micheli gestoßen. Gemeinsam mit dem Label OEHLER FASHION hat sie für eine Katalogproduktion eine ihrer bestehenden Fotoserien erweitert und sich dafür insbesondere mit dem Material des Leders, das für die Accessoires des Fashion-Brands verwendet wird, auseinandergesetzt. Wir haben die Künstlerin während dieser Kollaboration getroffen und ein Gespräch mit ihr darüber geführt.
stayinart: Ihre Arbeiten zeugen von der verschwimmenden Grenze zwischen Fotografie, Performance und Skulptur. Der fliegende Stoff wird in Ihren Werken „eingefroren“ und zu einer Skulptur des Moments. Sie halten also Augenblicke fest, die unwiederholbar sind. Reflektieren Sie damit das Leben selbst?
SISSA MICHELI: Mich interessiert der kurze Augenblick, der mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar ist. Ich arretiere ihn, nehme ihn aus einer Bewegung raus und mache ihn zum Standbild. Als ich mit dieser Art von Arbeit begann, befand ich mich in London und las viel Fototheorie und Philosophie: Steven Shore, Jeff Wall, John Berger, Jacques Lacan und Slavoj Žižek. Ich hatte schon viele Dinge und Personen im Flug fotografiert, aber diese Gegenstände änderten ihre Form nicht. Ich wollte ein geeignetes Material finden, das seine Form ändert, um ein visuelles Bild zu erzeugen, das den Prozess darstellt, wie eine Idee Gestalt annimmt. Ich entschied mich für ein Kleidungsstück, das wiederholt in den gleichbleibenden fotografischen Bildausschnitt geworfen wird. Ich lasse es beim Fotografieren unmittelbar erstarren. Es scheint schwerelos, aber kehrt nie in dieselbe Form zurück, da es unter diesen Bedingungen gewissermaßen eine zufällige Form annimmt. Genau hier entsteht eine Parallele zur Wirklichkeit: Derselbe Moment wiederholt sich nie exakt. Es ist möglich, einen ähnlichen Moment bewusst herbeizuführen, aber manifestieren wird er sich nie auf gleiche Weise. Im Fokus stehen das Flüchtige, das Einzigartige und die Endlichkeit. Es geht mir um die Ästhetisierung der Vergänglichkeit.
Sie setzen Textilien und besondere Kleidungsstücke wie Hüte, Schuhe, Stiefel in Ihrer Fotografie ein. Welche Symbolkraft haben diese modischen „Gegenstände“ in Ihren Aussagen?
In meiner Fotoserie „Objective Correlatives – I Want to Be…“ kombiniere ich verschiedene Gegenstände zu skurrilen, witzigen Ensembles. Dabei wollen die Gegenstände etwas anderes sein. Ich beziehe mich auf den literarischen Begriff des objektiven Korrelats, welcher vom amerikanischen Maler Washington Allston erstmals benutzt wurde und durch den Literaten T.S. Eliot bekannt geworden war. Dieser beschreibt, wie anhand einer Verkettung von Gegenständen oder Situationen eine sinnliche Erfahrung ermöglicht werden kann welche in uns ganz bestimmte Emotion hervorruft. Die Inszenierung ist ganz allgemein ein wesentlicher Bestandteil meiner künstlerischen Arbeit. In dieser konkreten Serie bringe ich für einen fotografischen Moment Objekte miteinander in Verbindung und entrücke sie somit ihrer gewohnten Bedeutung, d.h. Gegenstände werden ihrer Funktion entkleidet, um eine neue Funktion aufzunehmen. Diese temporären Skulpturen bilden ihren eigenen Mikrokosmos an erfüllten Sehnsüchten: Zum Beispiel will ein rauchender Hut ein Vulkan sein, rauchende Stiefel stellen einen Geist dar und ein Schuh mit einem Hauptrotor auf einem Stativ simuliert einen Helikopter.
Die Modekultur orientiert sich mittlerweile sehr stark an der Kunst. Beobachtet man große Labels oder ikonische Medien wie eine „Vogue“, so spielt die Intervention von Künstler*innen eine immer bedeutendere Rolle. Wie erleben Sie als Künstlerin diese Verknüpfung von Kunst und Mode?
Gute Künstler*innen sind ihrer Zeit voraus, sind Visionäre und Deuter der Gesellschaft. Auch die Modekultur sucht nach Künstler*innen, um neue Blickwinkel auszuloten. Die Schnittstellen von Kunst und Mode ist sehr spannend. Am Laufsteg werden manches Mal unbequeme skulpturale Kreationen, quasi Kunstwerke am Körper präsentiert, die im Alltag nicht getragen werden, und in Kunstperformances tragen Künstler*innen ähnlich komplexe Kostüme. Hier gibt es deutlich Überschneidungspunkte. Die Kunst gräbt etwas tiefer und lässt uns hinter die Dinge blicken. Ich finde es gut, über die Bedeutung von Kleidung und Mode nachzudenken, langsam von der klassischen Modeinszenierung der Modelle wegzugehen und neue Wege einzuschlagen. Als Künstlerin freue ich mich über Kollaborationen in diesem Bereich. Bisher hatte ich große Freiheit bei der Umsetzung meiner Werke.
Anlässlich dieses Katalog-Projekts haben auch Sie „interveniert“ und sich als Fortsetzung Ihrer Werksgruppe mit dem Material des Leders beschäftigt, der Ressource für Accessoires wie Gürtel und Taschen. Inwiefern war das für Sie eine neue Herausforderung?
Die Herausforderung war es, mein Postulat fortzusetzen und nicht die Kunst in den Dienst eines Produkts zu stellen. In den Fotografien schweben nun Lederstücke vor dem Gesicht einer Frauengestalt. Der Mensch trägt hier keine Accessoires aus Tierhäuten, sondern er nimmt die Gestalt eines unbekannten Tierwesens an. Die geworfenen Lederstücke erschaffen fesselnde temporäre Skulpturen, die in einem sinnlich dynamischen Spiel das Flüchtige und das Vergängliche zelebrieren.
Einige der Arbeiten, die in diesem Projekt entstanden sind, sind hier abgebildet. Wir danken der Künstlerin Sissa Micheli und den Designern der Oehler Factory für den Einblick in diese spannende Zusammenarbeit.