EIN GESPRÄCH MIT DEM KÜNSTLER ANDREAS STRAUB WIRD ZUR SPUR (1) DES UNSICHTBAREN
Andreas Straub ist ein forschender Künstler, seiner Neugier verschrieben, ein Entdecker des Unsichtbaren, erstaunt von seinen eigenen Ideen, einer der Spaß daran hat sich über sich selbst zu legen und der seine Antworten auf Interviewfragen prinzipiell lieber zeichnet als ausspricht. Wir erhalten vorerst tatsächlich zu jeder unserer Fragen als Antwort eine Zeichnung, die wir dann in einem telefonischen Gespräch mit dem Künstler vertiefen dürfen. Straub arbeitet sowohl in der Nähe von Basel in seinem Atelier als auch auf La Gomera. Ob Pandemie herrscht oder nicht, wirkt sich zwar auf seine Gesundheit aus, nicht aber auf seine Arbeit und er hält sich bei diesem Thema gerne an das Werk des Philosophen Peter Sloterdijk, der schon »lange vorausgesehen hat, dass irgendetwas Großes auf uns zukommt«.
Wenn Sie sich mit einem Zyklus auseinandersetzen, dann geben Sie sich gerne Zeit – das kann auch Mal ein Jahrzehnt sein, wie beispielsweise mit der Visualisierung des Universums (Distanz). Welche Rolle spielt die Zeit in Ihrer Auffassung von Kunst?
ANDREAS STRAUB: Die Zeit spielt für uns alle eine Rolle und zu-gleich auch keine Rolle. Ich denke wir haben eine Notion von Zeit, die wir mit unserer Lebenserfahrung teilen, die mit sich bringt, dass wir höchstens 90 oder 100 Jahre in dieser Zeit sind. Die Frage ist viel eher: Welche Rolle spiele ich in der Zeit? Die Zeit ist unendlich. Die Zeit gibt es nicht. So lange ich lebe, mache ich meine Kunst. Das hat mit Zeit und Auffassung von Kunst nichts zu tun. Meine Zeit ist beschränkt, aber die Zeit an sich ist unbeschränkt, unendlich. Das Problem ist Folgendes: Wir schauen in das Universum und keiner von uns versteht wie es geht. Wir alle wissen, dass ein Lichtjahr so weit entfernt ist, dass wir es uns nicht vorstellen können. Eine Arbeit von mir dazu ist eine große Holztafel, in der die Planeten dargestellt sind und das Loch entspricht immer dem Abstand der Lichtjahre zur Erde. Es ist also eine Holztafel mit verschieden großen Löchern. Der Durchmesser des Lochs entspricht dem Abstand. Das ist für mich in ihren Grundzügen die Behandlung von Distanz.
Kunst und Wissenschaft sehen Sie als verwandte Disziplinen – können Sie uns diesen Ansatz näher erklären?
Die Geschichte mit der Wissenschaft entstand schon als Musiker. Als ich noch Musik machte, hatten wir einen Saxophonisten in unserer Gruppe, der Molekularbiologe, Harry Noller, der ein ziemlich berühmter Mann wurde und immer noch sein Labor in Santa Cruz in Kalifornien hat. Harry hat sich mit RNA beschäftigt. In seinem Labor gab es diese großen Elektronenmikroskope, welche das Innere oder die Oberfläche eines Objekts mit Elektronen abbilden, also das Unsichtbare sichtbar machen. Genau dieses Unsichtbare hat mich immer interessiert. So hatte ich einen Anker bei einem Wissenschaftler, der auch genau verstanden hat, was ich mache. Die Methode, die ich anwende, ist ziemlich ähnlich wie jene seiner Forschung: Immer weiter gehen, Ideen haben, die nicht dem Thema dienen, sondern der Idee an sich, ohne zu wissen was dabei entsteht. Genau so hat auch er Entdeckungen gemacht, die er gar nicht machen wollte. Durch seine Neugier und seine Methode, den Sachen nachzusteigen. Das hat sehr viel damit zu tun, wie auch ich arbeite.
