Juana Anzellini

Nicht sehen während man sieht

Kogni­ti­ve und affek­ti­ve Aspek­te von Male­rei und Gra­fik wer­den in den künst­le­ri­schen Arbei­ten Jua­na Anzel­li­nis unter­sucht. Ihre Bil­der stel­len eine alter­na­ti­ve zur kon­ven­tio­nel­len Vor­stel­lung von Male­rei als einem rein visu­el­len Betrach­tungs­ob­jekt dar. Bei Anzel­li­nis Gemäl­den und Gra­fi­ken sind nicht nur Farb­fel­der, Licht­re­flek­tio­nen, Figu­ren oder eine Ästhe­tik der Din­ge zu erfah­ren, son­dern sie macht den Kon­struk­ti­ons­pro­zess ihrer Arbei­ten sicht­bar, sie zeigt in sich über­la­gern­den Schich­ten eine Viel­zahl an Infor­ma­tio­nen und sie beför­dert damit einen alter­na­ti­ve empa­thi­sche Bezie­hung zwi­schen Betrach­ter und Bildwerk.

Jua­na Anzel­li­ni ist eine kolum­bia­ni­sche Künst­le­rin, die 1985 in Bogo­tá gebo­ren wur­de. Dort hat sie im Jahr 2009 das Stu­di­um der Male­rei, Zeich­nung und Gra­fik an der Uni­ver­si­dad de los Andes abge­schlos­sen. Seit 2013 lebt sie in Deutsch­land, wo sie einen Mas­ter­stu­di­en­gang (Mas­ter of Fine Arts) an der Ernst-Moritz-Arndt-Uni­ver­si­tät Greifs­wald absol­vier­te, den sie im Jahr 2015 been­de­te. 2016 erhielt sie das Cas­par-David-Fried­rich-Lan­des­sti­pen­di­um (Meck­len­burg-Vor­pom­mern) und lebt und arbei­tet als frei­schaf­fen­de Künst­le­rin in Ber­lin. „Blind­heit“ ist ein Schwer­punkt der künst­le­ri­schen Arbei­ten und Refle­xio­nen Anzel­li­nis. Sie bezieht sich hier­bei zum einen auf die Unmög­lich­keit des Sehen Kön­nens − im Sin­ne einer phy­si­schen Behin­de­rung, aber zum ande­ren auch auf die kogni­ti­ve Ebe­ne des Sehens aber nicht Ver­ste­hens, also die Unmög­lich­keit, etwas zu erken­nen oder zu erfah­ren. Ihre Arbeit mit dem Titel „Sehen und nicht sehen“ (2012) umfasst eine Rei­he mono­chro­ma­ti­scher Bil­der, die nur mit Casein auf einem Holz­trä­ger aus­ge­führt sind. Auf den ers­ten Blick sieht der Betrach­ter zum Bei­spiel nur ein leicht grau getön­tes Farb­feld. Trotz­dem kann man aber aus bestimm­ten Blick­win­keln Por­träts erken­nen, die aus der Cas­ein­schicht mit einem Hohl­mei­ßel her­aus­ge­kratzt wur­den. Die Gleich­zei­tig­keit von Unsicht­bar­keit und Sicht­bar­keit eröff­net dem Betrach­ter die Mög­lich­keit eines ambi­va­len­ten kogni­ti­ven Pro­zes­ses, bei dem sich Ver­lust und Gewinn der ver­schie­de­nen Inhal­te bewusst abwech­seln lassen.

Copyright: KARSTEN THORMAELEN
Jua­na Anzellini

Die Gleich­zei­tig­keit von Unsicht­bar­keit und Sicht­bar­keit eröff­net dem Betrach­ter die Mög­lich­keit eines ambi­va­len­ten kogni­ti­ven Pro­zes­ses, bei dem sich Ver­lust und Gewinn der ver­schie­de­nen Inhal­te bewusst abwech­seln lassen. 

