ZUM KÜNSTLER WIRD MAN AUS NOTWENDIGKEIT – „ES IST DAS EINZIGE, IN DEM ICH GUT BIN“ ANTWORTETE SAMUEL BECKETT AUF DIE FRAGE „WARUM SCHREIBEN SIE?“ – ODER MANCHMAL DURCH ZUFALL, DAS KANN AUCH PASSIEREN. BEI CHRISTIAN GAILLARD WAR ES ABWECHSELND BEIDES: DIE ZUFÄLLE DES LEBENS UND DER BEWEIS, DASS ER „GUT DARIN WAR“.
Das sagt nicht er selbst, sondern andere über ihn. Seine Geschichte beginnt im Paris der frühen 1970er Jahre, einer Zeit der kreativen Revolution. Er erinnert sich vor allem an den Reiz, den Bilder auf ihn ausübten – Bilder im Allgemeinen, „nicht die Malerei“ – und der ihn dazu brachte, sich erfolgreich beim Wettbewerb der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs zu bewerben. „Aber ich wollte kein Kunstmaler sein, ich fand das etwas veraltet“. Deshalb inskribierte er an der Fakultät für Visuelle Kommunikation und lernte Animations- und Illustrationstechniken, bevor er sich mit der anspruchsvollen École des Gobelins auseinandersetzte. Der moderne junge Mann mit seiner Faszination für alte Welt und Plakate feiert seinen zwanzigsten Geburtstag zwischen Grafik und Graffiti. Die ersten Aufträge erhält er noch bevor er sein Diplom in der Tasche hat. Die 1980er Jahre kommen, und damit die Zeit der Illustrationen für Zeitschriftencover und Filmplakate, zum Beispiel Claude Lelouchs „Der Löwe“ (Itinéraire d’un enfant gâté), und schließlich die Werbung.
Es folgen etwas Geld, ein bisschen Glamour und nicht zuletzt professionelle Anerkennung – 1983 wird Gaillard zum Illustrator des Jahres ernannt. Mit gerade einmal 20 Jahren liefert er allerdings immer weniger Neues: Die Zeit vergeht unaufhaltsam, die Jahre ziehen ins Land. Dass Gaillard über Technik und Stil verfügt, ist nicht zu leugnen, aber der verkannte Künstler in ihm schlummert noch und betrachtet den Profi mit einem wissenden Lächeln. Er ahnt noch nicht, dass wahre Kunst im Verborgenen heranreift, und dass sich der Maler durch Skizzen und persönlichere Versuche nach und nach selbst entdeckt. „Eines Tages hatte ich genug Arbeiten, die ich vorzeigen konnte“. Gaillard wendet sich an eine Galerie in der Avenue Matignon, Ecke Rue Saint Honoré, einem der schönen Pariser Stadtteile, in denen damals die Kunst florierte.
Die erste Ausstellung wird aus dem Bauch heraus organisiert und entpuppt sich als voller Erfolg: Dass sogar ein Werk gestohlen wurde, lässt sich wohl als die größte Anerkennung interpretieren. Ein guter Anfang also – so gut, dass das Publikum eine weitere Ausstellung verlangt. Ja, aber was? Hier kommt die Kindheit ins Spiel. Gaillards Erinnerungen werden ihm den Weg weisen. Eine Reise nach Spanien, Madrid, der Prado, die große spanische Malerei, Goya, Velasquez. Besonders Velasquez hinterlässt einen so starken Eindruck, dass Gaillard eines Tages das wagt, was Francis Bacon zuvor versucht hatte: eine Neuinterpretation des Porträts von Papst Innozenz X. Aber wo Bacon den Meister auf seine Art auslegt und später zugibt, dass er sich mit einer Nachahmung hätte zufrieden geben sollen, produziert Christian Gaillard eine Serie von zehn Repliken, in denen er die Farben und Lichter variiert, um die Technik so weit wie nur möglich auszuloten. Ein Blick, der Faltenwurf eines Stoffes, die Position einer Hand, Spanien, die Musik seiner Farben, Gelb und Rot, Gold und Blut.
