Interview mit Judi Harvest
Die in den USA geborene, multidisziplinäre Künstlerin Judi Harvest – deren umfangreicher Werkskatalog eine erstaunliche Sammlung abstrakter Gemälde, Skulpturen, Arbeiten auf Papier und multimedialer Werke umfasst – ist eine Legende, die aktuell genauso energisch, wissbegierig und einfallsreich ist, wie in ihren Anfängen. In ihrer über 40-jährigen Karriere ist Harvest für Werke verantwortlich, die zu den technisch tiefgründigsten und spielerisch lebendigsten der zeitgenössischen Kunst gehören. Sie ist unter anderem für ihre detaillierten Murano-Glasskulpturen bekannt – von Früchten wie Tomaten und Granatäpfeln bis hin zu Insekten wie Honigbienen in faszinierender, lebensechter Form, die unter Verwendung jahrhundertealter italienischer Glasmachertechniken akribisch geformt werden.
Seit Jahren bringt sie ihre Leidenschaft für Honigbienen in ihre Schaffenskraft ein. Das Bienensterben ist aktueller denn je und Judy Harvest hat sich ironischerweise beruflich zu einer Umweltschützerin entwickelt. Sie verwandelte einen offenen Raum in ihrem geliebten Murano – wo sie die meiste Zeit verbringt – in einen weitläufigen Honiggarten, begann Honig herzustellen und zu verkaufen; all das, während sie mit ihrem Pinsel das außergewöhnliche Leben dieser gefährdeten Spezies dokumentierte und ihr Wissen durch internationale Vortragstätigkeit weitergibt. Harvest lud mich kürzlich zu einem Gespräch in ihr Studio in Manhattan ein:
Wie lange arbeiten Sie schon an Ihrer Honigbienen-Serie, und welche Meilensteine haben Sie durchlaufen?
Ich habe die Honigbienen-Serie 2012 mit der Initiative des Murano-Honiggartens in Verbindung mit meiner Ausstellung „Denatured: Honeybees + Murano“ während der Biennale von Venedig 2013 begonnen. Dies ist ein Kunst- und Ökologieprojekt. Es soll auf die dringende Umweltkrise aufmerksam machen, die unsere Nahrungsmittelversorgung beeinträchtigt. Für die Ausstellung 2013 schuf ich 100 einzigartige handgefertigte Honiggefäße aus Muranoglas. Jedes ist nummeriert und signiert und wird mit einem Glas meines Muranohonigs übergeben, die ebenfalls alle signiert und nummeriert sind wie die Honiggefäßskulpturen. Der Garten gedeiht wunderbar, und es wachsen nun Granatäpfel, Nektarinen, Pflaumen, Oliven und Kirschen, wo es vorher nur ein karges Feld von Glasscherben gab. Die Honigbienenvölker sind jetzt sieben Jahre alt und sind von vier auf acht Bienenstöcke gewachsen. Im Jahr 2017 habe ich die Ausstellung „Propagation: Bees + Seeds“ für die Biennale in Venedig auf der Grundlage der Pflanzen und Blumen in meinem Honiggarten und unserer jetzt gefährdeten Nahrungsressourcen gestaltet.
Wodurch wurde Ihr Interesse an der Erhaltung der Honigbienen sowie an Ihrem Honiggarten in Murano überhaupt geweckt?
Im Jahr 2006 habe ich zum ersten Mal vom „Colony Collapse Disorder“ gehört, der Bezeichnung für das weltweite Verschwinden der Honigbienen. Ich liebe Blumen und Früchte, und mir wurde bewusst, dass es überall weniger Honigbienen gab, also begann ich darüber zu recherchieren. Ich nahm im Zuge dessen an einem Imkerkurs in New York teil und wurde Imkerin und Mitglied des Imkerverbandes von New York City. Von 2014–2017 hatte ich 5 Honigbienenstöcke auf dem Dach meines Hauses, hier in New York. Wir stellten High-Line-Honig her und verkauften ihn auf dem „Union Square Farmers Market“.
Sie haben sich auch intensiv mit den Samen von Obst und Gemüse beschäftigt, und zwar auch in einigen Ihrer beeindruckenden Murano-Glasskulpturen und ‑Gemälden. Warum Samen?
Alles beginnt und endet mit einem Samenkorn. Auch Saatgut ist gefährdet. Mein jüngstes Projekt war die Herstellung von Samen im Glas aus den Blumen und Pflanzen in meinem Honiggarten in Murano. Glas ist zerbrechlich und kostbar, und Samen und Bienen sind gefährdet. Das Medium ist eine klare Botschaft: Murano-Glas steht für Zerbrechlichkeit und Schönheit und wird wegen seiner Qualität sehr geschätzt. Ich konzentriere mich in meiner Arbeit auf die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Suche nach Schönheit. In den letzten 14 Jahren hat sich meine Arbeit mit den gefährdeten Honigbienen und der Umwelt beschäftigt. Ein so wichtiges und aktuelles Thema inspiriert mich immer wieder neu.
Sie haben Anfang 2020 eine Ausstellung mit dem Titel „Seeds“ in NYC, können Sie uns darüber etwas erzählen?
