Von der Opulenz zur Ursprünglichkeit und zurück, oder die Ironie des Widerspruchs
Kennengelernt habe ich ihn vor ungefähr zwei Jahren. An einem wunderschönen Sommerabend folgte ich der Einladung eines befreundeten Fotokünstlers zur Eröffnung und Einweihung seines neuen Ateliers. Die Stimmung unter den Gästen war geprägt von guten Gesprächen, und zu fortgeschrittener Stunde saß noch eine Hand voll Menschen in beschaulicher Runde und philosophierte bei einem ausgezeichneten Glas Wein über Gott und die Kunstwelt.
Ein Mann kam erst später hinzu. Er setzte sich zu uns, und mir fiel sofort seine spröde Art auf. Er gab sich keine Mühe, höflich oder gar charmant zu sein oder sich an einem unverfänglichen Gespräch zu beteiligen. Ganz im Gegenteil. Er brüskierte sein Umfeld mit kindlicher Freude durch seine kategorischen Standpunkte und vertrat Ansichten, mit denen er, gewollt oder nicht, immer wieder provozierte. Auf mich wirkte er damals herablassend, mit einem Hauch Arroganz versehen, und ich war mir sicher, dass sich unsere Wege nicht noch einmal kreuzen werden.… Heute sitze ich in seiner Werkstatt, ich kenne ihn inzwischen gut, seine gerade, schnörkellose Art weiß ich zu schätzen, und er genießt meine Hochachtung als Mensch und Künstler. Ich muss schmunzeln.
Die Bezeichnung „Künstler“ begeistert ihn nicht. Sein Selbstbild entspricht eher dem eines Bildhauers oder Handwerkers.
Und ich denke, der Mann hat recht. Er arbeitet strukturiert, streng fokussiert, und seine Disziplin erinnert mich an die eines Leistungssportlers. Sein Kreativraum ist die penibel geordnete und reduzierte Werkstatt. Nichts Überflüssiges findet man hier. Er verzichtet auf Maschinen, wann immer die Möglichkeit besteht, und sein Handwerkszeug beschränkt sich auf eine übersichtliche Anzahl manueller Holzwerkzeuge. Skizzen, Zeichnungen oder Entwürfe spielen während der Anfangsphase der Entstehung einer Skulptur eine wichtige Rolle, die dritte Dimension allerdings die entscheidende. Jede seiner Skulpturen entsteht“ körperhaft“ und sehr präzise in seinem Kopf bevor sie aus dem Holz „heraustritt“. Geboren ist Stefan Neidhardt Anfang der siebziger Jahre, seine Basis ist bis zum heutigen Tag der von Grund auf erlernte Beruf des Steinmetzes oder Steinbildhauers, seine Hingabe gehört der Restauration. Vielleicht kommen daher die Geduld, die feine, außerordentlich geschulte Beobachtungsgabe, die Liebe und der Anspruch, auch jedes noch so kleine Detail bis zur Perfektion der gedanklichen Vorlage zu führen. 2011 wird das Jahr sein, in dem er seine ersten Erfahrungen als Holzbildhauer verbuchen kann. Er, der Autodidakt, experimentiert auf dem Gebiet der Skulptur und arbeitet seit 2015 freischaffend mit rasant wachsendem Erfolg. Im September 2017 ergibt sich für ihn eine Chance, auch über die regionalen Grenzen hinweg Bekanntheit und Anerkennung zu erlangen, eine Chance, deren Ausmaß er zum damaligen Zeitpunkt nicht abschätzen kann. Im Waffenmuseum der traditionellen Heimatstadt Suhl kommt es zu der Ausstellung „Die Waffen der Frauen“. Kurator ist der Kunstwissenschaftler Dr. Ivo Kranzfelder. Dessen Idee, das Werk Helmut Newtons „Sie kommen“ aus dem Jahr 1981 der Skulpturengruppe „Illusion von Weiblichkeit“ gegenüberzustellen, wird zu einer künstlerisch willkommenen Herausforderung für Stefan Neidhardt.