Es dauert nicht lange, und Gaillard entdeckt die Stierkampfarena als Motiv: Es folgen die ersten Stierkämpfe in Alicante oder Malaga. „Meine Mutter liebte sie“, die Stierkämpfer, das leuchtende Gewand, die Rituale und Ornamente, die großartige Absurdität von alldem. Eben dies wird zum Thema der zweiten Ausstellung, die den beabsichtigten Bogen zwischen Kindheit und Lebensgeschichte spannt. Von hier gewinnt der Maler an Bekanntheit und erhält für die Hinteransicht eines Stierkämpfers von der Real Maestranza de Sevilla einen Künstlerpreis von immerhin zwei Millionen Pesos.
Als Don Christian Gaillard pflegte er indes Freundschaften und Begegnungen auf den manchmal verschlungenen Pfaden der Stierkämpfer zwischen zu seltenen Triumphnachmittagen und den raueren Abenden der Stierkämpfe, „a la cinco de la tarde“. Dort schafft er im ständigen Kontakt mit seinen Motiven im Laufe der Jahre ein einzigartiges Werk zum Thema des Stierkampfes. Mehr als dreihundert oft großformatige Arbeiten von beunruhigendem Realismus, die durch den sparsamen Einsatz der Mittel ebenso beeindrucken wie durch die absolute Strenge ihrer Ausführung. Gemälde, die die Schönheit des Kostüms zum Ausdruck bringen und gleichzeitig die Noblesse der Haltung suggerieren.
Und dann ist da noch diese einzigartige Weise, Stierkämpfer von hinten darzustellen, wodurch die Einsamkeit des Toreros hervorgehoben wird – aber nicht nur: Denn die Rückseite des Anzugs ist dessen aufwändigster und schönster Teil, den der Künstler oft mit einer kleinen Fliege befleckt, ein fast unsichtbares Insekt, das wie durch Zufall dort platziert wird und Ästhetik mit der Ordnung des Lebens und dessen Ironie vereint. Dieser Fleck, wohl ein Vanitas-Symbol, ist ein augenzwinkernder Verweis auf die Gemälde des 17. Jahrhunderts, die mit derartigen Elementen die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit der Existenz veranschaulichten. Später, jedoch in anderen Formen, insbesondere in der jüngsten Serie von tätowierten Frauen, wird der aufmerksame Betrachter an den Körpern hässliche Narben erkennen, als ob der Maler sich selbst für diese perfekte Ausführung durch subtile Schändungen bestrafen wollte.
Zweifellos auch ein Weg, um sich einer klassischen Tradition anzuschließen und dabei gleichzeitig Abstand davon zu halten. Denn Gaillard hält sich stets vor Augen, was der Stierkämpfer nur zu gut weiß: Es ist alles eine Frage des Abstandes. Leichtfertigkeit und übermäßige Selbstsicherheit kommen nicht selten vor dem Fall. Der Künstler gibt sich mit Ausstellungen von Paris bis Hongkong nicht zufrieden: Man muss den Blick immer wieder auf das Neue richten. Gaillard reist, erforscht die Welt durch Fotografie, Film und Nachbearbeitungstechniken und lässt seinen Blick schweifen: So schuf er beispielsweise zusammen mit seinem Sohn eine in einem Bildband veröffentliche wunderschöne Bildserie zu Männern und Pferden im portugiesischen Golegà4 oder tünchte in seiner Wohnung in Arles nach eingehender Betrachtung die Wände direkt auf Stein. Schauen, schauen, schauen, schauen. Mit dem richtigen Auge, das zu sehen weiß und mit der richtigen offenbarenden Geste vorzeigt: Sich hinter seinem Motiv zu verstecken und dafür zu sorgen, dass das Bild das Modell zelebriert, ohne in die Falle der Schmeichelei oder der nichtssagenden Schönheit zu tappen, ist eine Form der Bescheidenheit. Der Künstler dahinter kennt – und macht – den Unterschied.