Ins Leben Ein-Bilden

Tilo Baumgärtel – Reflektionen über die große Sehnsucht des Künstlers

UM DEM ALLTÄGLICHEN LEBEN EINE FORM ZU GEBEN, BEDARF ES KEINER GROSSEN KÜNSTLERISCHEN FÄHIGKEITEN. FORMEN ZUR BEWÄLTIGUNG DES ALLTAGS STELLT DIE WELT FÜR UNS BEREIT. FREMDBESTIMMTE FORMEN EINER OBJEKTIVEN UND NÜCHTERNEN WELT FÜR EIN EBENSO FREMDBESTIMMTES LEBEN.

Was aber heißt es, jen­seits hete­ro­no­mer Struk­tu­ren einem Leben Aus­druck zu ver­lei­hen, das ein grund­le­gend ande­res ist als das der ande­ren, von dem nie­mand außer mir selbst je adäquat wis­sen wird, selbst wenn er es woll­te? Und was tun, wenn es genau die­ses Leben ist, das mich bestimmt oder bes­ser: wenn ich es selbst bin, die­ses Leben?

Bekämp­fe ich es und gehe zum Psy­cho­lo­gen, der mir die Spin­ne­rei­en schon aus­treibt und mir erklärt, wohin ich in der Welt gehö­re? Oder habe ich den Mut zu mei­ner eige­nen Welt und drü­cke mich aus?

Tilo Baum­gär­tel drückt sich aus. Schon sein Leben lang im Medi­um der Bil­der­welt. Er malt. Er ist Künst­ler. Zeich­ne­ri­sche Male­rei ist sein Stil und gekenn­zeich­net durch eine „Prä­gnanz der Ein­fach­heit“. Ideen für Bil­der bekommt er aus der Rea­li­tät, sei­ner objek­ti­ven Umwelt. Es ist, so Baum­gär­tel, eine Ver­mu­tung, eine Ahnung, die zu einem Bild füh­ren kann. Eine Vor­ah­nung des­sen, was kom­men wird. Das Bild als Zukünf­ti­ges kün­digt sich bereits in der Ahnung an. Zunächst eine Zeich­nung. Dar­aus kann ein Bild ent­ste­hen, manch­mal sogar noch ein Film oder eine Ani­ma­ti­on. Der Film dient ihm dafür, die Geschich­ten, die er in sei­nen Bil­dern erzählt, prä­zi­ser dar­stel­len zu kön­nen, kom­ple­xer, ver­ständ­li­cher. Es ist die Auf­for­de­rung, genau hin­zu­schau­en und nach­zu­den­ken, was erzählt wird, was er von sich erzählt. Die Bil­der sind sei­ne Aus­drucks­form, und sie funk­tio­nie­ren für ihn bes­ser als Wor­te, um sich mit­zu­tei­len − im Medi­um der Kunst. Die Zeich­nun­gen, die Skiz­zen ent­ste­hen tage­buch­ar­tig, und was ihn berührt, was ihn von „außen“ trifft in sei­ner inne­ren Welt, das zeich­net er. Nicht aus jeder Zeich­nung ent­steht ein Bild, und auch nicht not­wen­di­ger­wei­se ein Film.

Tilo Baum­gär­tel und Kon­stan­ze Caysa ver­stän­di­gen sich über die grund­le­gen­de Din­ge ech­ter künst­le­ri­scher wie auch phi­lo­so­phi­scher Existenzweisen.

Baum­gär­tels Gemäl­de sind Aus­stel­lun­gen sei­ner Eigen­welt – hin­ein in die Welt der ande­ren, in die Frem­de, die für ihn so ein­nehm­bar wird. 

Er eig­net sich in der Ver­mitt­lung durch sei­ne Bil­der Objek­ti­vi­tä­ten der ande­ren, äuße­ren Welt an und kann sie so aus sich her­aus bestim­men. Die Bil­der sind Boten, sie über­brin­gen Nach­rich­ten an die Außen­welt, um sich als der eigent­li­che künst­le­ri­sche Stoff in äuße­re Form ein-bild-en zu kön­nen, hin­ein­bil­den in die Welt der ande­ren. So ist es ihm mög­lich, die Frem­de – die Welt der ande­ren – aus sei­ner Welt her­aus zu bestimmen.

Stoff und Form sind als rausch­haft Dio­ny­si­sches und apol­li­nisch Form­ge­ben­des, als Stil­mit­tel, Grund­pfei­ler der Kunst. Gemein­sam fol­gen sie einer gro­ßen Sehn­sucht: sich sinn­voll zu ver­ei­ni­gen als rausch­haft-eksta­ti­sche Momen­te der Zusam­men­kunft von äuße­rer und inne­rer Welt, von Hete­ro­no­mie und Auto­no­mie, von Objekt und Sub­jekt, von Wirk­lich­keit und Traum. Der Stoff sehnt sich nach dem Aus­druck und die Form nach inne­rer Erfül­lung, um nicht erstarrt ste­hen zu blei­ben oder blut­los umzu­kip­pen – um Essay, Ver­such zu etwas Neu­em sein zu können.

Und so kann man die Zeich­nun­gen, die den gro­ßen Eigen­welt-Gemäl­den Tilo Baum­gär­tels vor­an­ge­hen, betrach­ten. Als Essays, als Ver­su­che, die zum Gemäl­de stre­ben, zum Bild des per­fek­ten Selbst-Aus­drucks der Eigen­welt des Künst­lers. Ich fra­ge Tilo, ob es für ihn das eige­ne, selbst erschaf­fe­ne „per­fek­te Bild“ gebe. Ja, sagt er, es wäre ein Bild, mit dem er sich vor­stel­len könn­te, ganz zu leben. An die­sem Bild wür­de er sich nie­mals satt­se­hen kön­nen und des­halb wür­de er es auch nie in die Ecke stel­len, es kön­ne ihm nie zu viel werden.

