Stefan Neidhardt

Von der Opulenz zur Ursprünglichkeit und zurück, oder die Ironie des Widerspruchs

Kennen­ge­lernt habe ich ihn vor unge­fähr zwei Jah­ren. An einem wun­der­schö­nen Som­mer­abend folg­te ich der Ein­la­dung eines befreun­de­ten Foto­künst­lers zur Eröff­nung und Ein­wei­hung sei­nes neu­en Ate­liers. Die Stim­mung unter den Gäs­ten war geprägt von guten Gesprä­chen, und zu fort­ge­schrit­te­ner Stun­de saß noch eine Hand voll Men­schen in beschau­li­cher Run­de und phi­lo­so­phier­te bei einem aus­ge­zeich­ne­ten Glas Wein über Gott und die Kunstwelt.

Ein Mann kam erst spä­ter hin­zu. Er setz­te sich zu uns, und mir fiel sofort sei­ne sprö­de Art auf. Er gab sich kei­ne Mühe, höf­lich oder gar char­mant zu sein oder sich an einem  unver­fäng­li­chen Gespräch zu betei­li­gen. Ganz im Gegen­teil. Er brüs­kier­te sein Umfeld mit kind­li­cher Freu­de durch sei­ne kate­go­ri­schen Stand­punk­te und ver­trat Ansich­ten, mit denen er, gewollt oder nicht, immer wie­der pro­vo­zier­te. Auf mich wirk­te er damals her­ab­las­send, mit einem Hauch Arro­ganz ver­se­hen, und ich war mir sicher, dass sich unse­re Wege nicht noch ein­mal kreu­zen wer­den.… Heu­te sit­ze ich in sei­ner Werk­statt, ich ken­ne ihn inzwi­schen gut, sei­ne gera­de, schnör­kel­lo­se Art weiß ich zu schät­zen, und er genießt mei­ne Hoch­ach­tung als Mensch und Künst­ler. Ich muss schmunzeln.

Por­trät Ste­fan Neidhardt
Die Bezeich­nung „Künst­ler“ begeis­tert ihn nicht. Sein Selbst­bild ent­spricht eher dem eines Bild­hau­ers oder Handwerkers.

Und ich den­ke, der Mann hat recht. Er arbei­tet struk­tu­riert, streng fokus­siert, und sei­ne Dis­zi­plin erin­nert mich an die eines Leis­tungs­sport­lers. Sein Krea­tiv­raum ist die peni­bel geord­ne­te und redu­zier­te Werk­statt. Nichts Über­flüs­si­ges fin­det man hier. Er ver­zich­tet auf Maschi­nen, wann immer die Mög­lich­keit besteht, und sein Hand­werks­zeug beschränkt sich auf eine über­sicht­li­che Anzahl manu­el­ler Holz­werk­zeu­ge. Skiz­zen, Zeich­nun­gen oder Ent­wür­fe spie­len wäh­rend der Anfangs­pha­se der Ent­ste­hung einer Skulp­tur eine wich­ti­ge Rol­le, die drit­te Dimen­si­on aller­dings die ent­schei­den­de. Jede sei­ner Skulp­tu­ren ent­steht“ kör­per­haft“ und sehr prä­zi­se in sei­nem Kopf bevor sie aus dem Holz „her­aus­tritt“. Gebo­ren ist Ste­fan Neid­hardt Anfang der sieb­zi­ger Jah­re, sei­ne Basis ist bis zum heu­ti­gen Tag der von Grund auf erlern­te Beruf des Stein­met­zes oder Stein­bild­hau­ers, sei­ne Hin­ga­be gehört der Restau­ra­ti­on. Viel­leicht kom­men daher die Geduld, die fei­ne, außer­or­dent­lich geschul­te Beob­ach­tungs­ga­be, die Lie­be und der Anspruch, auch jedes noch so klei­ne Detail bis zur Per­fek­ti­on der gedank­li­chen Vor­la­ge zu füh­ren. 2011 wird das Jahr sein, in dem er sei­ne ers­ten Erfah­run­gen als Holz­bild­hau­er ver­bu­chen kann. Er, der Auto­di­dakt, expe­ri­men­tiert auf dem Gebiet der Skulp­tur und arbei­tet seit 2015 frei­schaf­fend mit rasant wach­sen­dem Erfolg. Im Sep­tem­ber 2017 ergibt sich für ihn eine Chan­ce, auch über die regio­na­len Gren­zen hin­weg Bekannt­heit und Aner­ken­nung zu erlan­gen, eine Chan­ce, deren Aus­maß er zum dama­li­gen Zeit­punkt nicht abschät­zen kann. Im Waf­fen­mu­se­um der tra­di­tio­nel­len Hei­mat­stadt Suhl kommt es zu der Aus­stel­lung „Die Waf­fen der Frau­en“. Kura­tor ist der Kunst­wis­sen­schaft­ler Dr. Ivo Kranz­fel­der. Des­sen Idee, das Werk Hel­mut New­tons „Sie kom­men“ aus dem Jahr 1981 der Skulp­tu­ren­grup­pe „Illu­si­on von Weib­lich­keit“ gegen­über­zu­stel­len, wird zu einer künst­le­risch will­kom­me­nen Her­aus­for­de­rung für Ste­fan Neidhardt.

