Georgia O’Keeffe beteiligte sich als eine der ersten Künstlerinnen aktiv an der Entstehung der amerikanischen Moderne, reüssierte in der typischen Männerdomäne „Malerei“ und wirkte als Role Model für nachfolgende Künstlerinnengenerationen. Die Rezeptionsgeschichte der 1887 auf einer Farm in Wisconsin geborenen und 1986 im Alter von 98 Jahren zurückgezogen in New Mexico gestorbenen Georgia O’Keeffe steht exemplarisch für ein Jahrhundert des Umgangs mit der Kunst von Frauen: von der frühen sexualisierenden Interpretation ihrer Gemälde, über ihre spätere Vereinnahmung durch die feministische Kunst der 1970er Jahre bis hin zu ihrer aktuellen Wiederentdeckung – auch durch den Kunstmarkt. O’Keeffes ungeheure Popularität, die sie bis heute in den Vereinigten Staaten genießt, wo sie als Inbegriff der „amerikanischen“ Künstlerin gilt, ist untrennbar mit der Darstellung von Blumen verknüpft, die mittels unzähliger Reproduktionen Verbreitung fanden. Ihr Blumenstillleben Jimson Weed/White Flower No. 1, 1932, erzielte 2014 bei Sotheby’s in New York 44,5 Mill $, was sie aktuell zur teuersten Künstlerin weltweit macht. Die regelrechte Überpräsenz O’Keeffes – vielen nur durch Postkarten und Poster bekannt, die einen lediglich kleinen Ausschnitt ihres Gesamtwerkes reproduzieren – und ein sensationsbasierter biografischer Hype rund um die „Ausnahmekünstlerin“ führten, vergleichbar ihrer Künstlerkollegin Frida Kahlo, zum Phänomen eines banalisierenden Ruhms, das einer ernsthaften kunsthistorischen Auseinandersetzung mit ihrer künstlerischen Arbeit lange im Weg stand.
O’Keeffes künstlerische Anfänge liegen in New York, wo sie erstmals 1916, vor hundert Jahren, in der New Yorker Galerie 291 ausstellte, dem damals wichtigsten Forum der europäischen Avantgarde, das von dem Fotografen – und ihrem späteren Ehemann – Alfred Stieglitz geleitet wurde. Ihr weniger bekanntes Frühwerk, beeinflusst von der „spirituellen“ Abstraktion Wassily Kandinskys, ist mit Ideen zur Synästhesie verbunden, dem Anliegen, „Musik in etwas für das Auge zu übersetzen“. Bereits zu Beginn zeigt sich, dass ihr Werk durch ein komplexes Wechselverhältnis von Naturnähe und Abstraktion geprägt ist und keiner linearen Stilentwicklung folgt. Am ehesten erschließt es sich vor dem Hintergrund der tiefgehenden Verbindung O’Keeffes zu spezifischen Orten, die ihre Bildsprache immer wieder aufs Neue geprägt und sie zu bestimmten Werkgruppen inspiriert haben: von der Prärie Westtexas über den urbanen Raum New Yorks und den Sommerfrischeort Lake George bis hin zur unberührten Natur New Mexicos.
Georgia O’Keeffe steht exemplarisch für ein Jahrhundert des Umgangs mit der Kunst von Frauen.
Insbesondere die ersten beiden Jahrzehnte von O’Keeffes Schaffens verkörpern jenen Moment, in dem die amerikanische Kunst gleichsam zu sich selbst findet. Im Umfeld des von Männern dominierten „Stieglitz-Kreises“ avancierte O’Keeffe zu einer Pionierin als Künstlerin sowie zu einer der Gründerfiguren der amerikanischen Moderne. Doch schon früh, unter dem Einfluss der Schriften Sigmund Freuds, stilisierte Stieglitz O’Keeffes Werk zum Inbegriff einer „weiblichen“ und zugleich authentisch amerikanischen Kunst, die sich in Form einer neuen, modernistischen Abstraktion artikulierte. Stieglitz’ Porträtfotografien seiner Frau – darunter zahlreiche Aktaufnahmen –, die die Künstlerin als Modell wie auch als selbstbewusste Kollaborateurin zeigen, ließen die Künstlerin zur Ikone der „roaring 20s“ werden und beförderten eine mythische Verschmelzung von Werk und Person.