Es sind natürliche Strukturen beispielsweise die Erosion, die DNA oder RNA, aus denen Ihre abstrakten Werke entstehen. Bevor es »im Trend war« haben Sie sich mit Umweltthemen auseinandergesetzt. Wie ist Ihre Wahrnehmung von der Natur und des Umgangs der Menschen mit ihr?
Ja, das ist ein interessantes Phänomen. Das mag verwegen klingen, aber die Künstler sind immer ihrer Zeit voraus. Nicht, weil sie der Zeit voraus sind, sondern weil sie eben neugierig sind. Das ist etwas, das in die Zukunft weist und nicht in der Gegenwart verharrt. Deshalb ist das für mich gar nichts Neues, so ein Trend kommt jetzt zum Vorschein und dann verschwindet er auch wieder.
Es ist kein Zufall, dass ich hier auf La Gomera bin. Ich wollte eigentlich meine Arbeit intensivieren und im Süden erleben. Wir haben jahrelang ein Haus gesucht und dann sind wir in La Gomera gelandet. Ausschlag-gebend war, dass es eine kleine Insel ist mit einem großen Nationalpark. Ich bin sehr verbunden mit der Natur an sich. Du guckst auf die Natur und bist im Schutz eines Hauses. Ich stelle immer diese Verbindung her und für mich ist die Natur ein Begleiter und ein Lehrmeister meines Verhaltens. Ich spüre durch die Natur, was ich tun soll oder eben nicht. Bevor wir nach Basel zogen, hatten wir einen Hof im Kanton Jura und dort habe ich Schafe gezüchtet. Durch die Schafe habe ich viel gelernt über das Menschsein. Dieser Respekt vor anderen Systemen ist wichtig, die Natur ist ein System und man kann davon sehr viel lernen.

Eine Aussage von Ihnen »Meine Bilder sind Stationen meiner Existenz« geht uns nahe, vor allem in einer Zeit, wo die Existenz plötzlich bedroht scheint. Bezieht sich diese Aussage rein auf Ihre persönliche Existenz oder geht es auch um die Erforschung der gesamten menschlichen Existenz?
Es geht um die gesamte Existenz. Meine Überlebenschance ist eigentlich jene, dass ich Kunst mache. Ich hätte ja auch Physik studieren können oder Medizin und hätte dann der Gesellschaft gedient. Als Erforscher von Dingen, die die Menschen noch nicht wissen. Mein Beitrag ist aber meine Kunst. Ich bin nur einer, es gibt nicht zehn Straubs und des-halb gilt das für die gesamte Existenz. An meinem Forschungsprozess nehmen Menschen teil, die Museumsbesucher und die Kunstsammler. Deshalb ist es für jeden, der einbezogen sein will, eine persönliche Entscheidung. Ohnehin erachte ich es als persönliches Privileg, wenn sich jemand mit der Kunst anlegt.
Bernhard Hainz beispielsweise hat sich mir Ihrer Kunst angelegt …
Bernhard Hainz geht weit über das Kunstsammeln hinaus. Diese Gespräche mit ihm sind äußerst interessant. Wie er sich zur Kunst verhält, seine Gedanken in seinem Sein. Er hat zu jedem Künstler eine spezielle Hingabe, er kann sich da reinversetzen. Kunstsammler sind ja auch süchtig, die müssen auch süchtig sein. Bernhard Hainz und mich verbindet eine philosophische Freundschaft. Das war auch der Grund, weshalb wir das Buch Anleitung zur Sehstörung, die Essenz meiner Arbeit, gemeinsam umgesetzt haben.
Blättert man in Ihrem Buch, sieht man sofort, dass Sie mit den unterschiedlichsten Medien arbeiten. Welche Rolle spielt das Medium an sich in Ihrem Kunstschaffen, ist es nur Mittel zum Zweck oder wirkt es sich essentiell auf den Prozess aus?
