Im Wald des einzigen Bildes
Wie zu einem Teppich verdichten sich kleinteilige Zeichnungen und Gemälde in Acryl, gefüllt mit zahlreichen Figuren und Formen, Objekten, eingebettet in ornamentale Strukturen, die sich zu endlosen Erzählungen ineinander verweben. Ruhelos sind Stift oder Pinsel von einem überquellenden Mitteilungsbedürfnis getrieben. Dieser überbordenden Dichte liegt ein großes Thema zugrunde, dem Matthias Frick (Zürich 1964–2017 Eschen, Liechtenstein) in jeder seiner Darstellungen als Pars pro Toto folgt. In ihrer Ästhetik lassen manche seiner Arbeiten an Pop Art oder an psychodelische Kunst denken, doch unterliegen sie keinem l’art pour l’art, werden sie nicht geschaffen, um einfach »Bild« zu sein. Jedes einzelne Bild ist ein Baustein einer theoretischen Abhandlung, die zu einem großen Bildteppich zusammengefügt werden kann. Hinter jeder Form, jeder Figur, hinter jedem Bild steht ein Gedanke.
Matthias Frick hat sich einer großen kunsttheoretischen Idee angenommen, der er sein ganzes Schaffen unterwirft. Der Künstler, dessen Werk der Outsider Art zugeordnet wird, setzt sich mit diesen Kunstbegriffen auseinander. Eigentlich eine Paradoxie. Outsider Art bezeichnet ein in der Regel autodidaktisches Kunstschaffen, das losgelöst – »outside« – vom Kunstbetrieb, unabhängig vom Kunstmarkt, abseits von einem künstlerischen Umfeld geschieht und damit auch frei von Kunstkategorien und einem kunsttheoretischen Diskurs. Outsider Art-Künstler:innen finden autark zur Kunst, ohne sich nach deren Regeln oder nach Kunstmoden zu orientieren. Meist beginnen sie mit Materialien zu arbeiten, die sie im persönlichen Umfeld vorfinden und die leicht zugänglich sind. Die Arbeiten sind zunächst nicht auf Außenwirkung bedacht, sondern folgen einem persönlichen Anliegen. Häufig reagieren sie auf spezifische Lebensumstände, einige formulieren kühne Weltentwürfe, subversive Ideen oder individuelle Kosmologien. Manches Mal wollen Outsider-Künstler:innen nicht einmal »Kunst« schaffen, sondern folgen einem übergeordneten, gar göttlichen Auftrag. Hier ist das Werk nicht Kunst-Werk, sondern existentielles Lebens-Werk.
Einer übergeordneten Theorie folgt auch das Werk von Matthias Frick. Er reflektiert den Begriff Art Brut (Outsider Art) nicht gemäß seiner herkömmlichen Definition der Kontextualisierung als Differenzierung zur professionell geschaffenen Kunst (professionelle Kunstausbildung, Orientierung zum Kunstbetrieb und Kunstmarkt). Matthias Frick begreift den Terminus Art Brut zur Entwicklung einer höheren Kunst. Nach seiner Überzeugung verkörpert Art Brut den Wegweiser zu einem Kunstverständnis, in dem wir als Ziel unsere gegenwärtigen Kunstkonzepte überwunden haben. Hier definiert der »Outsider«-Künstler Art Brut als eine entscheidende Stufe im Reifeprozess hin zum Ideal eines neuen Kunstverständnisses. Damit fügt er nicht nur Art Brut wie selbstverständlich in den professionellen Kunstdiskurs ein, sondern zugleich auch sein eigenes künstlerisches Schaffen. Das Werk von Matthias Frick gerät zum Ausdruck der Revolution des herrschenden Kunstdiskurses. Es verharrt also nicht im »Outside« zum Kunstbetrieb, sondern setzt sich zu dessen Überwindung
ins Zentrum.
Doch er ist kein Art Brut-Künstler wie ein Adolf Wölfli oder ein Hans Krüsi. Matthias Frick hat 1981 bis 1984 die F+F Schule für Kunst und Design in Zürich besucht und war Meisterschüler bei Hermann Bohmert, der, inspiriert durch Fluxus, für provokative Aktionen bekannt war. 1982 gründete er zusammen mit Studierenden die Performancegruppe Bataks, die musische Performances realisierte, welche sich oft ins Absurde steigerten. Der Lehrer hat den Schüler Matthias Frick geprägt. Zitate aus der Rock- und Pop-Musik finden sich in seinem Werk, ebenso wie er andere Künstler zitiert oder sich beim Arbeiten von Musik inspirieren lässt. So tritt der Gesang der Wale als Motiv auf mit einem Zitat von Nina Hagen, »Was ich am liebsten male, sind Wale«. Weitere Aufschriften ergänzen die Zitate. »New York« gilt Matthias Frick als Synonym für das Zentrum der Welt. »Zürich« steht für seine Herkunft. »Tokio« ist das Wort für Comic. Matthias Frick ist fasziniert von Comics, von den japanischen Mangas. Seine Arbeiten gleichen Bild-Geschichten, allerdings nicht in Panels gegliedert, sondern alle Inhalte sind ohne eine Ordnung der Erzählstruktur auf eine Bildebene gebracht.