Ein Leben lang verwehrte sich O’Keeffe gegen die essentialistischsexualisierte Lesart ihrer Kunst, wie sie sich überhaupt jeder Kategorisierung als „weibliche“ Künstlerin widersetzte – so auch ihrer Vereinnahmung durch feministische Künstlerinnen in den 1970er Jahren. Entgegen Lucy R. Lippards Diktum „Art has no gender but artists do“, wollte O’Keeffe Kunst jenseits von Geschlechterkategorien verstanden wissen, was sie jedoch nicht davon abhielt, sich immer wieder für die Rechte von Frauen stark zu machen. Ab 1914 kämpfte sie als Mitglied der National Women’s Party für das Frauenwahlrecht. In einem Brief an Eleanor Roosevelt von 1944 forderte O’Keeffe diese auf, sich für das Equal Rights Amendement einzusetzen, jenen Vorschlag für einen Verfassungszusatz, der Männer und Frauen gleiche Rechte zusichern sollte: „It seems to me very important to the idea of true democracy (…) that all men and women stand equal under the sky. I wish that you could be with us in this fight.“
O’Keeffes monumentale, die Pop Art ankündigenden Blumenbilder der 1920er und 1930er Jahre führen ihre innovative Übersetzung fotografischer Strategien – wie den scharfen Fokus, die Ausschnitthaftigkeit und das Close-up – in die Malerei vor Augen. Gleichzeitig bildeten sie den Hintergrund, vor dem Fotografen wie Edward Weston die sich in Nahsicht und Fragmentierung zuspitzende Verschränkung von Gegenständlichkeit und Abstraktion weiter vorantrieben. Obwohl O’Keeffe mit der Hinwendung zum Realismus versucht hatte, der exzessiv sexualisierenden Interpretation ihres abstrakten Werks entgegenzusteuern, beschränkten sich viele Kritiker darauf, in den prachtvollen Blüten erotische Evokationen von weiblichen (und männlichen) Genitalien zu lesen, was O’Keeffe ablehnte: „Wenn die Leute erotische Symbole in meine Bilder hineinlesen, dann sprechen sie eigentlich von ihren eigenen Angelegenheiten.“ Bis heute, hundert Jahre nach O’Keeffes Debüt, wird ihr Werk mit der Schaffung des „Great American Thing“ assoziiert: Wie kaum ein anderes verkörpert es das historische Vorhaben, eine nationale, amerikanische Kunst in Absetzung von der europäischen Tradition zu schaffen, die sich bei O’Keeffe in einer spezifischen Verbindung von Abstraktion und amerikanischer Landschaft ausdrückt. Im Kontext des ruralen Amerika, das O’Keeffe zunächst am Lake George, wo die Familie Stieglitz ein Sommerrefugium besaß, dann im amerikanischen Südwesten vorfand, wohin sie sich ab 1929 zunehmend zurückzog, entwarf O’Keeffe eine alternative Identität als amerikanische Künstlerin. Diese beinhaltete eine Abwendung von der Euphorie gegenüber dem Maschinenzeitalter, wie sie insbesondere von Vertretern des Präzisionismus und Dadaismus gehegt wurde, und vom Urbanen als Fokus der Moderne.
Mit seiner Geschichte und Topografie verkörperte der amerikanische Südwesten für sie den geeigneten Ort, um eine spezifisch „amerikanische“ Ikonografie zu realisieren, nach der damals Literaten und Künstler gleichermaßen strebten. Insbesondere ihre Gemälde, die vergrößerte Knochen mit der Wüstenlandschaft des Südwestens kontrastieren, verdichten gleichsam die „Essenz Amerikas“, die sie nicht in New York, sondern im Land westlich des Hudson River verkörpert sah, in „the Faraway“ (die Ferne) – „ein schöner, unberührter, sich einsam anfühlender Ort“. O’Keeffe verarbeitete und überwand dabei die Traditionen der erhabenen amerikanischen Landschaftsmalerei und damit verbundene Konstruktionen des Westens. O’Keeffes Image wandelte sich hier zunehmend von dem der sexuell befreiten Frau zu jenem der Aussteigerin nach New Mexico, wo sie seit 1949 endgültig lebte. Seither galt sie als unberührbare Diva der Wüste, als Pionierin, die den nationalen Mythos des Go West, den amerikanischen Traum der individuellen Selbstverwirklichung verkörperte.
Wenn die Leute erotische Symbole in meine Bilder hineinlesen, dann sprechen sie eigentlich von ihren eigenen Angelegenheiten.
Die intensive Erfahrung der schier grenzenlosen, unberührten Weite New Mexicos inspirierte O’Keeffe zu ihren reduzierten Landschaftsbildern. Ihre großformatigen Serien der 1950er und 1960er Jahre – von Patios, Wolken, Straßen- und Flussverläufen – offenbaren ihre Suche nach malerischen Äquivalenten des unendlichen, lichtdurchfluteten Raums und nehmen Kunstströmungen des Abstrakten Expressionismus und Minimalismus vorweg. „Das Unerklärliche in der Natur ruft in mir das Gefühl hervor, dass die Größe der Welt mein Vorstellungsvermögen weit übersteigt – vielleicht kann ich etwas verstehen, indem ich ihm Form verleihe. Das Gefühl der Unendlichkeit an der Horizontlinie finden oder einfach hinter dem nächsten Hügel.“