Von nun an zieht sich eine span­nen­de Ver­bin­dung zwi­schen Ambi­va­lenz und Illu­si­on wie ein „roter Faden“ durch sein Oeu­vre. Der Per­fek­tio­nist legt sich fest. Aus­schließ­lich drei Maße wird es geben, lebens­groß die größ­te der Figu­ren, cir­ca fünf­zig Zen­ti­me­ter die kleins­te. Ihre Pro­por­tio­nen blei­ben immer gleich, die Kör­per wir­ken über­zeich­net. End­los lan­ge, mus­ku­lö­se Bei­ne, eine schma­le Tail­le und wei­che, stark aus­ge­präg­te Hüf­ten wer­den durch sei­ne Skulp­tu­ren zur rea­len Ent­spre­chung sei­nes weib­li­chen Ide­al­bil­des. Eine Doku­men­ta­ti­on im Fern­se­hen zur Aus­stel­lung „Die Waf­fen der Frau­en“ zieht die Auf­merk­sam­keit des namen­haf­ten Kunst­händ­lers und Gale­ris­ten Micha­el Kraut aus Kärn­ten in Öster­reich auf sich. Die bei­den Män­ner ver­ab­re­den sich, und so kommt es, dass der Gale­rist nach Suhl reist, um in der Stadt Alex­an­der Ger­bigs den Holz­bild­hau­er und sei­ne „Illu­si­on von Weib­lich­keit“ kennenzulernen…

Ich betre­te das Ate­lier, es schließt sich an die Werk­statt an. Die Grup­pe der Skulp­tu­ren „Illu­si­on von Weib­lich­keit“, die Grup­pe, mit der alles begann, steht an pro­mi­nen­ter Stel­le im Raum. Der zen­tra­le Punkt ist immer die „Dame mit Jacke“, die ande­ren Figu­ren ord­nen sich um sie her­um, sind varia­bel, eine Klein­se­rie aus fünf bis sie­ben Skulp­tu­ren. Ein Besuch die­ses Are­als fas­zi­niert und ver­un­si­chert glei­cher­ma­ßen durch die atem­be­rau­ben­de Cho­reo­gra­fie der ein­zel­nen Frau­en­kör­per. Skulp­tu­ral und poe­tisch steht jede für sich, und doch sind alle ver­eint durch eine Art frei­zü­gi­ge Pro­vo­ka­ti­on. Sicher „Objek­te der Begier­de“, aber ganz sicher kei­ne „Objek­te“ im ursprüng­li­chen Wort­sinn. Nichts an ihnen ist pas­siv und soll bewun­dert wer­den, kei­ne Frau­en­fi­gur ver­zich­tet auf ein star­kes „Ich“. Die Dop­pel­wir­kung aus Stolz und Klar­heit zeigt, dass ihre Nackt­heit nicht im Kon­text steht mit Ver­letz­bar­keit. Die­se Frau­en sind für mich der Inbe­griff wah­rer Eman­zi­pa­ti­on und ursprüng­li­cher Frei­heit. Ihre Regeln bestim­men sie selbst, sie sind laut, auch ohne Stim­me, trot­zig und aus­ge­spro­chen weib­lich. Sie brau­chen weder gesell­schaft­li­che Regeln, noch Quo­te oder Agen­da. Poli­ti­scher Kor­rekt­heit set­zen sie eine fri­sche Auto­no­mie entgegen.