Eine psychische Erkrankung setzt eine Zäsur und Matthias Frick unterbricht jahrelang seine künstlerische Tätigkeit. Über das Heilpädagogische Zentrum in Schaan findet er wieder zur Kunst – zunächst ab 1993 in der Werkstatt im HZP Schaan arbeitend, anschließend dort im Atelier. Doch das Arbeiten nach Auftrag wird ihm zu eng. Seit 2009 arbeitet Matthias Frick als freischaffender Künstler zu Hause an seinem Werkkomplex. Bringt die psychische Erkrankung wohl eine Lebenszäsur, so hat sie ihn allerdings von künstlerischen Zwängen befreit. Losgelöst vom Kunstbetrieb, folgt er ohne Beirren seinen unkonventionellen Ideen. In deren Zentrum stehen Gedanken einer neuen Kunstdefinition im Spannungsfeld einer dualistischen Verortung. Laut Matthias Frick benötigt es einen neuen Kontext für Kunst abseits des Realismus. Das sei ihm angesichts von Duchamps Ready-mades bewusst geworden. Gestaltungsmerkmale unterwirft er einem Dualismus zwischen männlichem und weiblichem Prinzip – er spricht von der Symmetrie der Männlichkeit und Weiblichkeit. So weist er der Linie ein lineares Entwicklungsprinzip und damit dem männlichen Prinzip zu. Dem gegenüber sieht er die Spiralform als Umkreisung auf immer höherer Ebene dem weiblichen Prinzip zugeordnet. Zwischen Linie und Spiralform verortet er den Scheidepunkt zwischen Gewalt- oder Liebesspirale. Auch verschiedene Bildmotive unterliegen dem dualistischen Verständnis mit dem Ei als tradiertem weiblichen Prinzip gegenüber der Pyramide oder den Phallus-Symbolen als männlichem Prinzip. 1994 hat Matthias Frick sein erstes Werk zum dualistischen Männlichkeits- und Weiblichkeitsprinzip geschaffen. Es zeigt den Phallus als Zepter (Exekutive) und als Weibliches Element die Waage (Gerechtigkeit), die beide gemeinsam für eine gerechte Verteilung stehen. Zwanzig Jahre später formuliert das Herz-Lungen-Paar die Umwandlung des Körperlichen zum Geistigen mit dem Herz als männlichem und der Lunge als weiblichem Prinzip.
Dabei unterscheidet Matthias Frick auch innerhalb der Positionen des Weiblichen und Männlichen noch einmal eine Frauenästhetik und eine Männerästhetik und differenziert folgende Verfeinerungen einer Frauenästhetik- Frau mit dem Baum als Symbol des Wachstums, der Frauenästhetik-Mann als Strom, der Männerästhetik- Mann mit dem Element Feuer und der Männerästhetik-Frau mit dem Element Wasser. Erst in der Einheit beider dualistischen Pole des Weiblichen und Männlichen entstehe die Ganzheit einer Verbindung des Wasser-Stroms als allumfassender Lebensstrom.
Seiner Kunsttheorie folgend versteht Matthias Frick Art Brut auf der Stufe der Männerästhetik-Frau: Hier wird die Kunst noch aus der Perspektive des Realismus (Männlichkeit) verstanden, doch stellt die Art Brut (Weiblichkeit) innerhalb dieses realistisch geprägten Kunstverständnisses eine eigene, nicht nur »geistige«, sondern vielmehr eine »seelische« Ebene dar, die ihrerseits einer neuen Definition bedarf. Im Kunstbereich der Art Brut/Outsider Art ist das Ringen mit und um die Kunstbegriffe allgegenwärtig. Alle Termini wie Art Brut, Outsider Art, Naive Kunst, Visionary Art, Self-taught Art, Art Singulier etc. sind Begriffe, die aus der Rezeption entstanden sind und somit dem Verständnis des Autors/der Autorin unterworfen und im zeitlichen, historischen Kontext zu lesen sind. Keine andere Kunstrichtung unterliegt so sehr der Transformation wie das Verständnis von Art Brut/Outsider Art.
Ein Werk von Matthias Frick trägt den Titel Im Wald des einzigen Bildes – ein Topos, aufgegriffen von Emanuel Geisser für eine Installation (2011), von Theo Kneubühler zu einem Buchtitel oder zu einem Gedicht von Hans Thill. Vielleicht verhält es sich mit der Art Brut ähnlich wie im Wald des einzigen Bildes. In den immer wieder erneuten Bemühungen um eine konkrete Definition von Art Brut/Outsider Art wird übersehen, dass gerade ihre Vielfalt, die nicht fassbare Heterogenität ihre Stärke ist. Dass sie genau in dieser Transformation, die auch Matthias Frick benennt, zum Ausdruck kommt sowie mit welchem Verständnis Betrachtende auf diese Kunst blicken und als selbst gestaltender Part die Art Brut/Outsider Art – letztlich: die Kunst – bilden. Theo Kneubühler: Es hat mich wieder gepackt… Ich schaue, doch kann ich nicht sagen, was ich sehe… Die unlösbare Trennung von Sehen und Verstehen…