Wenn ich einen Gedanken habe und eine Idee, dann reift die so, dass ich daraus etwas mache. Ich bin vielleicht 90 Jahre auf der Welt und irgendwie muss ich mich da beschränken. Es gibt wenig Zeit, um etwas zu verwirklichen. Ich weiß deshalb genau wie ich eine Idee umsetze. Primär geht es um die Dimension der Idee. Es gibt Ideen, die funktionieren nur dreidimensional und manche, die kann man gar nicht darstellen. Wenn das Material, für das ich mich entscheide, nicht taugen würde, dann würde ich innerhalb dieses Materials eine Alternative suchen, aber ich würde nie ein ganz anderes Material verwenden.
Der Prozess steht bei Ihnen im Vordergrund. Dabei zerstören Sie oder übermalen Sie Ihre Werke. Woran machen Sie das Ende dann jeweils fest – wie finden Sie den Abschluss eines Werks oder eines ganzen Zyklus?
Für mich läuft das so. Es passiert selten, aber es läuft so. Ich habe rund 2000 Arbeiten in meinem Atelier. Ich habe eine Idee, dann kommt mir in den Sinn, dass es schon eine Arbeit gibt, die mich interessiert, aber eben nicht erstaunt und dann kann ich sie auch übermalen. Das Übermalen ist eine Neuinterpretation des Hintergrunds. Diese Bilder bekommen eine ganz interessante Textur. Bei Kunstbetrachtern habe ich bemerkt, dass die das auch verstehen. Der Eindruck ist tiefer. Die wissen nicht was sie spüren, aber sie spüren etwas. Es ist das Gleiche, aber neu. Nicht im Sinne des Kaisers neue Kleider, sondern der positive Aspekt davon. Ich mache das manchmal. Ich lege mich nochmal über mich und das hat was. Es ist ein super Erlebnis, wenn du dich über dich legst, das ist spitze, da kommt dann so viel hoch, das macht Spaß!
Das klingt sehr spannend – und wie kommt es zu einem Ende?
Seit 2012 arbeite ich am Zyklus der Mathematik. Irgendwann transformiere ich den letzten Gedanken in eine neue Geschichte und dann beginnt etwas anderes. Diese ganzen Themen der Zyklen, wenn Sie das beobachten, die sind durch einen Faden verbunden. Es geht immer um mich und eine neue Idee. Ich bin selbst der Auslöser der Geschichte.
Das Buch Anleitung zur Sehstörung gibt einen Überblick über Ihr 50-jähriges Schaffen als Künstler und zugleich einen Ausblick auf zukünftige Werke, die künstlerisch bereits entwickelt, aber bei Erscheinen des Buchs noch nicht fertig gestellt waren. Sind diese mittelweile fertig?
Nein, das ist eben dieser Zyklus der Mathematik: »From ZERO to NINE«. Dieser beinhaltet Zahlen von 0 bis 9 und Buchstaben von A bis Z. An dem arbeite ich immer noch. Bis die Idee kommt, die ich daran an-hängen kann. Es ist ein Weitergehen, aber immer in der gleichen Aura und vor allem immer mit sehr viel Spaß verbunden. Ich bin kein Psychopath, der sein Leiden der Umwelt mitteilen muss, das ist nicht mein Ding. Es ist eine existenzielle Notwendigkeit. Es interessiert mich, es ist mir nie langweilig. Wir leben von Zahlen und Buchstaben, das ist unsere Kommunikationsbasis, wir sprechen miteinander auf Basis verschiedener Zeichen. Es geht nur um das. Es kommt überall immer wieder vor, dieses Spiel »letters to digits« und »digits to letters«. Wir sind umgeben von denen. Das ist dermaßen witzig und interessant, ich denke mit diesem Zyklus werde ich von dieser Welt gehen. Was ich jetzt mache sind reine Kombinationen. Wie man Zahlen noch anders ausdrücken könnte. Ich versuche eine andere Form für Zahlen und für das Alphabet zu entwickeln. Da werden Sie total verrückt, wenn Sie daran arbeiten. Es gibt einen Architekten in Wien, den Stefan A. Schumer, der bei der Ausstellung in der Galerie Crone zu meiner Frau meinte, sie wäre sehr tapfer mit einem Mann zusammenzuleben, der sich mit Zahlen anlegt, denn das würde ein ganzes Leben dauern.