Meine bevorstehende Einzelausstellung trägt den Titel SEED und ist in der David Krut Gallery in Chelsea zu sehen. Ich freue mich sehr auf diese Ausstellung, denn es ist meine erste New Yorker Einzelausstellung seit vielen Jahren. In letzter Zeit hatte ich Ausstellungen in Venedig, Italien, Barcelona, Mailand und München, aber in New York ist mein Atelier; und ich arbeite zwischen New York und Venedig. Bereits in meiner Kindheit, in Miami, war Saatgut ein wesentlicher Teil meines Lebens. Ich habe immer Samen gerettet, gepflanzt, sie wachsen sehen und jetzt Kunst darf ich Kunst dazu kreieren. Wir haben aus vielen Gründen viele Sorten von Samen verloren. Der Klimawandel, GMO-Manipulationen und Gier haben die Sorten von Mais, Salat, Tomaten, Traubenkirschen und so weiter stark reduziert. Inzwischen gibt es in vielen Ländern Saatgutbanken, und die bisher größte befindet sich in Svalbard, Norwegen, wo es 856.000 Arten von gefrorenem Saatgut in Kisten aus aller Welt gibt. Diese Samenkörbe sind eine „Versicherung“ dafür, dass wir im Falle von globalen Katastrophen Nahrungsmittel anbauen können. Bisher war Syrien das einzige Land, das sein Saatgut zurückgenommen hat. Meine Ausstellung besteht aus drei tischhohen Vitrinen, in denen Hunderte meiner handgemachten Muranoglas-Samen ausgestellt sind. Die drei Vitrinen tragen die Titel PAST, PRESENT und FUTURE (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Die Vergangenheit stellt jene Zeit dar, als unser Essen rein war oder wir das zumindest geglaubt haben. Diese Samen und Früchte haben eine normale Größe und natürliche Farbe. Die Gegenwart stellt das Jetzt dar. Wir sind nicht sicher, warum, aber die Dinge schmecken oder sehen nicht mehr so aus wie früher. Diese Glassamen und Früchte sind größer als normal. Die FUTURE-Vitrine ist mit Kristallglas-Samen gefüllt, die die „Frozen“- Serie darstellen, also die gefrorenen Samenbanken.
Sie sind seit vielen Jahren ein wichtiger Programmpunkt auf der internationalen Biennale von Venedig? Wie ist Ihre Beziehung zur Biennale und Ihre Liebesbeziehung zu Italien?
Ich studierte 1973 Kunst an der „Tyler School of Art“ in Rom und besuchte damals zum ersten Mal Venedig. Es war Liebe auf den ersten Blick. Meine zweite Einzelausstellung war 1987 in Venedig, und alle Bilder wurden verkauft. Ich betrachtete dies als ein Zeichen, dass ich dort bleiben sollte. Ich hatte, wie ich glaubte, genug Geld aus den Bildverkäufen, um ein Jahr dort zu bleiben. Ich blieb schließlich 4 Jahre und zeigte dort weiterhin meine Werke. Venedig und seine Zerbrechlichkeit, die Handwerker und die Schönheit sind eine große Inspiration für meine Arbeit. Ich genieße auch die menschliche Seite von Venedig und die Tatsache, dass es keine Autos gibt. Ich liebe es, zu Fuß zu gehen, Dinge zu erforschen, die schließlich in meine Arbeit einfließen. Meine erste Begleitausstellung zur Biennale von Venedig fand 1990 im Arsenale statt und trug den Titel „Commitment, Joy, Sacrifice.“, genau das ist Kunst für mich.
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Welche wichtigste Lektion haben Sie nach 40 Jahren als eine der führenden internationalen Künstlerinnen gelernt und warum wird die Kunst heute mehr denn je gebraucht?
Künstler sind die Antenne des Universums. Wir lesen, fühlen, schaffen und drücken durch unsere Arbeit aus, was andere Medien nicht tun. Kunst ist visuell, und bei all der Hässlichkeit, Negativität und Traurigkeit, denen wir jeden Tag ausgesetzt sind, glaube ich, dass ich die Verantwortung habe, etwas zu verändern. Meine Botschaft ist hart. Ich gestalte diese Botschaft ästhetisch. Wie eine Blume für eine Honigbiene kann die Kunst locken, bestäuben, die Botschaft überbringen und zum Handeln anregen. Kunst ist für mich eine Fremdbestäubung. Kunst sollte nicht nur dekorativ sein. Wir können es uns nicht leisten, kostbare Zeit und Materialien zu verschwenden, während unsere Welt gleichzeitig in Flammen steht und überschwemmt wird. Fledermäuse und Koalas in Australien fallen aufgrund der Brände von den Bäumen, Venedig steht unter Wasser, Florida steht unter Wasser, Kalifornien steht in Flammen. Wir müssen etwas für die Umwelt tun. Wir müssen eine großzügigere, freundlichere und kommunikativere Gesellschaft werden. Eine einzige Honigbiene kann nichts erreichen; es braucht die gesamte Kolonie, um Honig zu produzieren. Wenn wir unsere Umwelt auf diese Weise betrachten würden (und das ist möglich), könnte die Welt eine ganz andere Geschichte schreiben.
Kunst ist für mich eine Fremdbestäubung. Ich glaube, dass Kunst heilt und zum Handeln inspiriert. Künstler haben die Gesellschaft verändert und werden es auch weiterhin tun.