Künst­ler sein bedeu­tet, so mei­ne The­se, sich selbst als Sub­jekt, als das Zu-Grun­de-Lie­gen­de, exem­pla­risch für die gesam­te Mensch­heit zu set­zen und den Sinn der Welt und des Seins aus sich her­aus zu ver­ste­hen. Im Abso­lut­set­zen sei­ner selbst ist der Künst­ler Objekt und Sub­jekt zugleich und ver­eint so alle schein­ba­re Objek­ti­vi­tät der Welt in sich. In die­sem Sin­ne sagt Else Las­kerschü­ler: „Von wem, wenn nicht von mir, soll­te ich sonst in mei­nem Welt­ver­ständ­nis und mei­nem Bli­cken auf die Din­ge aus­ge­hen? Ich maße mir nicht an, einen ande­ren Stand­punkt einzunehmen.“

Tilo Baum­gär­tel erzählt von sei­nem Leben als Leben mit Bil­dern. Er stellt sie manch­mal als Schutz­schild auf – wenn er wich­ti­ge Auf­ga­ben des All­tags zu bewäl­ti­gen hat. In sei­ner Nähe sind sie ihm exis­ten­zi­el­le Sicher­hei­ten, Hüter der Gunst der Göt­ter des Schick­sals. Ob Kunst für ihn Sinn mache, frag­te ich ihn. Tilo bejaht die­se Fra­ge: Kunst mache auf einer ihn allein, ihn indi­vi­du­ell betref­fen­den Ebe­ne Sinn. Sinn­stif­ter für die gesam­te Mensch­heit sein zu wol­len, sei nicht sein Anlie­gen. Für ihn selbst aber ist das Malen schon seit sei­ner Kind­heit etwas Unver­zicht­ba­res, etwas exis­ten­zi­ell Not­wen­di­ges, viel­leicht ähn­lich dem Schrei­ben ande­rer in ihr Tage­buch. Es rei­che aber nicht aus, das Malen als rei­ne Gewohn­heits­sa­che anzu­se­hen. Sei­ne Zeich­nun­gen und Skiz­zen sind ihm Bewah­rer von Erin­ne­run­gen. So hat er auch unzäh­li­ge Skiz­zen­bü­cher in sei­nem Atelier.

Bil­der sind leib­lich-see­li­sche Aus­drü­cke von Etwas, das im Inners­ten ruht und ins Bild gesetzt wird. Der Künst­ler stellt es vor sich auf – und kann es so von außen betrach­ten und beur­tei­len. Das schließt natür­lich auch ein, dass es der Bewer­tung ande­rer aus­ge­setzt sein kann. Das ver­langt Mut. Und wer wäre sonst bereit und mutig genug, sein Inners­tes der Bewer­tung ande­rer öffent­lich aus­zu­set­zen, es in die Frem­de zu schi­cken, als der Künstler?

Das Inners­te, den See­len­aus­druck, fremd­welt­lich und nach frem­den Maß­stä­ben bewer­ten zu las­sen, bedeu­tet: sein pochen­des Herz auf den Tisch zu legen und zuzu­las­sen, dass ande­re mit dem Ham­mer drauf­schla­gen. Als Künst­ler sei­ne Gro­ße Sehn­sucht zu leben heißt aber, weder Gott noch per­fekt zu sein. Es heißt viel­mehr: das Uner­reich­ba­re ernst zu neh­men, als Weg­wei­ser. Und man braucht Mut – allen Mut sei­nes je eige­nen Künst­ler­seins, der weg­wei­sen­den Ahnung ins Zukünf­ti­ge, Unge­wis­se, Offe­ne zu fol­gen. Denn es ist ein Sich-Mes­sen mit dem Abso­lu­ten und man ist immer der ers­te der die­sen Weg geht.

Geleb­te Sehn­sucht bedeu­tet leb­ba­re Uner­füll­bar­keit und ist wohl alle­mal einem Leben in leb­lo­ser Erfüll­bar­keit vor­zu­zie­hen. Ich den­ke, dass Tilo Baum­gär­tel mir zustim­men würde. 

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Künstlerphilosophin. Sie promovierte zum Thema: „Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie“. Lehre seit 2006 an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Darunter: Philosophisches Institut der Universität Leipzig, Hochschule für Grafik und Buchkunst zu Leipzig, Kulturwissenschaftliches Institut der Uni Leipzig, Germanistische Institute der Universitäten Lodz, Piliscisiaba/Budapest und Sydney/Australien. Außerdem hielt sie Vorlesungen und Seminare vom WS 2012/13 – WS 2013/14 als Juniorprofessorin (i.V.) an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig. Kolumnistin der Leipziger Zeitung seit 2015. Mitglied des kulturwissenschaftlichen Beirates Klinikum Bremen Ost. Von 2002 bis 2010 war sie Vorstandsmitgleid der Nietzsche Gesellschaft e.V.. Wichtigste Publikationen: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Nietzsche – Macht – Größe (De Gruyter), Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Experimente des Leibes (Peter-Lang-Verlag 2008), Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie (2011), Askese als Verhaltensrevolte (2015), Denken des Empraktischen (2016). www.empraxis.net. Foto © Hagen Wiel

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