Sie erin­nern mich an das Auf­be­geh­ren der Frau­en in den „Gol­den Twen­ties“, der Ära größ­ter Frei­zü­gig­keit und Frei­heit. Ich weiß, dass Ste­fan Neid­hardts Schaf­fen beein­flusst, wenn nicht gar geprägt ist von die­ser Epo­che und all ihrem Facet­ten­reich­tum. Ani­ta Ber­ber, ein Juwel des Bru­ta­lis­mus, maß­los bis zur Schmerz­gren­ze, schil­lernd, gla­mou­rös, schrill, steht für die Zwan­zi­ger­jah­re eben­so wie Otto Dix, und sein ein­dring­li­ches Werk zum Ers­ten Welt­krieg. Er, der skep­ti­sche, unnach­gie­bi­ge Beob­ach­ter mit sei­nem Hang zur gro­tes­ken Über­zeich­nung, sie, „die gewag­tes­te Frau ihrer Zeit“. (Karl Lager­feld) Nie waren Gegen­sät­ze so groß, wie in die­sem Zeit­al­ter. Und, span­nungs­ge­la­de­ne Gegen­sät­ze erfül­len ihren Zweck her­vor­ra­gend. Dar­an besteht kein Zwei­fel, wenn man ein­mal mit Ste­fan Neid­hardts Skulp­tu­ren „in Berüh­rung“ gekom­men ist.

Hin­ter der Mas­ke II 2019 104 x 35 x 20 cm

Lini­en­treu“, so der Titel einer sei­ner Frau­en­fi­gu­ren, wel­cher in sei­ner Wort­be­deu­tung eben­so wider­sprüch­lich ist, wie die Skulp­tur in ihrer Wir­kung. Lini­en­treu bezeich­net erge­ben und ange­passt, in glei­cher Wei­se wie über­zeugt und loy­al. Als lini­en­treu gilt der “Unter­wür­fi­ge“, glei­cher­ma­ßen wie der „Kon­se­quen­te“. Die Lini­en­füh­rung schlän­gelt sich um den Kör­per der Figur und erin­nert zwangs­läu­fig an das Zebra, eines der wil­des­ten Tie­re welt­weit und nicht ohne Grund Pate der Skulp­tur. Jeg­li­che Ver­su­che die­ses Geschöpf zu domes­ti­zie­ren sind bis­lang geschei­tert. Die mono­chro­me Farb­aus­wahl der Strei­fen schafft die Begren­zung und setzt ihren Fokus auf das Unver­meid­ba­re. Weder gera­de noch geschwun­ge­ne Lini­en sind will­kür­lich plat­ziert. Sie ord­nen sich voll­um­fäng­lich den Gesetz­mä­ßig­kei­ten des weib­li­chen Kör­pers unter und schmei­cheln ihm und all sei­nen Run­dun­gen. Bestimmt und uner­bitt­lich ste­hen sie im Raum. Die Skulp­tu­ren mit dem Namen „Hin­ter der Mas­ke“. Mit ihrer bril­lan­ten Bega­bung zu Täu­schung und Rol­len­spiel bie­ten sie der Phan­ta­sie größt­mög­li­chen Raum. Tra­gen sie ihre Mas­ken um einen Pakt ein­zu­ge­hen, der gesell­schaft­li­che Regeln bewusst umgeht?

Der Blick der Trä­ge­rin der Mas­ke kann ruhen wo, und solan­ge er möch­te, durch die­se wird sie zur uner­kann­ten Voy­eu­rin. Ande­rer­seits kann sie sich zei­gen, sich prä­sen­tie­ren, mutig Absich­ten äußern, aus dem Schutz der Anony­mi­tät her­aus. Die Trä­ge­rin der Mas­ke kann Beu­te sein, ohne Opfer zu wer­den. Ein ewig, stil­les Rin­gen um Macht, sub­til gestal­tet, wie ich fin­de. Mir wird bewusst, dass man als Betrach­ter der Skulp­tu­ren glau­ben könn­te, die Inten­si­on des Künst­lers zu erken­nen. Doch spie­geln die Gedan­ken der Betrach­ter nicht ein­zig deren Hal­tung zu Moral oder Ästhe­tik wie­der? Eine der Skulp­tu­ren die­ser Grup­pe, mei­ne unan­ge­foch­te­ne Favo­ri­tin, ist „die Frau mit der gol­de­nen Mas­ke“. Obwohl sie nur eine vene­zia­ni­sche Mas­ke trägt, wirkt sie aus­ge­spro­chen stil­voll. Ich stel­le sie mir vor mit einem opu­len­ten Col­lier auf ihrem unbe­klei­de­ten Kör­per, feu­da­ler Prunk – pro­vo­kant und gla­mou­rös. Ani­ta Ber­ber hät­te ihre Freu­de dar­an, davon bin ich überzeugt.

Lini­en­treu 2018 103 x 26 x 17 cm
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geschrieben von

Unternehmerin, Literatur -, Philosophie – und Kunstliebhaberin, Förderin regionaler Kunst. Nähere Informationen über die Autorin über den Verlag stayinart / Galerie Kraut.

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