Angefangen hat bei Ihnen einmal alles mit der Musik – Sie haben Musik studiert und waren freischaffender Musiker. Was ist Musik für Sie heute?
Immer noch Musik. Mich hat die Bewegung in der Musik interessiert. Nicht die musikalische, sondern immer die rhythmische Seite, weshalb ich mich auch für Percussion entschieden habe. Ich habe mit den Händen gespielt und ich habe auch immer mit den Händen gezeichnet. Auch wenn ich Musik gemacht habe, habe ich ständig gezeichnet. Dann hat sich das irgendwann ganz auf das Zeichnen verlegt, danach Malen, dann in das Dreidimensionale und so kam ich dann zur bildenden Kunst.
Seit einiger Zeit hat uns das weltweite Ereignis der Pandemie fest im Griff. Es ist aus heutiger Sicht schwer abzuschätzen, wie sich die Situation in den nächsten Jahren entwickeln wird. Was ist Ihr Gefühl hinsichtlich der Kunst und Ihres Stellenwerts in Zukunft?
Ich glaube, die Kunst entwickelt sich überhaupt nie. Es entwickelt sich nur die Gesellschaft und die Kunst ist die Quittung dafür. Das Problem ist, dass die meisten Menschen nicht in der Lage sind, sich in die Zukunft zu versetzen. Ich bin der Meinung, es wird sich gar nichts ändern. Die Kunst spielt im sozialen Kontext eine Rolle, aber eigentlich interessiert sich ja niemand dafür, außer die Menschen, die Kunst machen. Das sind »worlds apart«. Auf dem Markt wird sich vielleicht etwas ändern, aber auf die Kunstproduktion wird sich das nicht auswirken. Für mich ist Kunst eine Introversion, die ich dann extrovertiere und wenn jetzt gerade eben keine Ausstellung ist, dann bleibe ich bei der Introversion. Ich habe niemals für eine Ausstellung gearbeitet. Wenn zu viele Künstler nur mehr für Ausstellungen arbeiten, dann sieht man plötzlich viel, das nichts mit Kunst zu tun hat. Kunst ist ein langsames Gewerbe, es war immer langsam, andernfalls wäre es Grafik oder Dekoration. Kunst kann nicht schnell gehen. Außerdem spielt die Selbstkritik eine große Rolle dabei, die es bei jungen Menschen nicht mehr gibt, sondern nur mehr die Selbstverteidigung.
Die gezeichnete Antwort von Andreas Straub zu dieser letzten Frage ist eine randabfallende waagrechte Linie, mittig quer über das Blatt. Damit ist vorerst alles gesagt oder vielmehr gezeichnet. Wir danken für den offenherzigen Einblick in die Gedankenwelt eines Künstlers, der in seinem Anspruch einzigartig ist.
1 Bernhard Hainz hat für das Künstlerbuch »Anleitung zur Sehstörung – Andreas Straub«, erschienen im Verlag Hatje Cantz, die Einführung geschrieben und darin festgehalten: „Wie eine Spur ziehen sich zentrale Themen der menschlichen Existenz durch das künstlerische Schaffen. Der Spur von Andreas Straub zu folgen, bedeutet, in diesem Abschnitt aber auch ein Einlassen auf noch unvollendete Arbeiten, Momentaufnahmen, die noch ihrer endgültigen Fertigstellung harren, oder diese vielleicht nie erleben werden, angedeutet Möglichkeiten, wie ein Brief, der nie abgeschickt wurde.“
Das Interview ist in der Printausgabe collector’s choice edition Sammlung Hainz erschienen.