Von nun an zieht sich eine spannende Verbindung zwischen Ambivalenz und Illusion wie ein „roter Faden“ durch sein Oeuvre. Der Perfektionist legt sich fest. Ausschließlich drei Maße wird es geben, lebensgroß die größte der Figuren, circa fünfzig Zentimeter die kleinste. Ihre Proportionen bleiben immer gleich, die Körper wirken überzeichnet. Endlos lange, muskulöse Beine, eine schmale Taille und weiche, stark ausgeprägte Hüften werden durch seine Skulpturen zur realen Entsprechung seines weiblichen Idealbildes. Eine Dokumentation im Fernsehen zur Ausstellung „Die Waffen der Frauen“ zieht die Aufmerksamkeit des namenhaften Kunsthändlers und Galeristen Michael Kraut aus Kärnten in Österreich auf sich. Die beiden Männer verabreden sich, und so kommt es, dass der Galerist nach Suhl reist, um in der Stadt Alexander Gerbigs den Holzbildhauer und seine „Illusion von Weiblichkeit“ kennenzulernen…
Ich betrete das Atelier, es schließt sich an die Werkstatt an. Die Gruppe der Skulpturen „Illusion von Weiblichkeit“, die Gruppe, mit der alles begann, steht an prominenter Stelle im Raum. Der zentrale Punkt ist immer die „Dame mit Jacke“, die anderen Figuren ordnen sich um sie herum, sind variabel, eine Kleinserie aus fünf bis sieben Skulpturen. Ein Besuch dieses Areals fasziniert und verunsichert gleichermaßen durch die atemberaubende Choreografie der einzelnen Frauenkörper. Skulptural und poetisch steht jede für sich, und doch sind alle vereint durch eine Art freizügige Provokation. Sicher „Objekte der Begierde“, aber ganz sicher keine „Objekte“ im ursprünglichen Wortsinn. Nichts an ihnen ist passiv und soll bewundert werden, keine Frauenfigur verzichtet auf ein starkes „Ich“. Die Doppelwirkung aus Stolz und Klarheit zeigt, dass ihre Nacktheit nicht im Kontext steht mit Verletzbarkeit. Diese Frauen sind für mich der Inbegriff wahrer Emanzipation und ursprünglicher Freiheit. Ihre Regeln bestimmen sie selbst, sie sind laut, auch ohne Stimme, trotzig und ausgesprochen weiblich. Sie brauchen weder gesellschaftliche Regeln, noch Quote oder Agenda. Politischer Korrektheit setzen sie eine frische Autonomie entgegen.
Sie erinnern mich an das Aufbegehren der Frauen in den „Golden Twenties“, der Ära größter Freizügigkeit und Freiheit. Ich weiß, dass Stefan Neidhardts Schaffen beeinflusst, wenn nicht gar geprägt ist von dieser Epoche und all ihrem Facettenreichtum. Anita Berber, ein Juwel des Brutalismus, maßlos bis zur Schmerzgrenze, schillernd, glamourös, schrill, steht für die Zwanzigerjahre ebenso wie Otto Dix, und sein eindringliches Werk zum Ersten Weltkrieg. Er, der skeptische, unnachgiebige Beobachter mit seinem Hang zur grotesken Überzeichnung, sie, „die gewagteste Frau ihrer Zeit“. (Karl Lagerfeld) Nie waren Gegensätze so groß, wie in diesem Zeitalter. Und, spannungsgeladene Gegensätze erfüllen ihren Zweck hervorragend. Daran besteht kein Zweifel, wenn man einmal mit Stefan Neidhardts Skulpturen „in Berührung“ gekommen ist.
„Linientreu“, so der Titel einer seiner Frauenfiguren, welcher in seiner Wortbedeutung ebenso widersprüchlich ist, wie die Skulptur in ihrer Wirkung. Linientreu bezeichnet ergeben und angepasst, in gleicher Weise wie überzeugt und loyal. Als linientreu gilt der “Unterwürfige“, gleichermaßen wie der „Konsequente“. Die Linienführung schlängelt sich um den Körper der Figur und erinnert zwangsläufig an das Zebra, eines der wildesten Tiere weltweit und nicht ohne Grund Pate der Skulptur. Jegliche Versuche dieses Geschöpf zu domestizieren sind bislang gescheitert. Die monochrome Farbauswahl der Streifen schafft die Begrenzung und setzt ihren Fokus auf das Unvermeidbare. Weder gerade noch geschwungene Linien sind willkürlich platziert. Sie ordnen sich vollumfänglich den Gesetzmäßigkeiten des weiblichen Körpers unter und schmeicheln ihm und all seinen Rundungen. Bestimmt und unerbittlich stehen sie im Raum. Die Skulpturen mit dem Namen „Hinter der Maske“. Mit ihrer brillanten Begabung zu Täuschung und Rollenspiel bieten sie der Phantasie größtmöglichen Raum. Tragen sie ihre Masken um einen Pakt einzugehen, der gesellschaftliche Regeln bewusst umgeht?
Der Blick der Trägerin der Maske kann ruhen wo, und solange er möchte, durch diese wird sie zur unerkannten Voyeurin. Andererseits kann sie sich zeigen, sich präsentieren, mutig Absichten äußern, aus dem Schutz der Anonymität heraus. Die Trägerin der Maske kann Beute sein, ohne Opfer zu werden. Ein ewig, stilles Ringen um Macht, subtil gestaltet, wie ich finde. Mir wird bewusst, dass man als Betrachter der Skulpturen glauben könnte, die Intension des Künstlers zu erkennen. Doch spiegeln die Gedanken der Betrachter nicht einzig deren Haltung zu Moral oder Ästhetik wieder? Eine der Skulpturen dieser Gruppe, meine unangefochtene Favoritin, ist „die Frau mit der goldenen Maske“. Obwohl sie nur eine venezianische Maske trägt, wirkt sie ausgesprochen stilvoll. Ich stelle sie mir vor mit einem opulenten Collier auf ihrem unbekleideten Körper, feudaler Prunk – provokant und glamourös. Anita Berber hätte ihre Freude daran, davon bin ich überzeugt.