In ihrem Werk „Die ver­lo­re­ne Klar­heit“ (2014−15) über­la­gern sich ver­schie­de­ne Figu­ren. Damit gelingt Anzel­li­ni die Dekon­struk­ti­on der Genau­ig­keit einer mensch­li­chen Dar­stel­lung, und ein „unkla­res“ Bild wird erschaf­fen. Im Ergeb­nis ent­steht eine mensch­li­che „Mas­se“, bestehend aus ver­schie­de­nen Gesich­tern, Kör­pern und Farb­fle­cken. Anzel­li­nis Arbeit nimmt hier auch den sozia­len Raum ins Visier und schafft mit ihrem Werk eine Meta­pher von Sozi­al­in­ter­ak­tio­nen wie Soli­da­ri­tät, Abhän­gig­keit, Hil­fe und gegen­sei­ti­ger Beeinflussung.

Die Serie „Mutu­um Auxi­li­um“ (2016−17) ist eine Wei­ter­ent­wick­lung die­ser Meta­pher. Aus­gangs­punkt die­ser Serie ist ein Bild­mo­tiv aus der Renais­sance. Auf die­sem wird ein Blin­der abge­bil­det, der einen Lah­men trägt, der wie­der­um den Weg vor­gibt, damit bei­de vor­an­kom­men. In ihren Bil­dern wird die­ses Motiv zum Bei­spiel durch Kin­der auf­ge­grif­fen, die im Park die­se Sze­ne spie­le­risch aus­drü­cken. Die­se Sze­ne wird auf zwei Lein­wän­den dar­ge­stellt und wird damit auch zu einem Ver­weis auf die Koope­ra­ti­on zwi­schen Men­schen. Anzel­li­ni bin­det also auch die phy­si­schen Tei­le der Gemäl­de, die Rah­men und Lein­wän­de, inhalt­lich in die­se sozia­le Meta­pher ein. So wie die Figu­ren inter­agie­ren auch die Rah­men mit­ein­an­der, da sie nur gemein­sam eine sta­bi­le frei­ste­hen­de Struk­tur erge­ben. Die Gemäl­de ste­hen mit­tig im Aus­stel­lungs­raum, wobei eine Art von per­for­ma­ti­ver „Sozi­al­in­ter­ak­ti­on“ zwi­schen den Betrach­tern und dem Objekt her­vor­ge­ru­fen wird. Die ste­hen­den Bil­der und ihr Bild­for­mat ent­spre­chen einer Kör­per­lich­keit, mit der man visu­ell und gleich­zei­tig auch auf kör­per­li­cher Ebe­ne interagiert.

Anzel­li­nis Arbei­ten stel­len die vor­wie­gend visu­el­le Bezie­hung eines Betrach­ters zu einem Bild in Fra­ge. „Nicht sehen wäh­rend man sieht“ heißt, ande­re Bezie­hun­gen zum Bild als nur die visu­el­le zu erfah­ren. Die Über­la­ge­rung inner­halb der Gemäl­de und die Mon­ta­ge der­sel­ben mit­ein­an­der als Sym­bol von Sozi­al­in­ter­ak­ti­on sol­len eine alter­na­ti­ve empa­thi­sche Bezie­hung sowohl indi­vi­du­ell als auch gemein­sam ermöglichen.

Home­page der Künst­le­rin: www.juana-anzellini.com

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geschrieben von

Freiberuflicher Kurator und Kunsthistoriker (Kolumbien, 1977). Er ist Verfasser verschiedener Publikationen über zeitgenössische kolumbianische Kunst sowie weitere Themenfelder wie z.B. Gedächtniskultur und Kunst im öffentlichen Raum. Im Jahre 2012 wurde seine Recherche „Erinnerungsfelder“ vom Kulturamt Bogotá als „Kuratorisches Projekt für die internationale Verbreitung kolumbianischer Kunst“ ausgezeichnet. Seit 2007 lebt und arbeitet er in Berlin

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