Die wilde Lust der Peitsche oder die nackte Profanität des Heiligen?
Pompeji wurde bekanntlich, ebenso wie das benachbarte Herkulaneum, im Jahr 79 durch einen Ausbruch des Vulkans Vesuv zerstört. Im Jahr 1861 begannen unter bourbonischer Herrschaft die archäologischen Ausgrabungen. Pompeji ist durch andere Konsistenz der flüssigen Lava heute eher eine Ruinenstadt, bei der sich aber wenigstens so manche Wandmalereien, so auch die der sogenannten „Mysterienvilla“ gut erhalten haben, was an ein Wunder grenzt.
Man hat sich, seit Amedeo Maiuri, der Begründer der modernen Pompeji-Archäologie, auch die großartigen Fresken der Mysterienvilla entdeckt hatte, „daran gewöhnt, den Zyklus als eine Einweihung in die Mysterien des Dionysos zu verstehen“, wie die NZZ am 24.07.2019 schrieb. „Gegen diese Interpretation wendet sich Paul Veyne, der als Althistoriker am Collège de France lehrt, ganz entschieden. Und zwar aufgrund detaillierter Analysen der Bildinhalte aller Fresken mit ihren 29 Figuren.“ – Das Interessante dabei: Es handelt sich fast ausschließlich um weibliche Figuren: Braut, Brautmutter, Mutter des Bräutigams, Tänzerinnen, Musikerinnen. Und man könnte fragen, wenn das ein Ritual, eine Initiation zu einer Ehevorbereitung darstellen soll, wo bleibt der Ehemann?
Die einzigen männlichen Figuren sind außer einem nackten Knaben, der aus einer Schriftrolle zu lesen scheint, nur ein wohlbeleibter Silen, der auf der Harfe spielt. Er beobachtet interessiert, wie eine Frau kniend vornübergebeugt Rutenschläge von einem seltsamen geflügelten Wesen, das fast an die Darstellung des Erzengels Michael in der christlichen Ikonographie erinnert, empfängt. Hier handelt es sich wohl um Aidos, Dämonin der Schamhaftigkeit. Zugleich greift die Initiantin ein violettes Tuch, welches ein Phallussymbol verbirgt, wie Lacan sagt1 übrigens das gleiche, womit drei Frauen, von denen uns die mittlere den Rücken zuwendet und rechts zur Seite blickt, hantieren, um etwas darunter Befindliches zu verbergen und die Initiantin im Begriff ist, in der darauffolgenden Szene, in der ihre rituelle Bestrafung folgt, zu enthüllen, wendet sich Aidos mit Entsetzen ab; zugleich schwingt sie gegen die wehrlos Kauernde auf der angrenzenden Stirnwand die Rute, während ein anderer wohlbeleibter, aber zumindest ab dem Bauch in eine Toga gehüllter Silen, der einem jungen Satyr ein bauchiges Gefäß (man möchte denken, zum Trinken,) hinhält, jedoch man ist auch darüber im Zweifel, denn man sieht den Schnabel oder den Gefäßrand des Behälters nicht, worin sich Wein befinden könnte; es mag auch sein, dass er nur da neugierig hineinblickt, während der efeubekränzte Alte sich zur wohlgekleideten Matrone, der ersten Figur des Zyklus, hinwendet. Aber in
Wahrheit scheint es etwas Bestimmtes zu sein, was er da am Grund erblickt. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit das dort befindliche Bild eines Phallus. Sein Gesicht verrät Verlegenheit und Bestürzung. Dahinter, noch seltsamer: Ein Knabe, der einzige übrigens, der uns direkt anblickt, hält hinter dem Silen eine Theatermaske wie eine Trophäe in seiner ausgestreckten rechten Hand. Die Maske drückt Entsetzen aus. Es scheint, als ob er damit etwas aussagen wollte, vielleicht die zentrale Botschaft des ganzen Zyklus: dass Lust nur die Kehrseite des Schreckens ist, einer Pein, der man damit für kurze Zeit entfliehen kann.
Der französische Althistoriker Paul Veyne, Autor des Buches „Das Geheimnis der Fresken. Die Mysterienvilla in Pompeji“ erkennt zwar eines richtig: Die wichtigste Figur des Zyklus ist der halbliegende und vom Wein bereits benebelte junge Gott Dionysos, dessen fast schon herabfallende Bekleidung gerade noch sein Geschlecht bedeckt, aber er zieht daraus den falschen Schluss indem er es mit einem anderen antiken Wandgemälde, die so genannte Aldobrandinische Hochzeit, vergleicht. Das seit 1808 in der Vatikanischen Bibliothek verwahrte Fresko wurde 1661 in der Nähe von Santa Maria Maggiore im Boden entdeckt. Überzeugend ist das allerdings nicht. Aber vielleicht eher sein anderer Hinweis: nämlich den auf den nicht dargestellten zukünftigen Ehemann: denn er „ist präsent allein durch – einen Phallus”! Wenn auch verhüllt, verborgen. Also ein pars pro toto? Das, was Frauen nicht sehen durften, den fascinus, das membrum virile, vor der Ehe, und das zu begehren unter der Strafe von Rutenschlägen verboten war? „Man sieht es dem Geschlecht nicht an, dass es nicht zu sehen ist“, sagt Pascal Quingard (in „Sexualität und Schrecken“). „Was nicht schön ist, was fürchterlich ist, was schöner ist als das Schöne, was die Neugier immer wieder anstachelt, die die Augen auf die Suche schickt, das ist das Faszinierende.“
Die interessanteste Interpretation dieses Freskenzyklus stammt wohl von Marianna Scampini, welche ihr Hauptaugenmerk auf die geflügelte Figur mit der Peitsche und den sich drehenden Kreisel in alten Ritualen legt, der von der nackten, tanzenden Figur mit erhobenen Händen über dem Kopf symbolisch imitiert wird. Sie sagt, einerseits findet die Zerimonie der Auspeitschung in dionysischen Ritualen tatsächlich statt, andererseits findet die Peitsche auch bei einem bekanntem Kinderspielzeug, dem Kreisel zum Antrieb desselben Verwendung. Das berauschende Sich-selbst-Drehen um die eigene Achse in Form eines dionysiakischen „Kreiseltanzes“ löst in dionysischen Ritualen gewöhnlich auch die dionysiakischen Wahnsinnstat aus, und sie erkennt in der nackten, tanzenden weiblichen Figur die Choreographie eines dionysischen Ritualtanzes und die Geissel als Symbol der Befruchtung.
