Die Materialität der Natur poetisch erkunden
Sigurður Guðjónsson ist vor allem für seine beeindruckenden zeitbasierten Medienarbeiten bekannt, die sich oft auf von Menschenhand geschaffene Maschinen und technische Relikte konzentrieren und deren rätselhafte, verborgene Elemente jenseits unseres Blickfelds untersuchen. Der Künstler experimentiert mit Kameraobjektiven, Perspektive, Licht und Bewegung, indem er diese Formen und die Transformationen, die sie in der Interaktion mit ihrer Umgebung erfahren, verstärkt und beobachtet. Die komplexen, vielschichtigen Werke des Künstlers, in denen er Bewegtbild und Ton kraftvoll kombiniert, sind für die Betrachter:innen eine beeindruckende Erfahrung. Guðjónsson wurde 2018 mit dem isländischen Kunstpreis für den visuellen Künstler des Jahres für seine düstere und atmosphärische Ausstellung Inlight ausgezeichnet, die Videoinstallationen in St. Joseph’s, einem stillgelegten Krankenhaus in Hafnarfjörður, zeigte.
Seine Arbeiten waren in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen auf der ganzen Welt zu sehen, unter anderem in der National Gallery of Iceland, dem Reykjavik Art Museum, dem Scandinavia House in New York, dem BERG Contemporary in Reykjavík, dem Frankfurter Kunstverein in Deutschland, der Arario Gallery in Peking, der Liverpool Biennale in Großbritannien, dem Tromsø Center for Contemporary Art in Norwegen, dem Hamburger Bahnhof in Berlin und der Bergen Kunsthall in Norwegen. Oft arbeitet er mit Komponisten zusammen, was zu komplexen Werken führt, in denen die visuellen Kompositionen auf beseelende Weise mit den musikalischen zu einem einzigen rhythmischen und klanglichen Gesamtkunstwerk verschmelzen.
Im isländischen Pavillon, der sich in diesem Jahr zum ersten Mal im Arsenale befindet, begeistert Sigurður Guðjónsson auf der 59. Biennale Arte in Venedig mit seiner Split-Screen-Installation Perpetual Motion, einer multisensorischen Skulptur. Es handelt sich um eine sechs Meter hohe vertikale Leinwand, die mit einer großflächigen Bodenprojektion verbunden ist und den größten Teil des Ausstellungsraums einnimmt. Die Bildschirme zeigen die ständige Bewegung von Metallstaub, verstärkt und vergrößert durch das Kameraobjektiv des Künstlers. Die Besucher:innen können in die Bewegung des abstrakten Materials eintauchen, das sich verformt und verzerrt und so neue Formen und Bilder entstehen lässt, wie etwa die Oberfläche eines äußeren Planeten.
Das Kunstwerk bietet eine poetische Erkundung der Materialität am Rande der Wahrnehmungsgrenzen und kombiniert auf kraftvolle Weise bewegte Bilder und Klänge, um den Raum zu aktivieren und eine betörende, meditative Erfahrung für die Besucher:innen zu schaffen. Kuratiert wurde das Projekt von Mónica Bello, die mit Freude Sigurður Guðjónssons Werk auf der Biennale di Venezia dem internationalen Publikum präsentiert: Während des gesamten Projekts hat er mich mit seiner tiefen Faszination für die materielle Natur und seinem einzigartigen kreativen Prozess inspiriert, der minimalistische Umgebungen nutzt, die durch Sound und Video bereichert werden. Perpetual Motion lenkt die Aufmerksamkeit auf den ständigen Fluss von Energie und Materie und feiert die Kamera, die Vision, das Experimentieren und die Wahrnehmungsräume. Bello ist Kuratorin und Leiterin der Kunstabteilung am CERN, dem Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik in Genf, und fördert den Dialog zwischen Künstler:innen, Teilchenphysiker:innen und Ingenieur:innen in einem der weltweit führenden Laboratorien. Bellos kuratorische Arbeit konzentriert sich auf die Erzählungen in der heutigen technisch-wissenschaftlichen Kultur und darauf, wie Künstler neue Untersuchungen zu aufkommenden Phänomenen anstoßen.
Das Zusammenspiel von Ton und Bild zieht sich durch Guðjónssons gesamtes Werk. Der Künstler verwendet komplexe Klanglandschaften als Grundlage für seine Werke und nutzt die akustischen Eigenschaften seiner visuellen Untersuchungen, um eine stärkere Verbindung zu dem jeweiligen Thema herzustellen. Perpetual Motion enthält einen viszeralen Soundtrack, der von Guðjónsson und dem isländischen Musiker Valgeir Sigurðsson entwickelt wurde und der auf die granulierte Textur der Materie in den bewegten Bildern reagiert, indem er gestapelte elektromagnetische Klänge verwendet, die mittels Granularsynthese manipuliert wurden. Die Klanglandschaft füllt den Pavillon und umhüllt die Besucher:innen, sobald sie das Kunstwerk betreten, und stellt eine tiefere Verbindung zu den Frequenzen des Metallstaubs her, der sich über die Oberfläche der Bildschirme bewegt und pulsiert.
Sigurður Guðjónsson selbst erklärt es so: Das Kunstwerk soll ein Spiel mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion sein und etwas darstellen, das zwar real ist, aber normalerweise außerhalb unseres Wahrnehmungsbereichs liegt. Ich hoffe, den Besucher:innen eine poetische, multisensorische Erfahrung von Materialität bieten zu können, die Maßstab, Licht, Dimension und Bewegung umfasst und den Raum mit Hilfe von Ton und Video auf skulpturale Weise verwandelt.
Anlässlich der Eröffnung des isländischen Pavillons wurde ein neuer Katalog über Sigurður Guðjónssons Werdegang und Praxis produziert. Das von Studio Studio (Arnar Freyr Guðmundsson, Birna Geirfinnsdóttir) in Island gestaltete und in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Reykjavik und dem Distanz Verlag in Berlin herausgegebene Buch zeigt Standbilder und Installationsfotografien von Perpetual Motion sowie ausgewählte aktuelle als auch frühere Arbeiten und enthält einen kuratorischen Essay von Mónica Bello.