Die Auspeitschung als Stimulans für die bacchische Wut wird jedenfalls in der antiken Literatur in einer von Origines zitierten Passage des Celsus (welcher im 2. Jh. n. Chr. lebte) erwähnt. Diese Hypothese wird durch eine Passage von Plutarch gestützt. „Unter diesem Gesichtspunkt kann die geflügelte Figur konsequenterweise als die dunkle Seite der Einweihung in die Liebe interpretiert werden, da die erste Liebeserfahrung Angst und Gefühle von Schuld und Tod impliziert. Aber dieser „Schock„ ist notwendig, um Fruchtbarkeit und Erneuerung der Familie zu bewirken.“ Marianna Scampini lässt diese Frage offen. Aber sie geht in der Analyse des Kreisels selbst von der durchaus interessanten Beobachtung aus, wenn wir nicht von einem Bestrafungsritual sprechen, „ist es ganz klar, dass es die wirbelnde Bewegung und nicht die Auspeitschung selbst war, die das dionysische Delirium auslöste: die Auspeitschung war einfach die Handlung, die eng mit der „Kreiselbewegung” verbunden war. Daher kann es durchaus sein, dass die Auspeitschung in den eigentlichen Ritualen symbolisch ausgeführt oder zumindest evoziert wurde, um an einen Tanz im Vorfeld der dionysischen Besessenheit zu erinnern (anstatt ihn zu erzeugen), der eine Rotation um die Achse und eine chaotische Flugbahn kombinierte. Heute würde man wohl sagen, man bringt die Braut damit „in Schwung“, in Fahrt sozusagen, und es kommt vielleicht nicht von Ungefähr, dass Nietzsche in diesem Zusammenhang immer wieder mit einer Stelle aus dem Zarathustra zitiert wird: Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht! – Nur die wenigsten wissen dabei eines: dass dies ein Ratschlag war, den Zarathustra von „einem alten Weiblein“ bekam, dem er begegnet ist und um Rat fragte über das weibliche Geschlecht.
Die Mysterien, auch die in der so benannten Villa haben bis heute ihr Geheimnis bewahrt. „Niemals wird man wissen“, sagt Pascal Quignard, was die Orgien von Eleusis waren. Aristoteles erklärte, die Mysterien hätten aus drei Teilen bestanden: ta dromena, ta legomena, ta deikumena gespielte Handlungen, rezitierte Formeln, Dinge, die enthüllt werden)… Diese „mysteriösen“ Dinge … drehten sich um Sexualität und die Totenwelt. Wir werden sie nie erfahren (aber wir erfahren sie, indem wir uns fortpflanzen, durch das Begehren wie durch den Tod).
Vielleicht sind die Mysterien, auf welche die Fresken der Mysterienvilla in Pompeji anspielen, auch gar nicht so mysteriös. Sie waren vielleicht nur Teil einer gelebten mittelmeerischen Kultur unter der heißen Sonne des Südens, am Fuße eines mächtigen Vulkans. Und ist dieser nicht gerade auch ein Symbol dafür, dass scheinbar Harmloses, das Normale, das Alltägliche, jederzeit „ausbrechen“, in einen furor geraten kann, der alles verschlingt oder vernichtet, was sich ihm in den Weg stellt?
Vielleicht kommen wir bei den Bacchanalien mit der Sinnfrage, die wir als Erklärungsmuster stellen, bei der Erforschung der dahinter stehenden Wahrheit auch immer schon zu spät. Pascal Quignard geht sogar so weit, zu sagen: „Die Zerimonie hat keinen Hintersinn, und auf keinen Fall sollte ein solcher gesucht werden: Sie soll das sinnlose, göttliche Spiel des Bacchanals ausführen.“ Doch was ist es dann? „Es ist das heilige Spiel. Es ist der lusus, die illusio, die in-lusio, das Eintreten ins Spiel“. Was wir hier sehen, ist nur die Präambel, die Vorbereitung zum dionysischen Fest. Eines, das bevorsteht, und zu dem man sich erst qualifizieren muss. „Die Zerimonie hat nur einen Zweck: Sie soll den Initianten (den Mysten, der in die Mysterien eingeweiht wird) von dem unterscheiden, der nicht eingeweiht ist.“ Nichts anders verfolgt die Freimaurerei Jahrhunderte später.
Es ist letztlich ein Spiel mit dem Eros, vielleicht auch mit dem Feuer. Und es enthebt denjenigen, der darin teilnimmt, von der Gegenwart, befreit die Seele, welche eingekerkert ist. Darum heißt es auch: Bei jedem Spiel ist man „woanders“, nicht bei sich, sondern „bei der Sache“. Genau aus diesem Grunde finden wir auch jene Konzentration und Anstrengung in den Gesichtern dieses Freskos.
Es geht nämlich um alles und um nichts weniger, als um Leben und Tod. Es geht darum, in eine andere Welt einzutauchen, von der man hofft, dort glücklicher zu sein.