Skulptur aus Zucker
Joseph Marr steht in seinem Atelier in Berlin Neukölln zwischen all seinen leuchtend anmutigen Skulpturen aus farbiger Zuckermasse und zitiert aus einem Text des Hindumeisters Neem Karola Baba, dessen Foto an einer Wand hängt. „Ich liebe diese Person“, sagt er. Natürlich hätten seine Skulpturen mit Begehren zu tun. Doch die Lehren des Meisters von der Kunst des Loslassens seien für ihn lebenswichtig geworden.
Wer einmal Marrs mehrere Meter lange Skulptur „Together“ im Berghain, Berlins bekanntestem Techno-Club, gesehen hat, würde auf den ersten Blick nicht glauben, dass dieses Werk einen spirituellen Hintergrund hat. Zwischen den schwitzenden Feiernden und bei ohrenbetäubenden Sounds findet man mehrere Figuren verführerisch erleuchtet in die lange, gläserne Theke einer der ClubBars eingelassen: männliche, gleichsam ineinander verschmelzende Körper beim Liebesspiel, passend zur glückseliglibertären Atmosphäre des Hauses. Dass die Skulptur aus einer farbigen, halbtransparenten Glukosekmasse besteht, so dass man sie – zumindest theoretisch – auch oral genießen könnte, komplettiert ihren kecken Auftritt hier.
Begehren ist der Schöpfer, Begehren ist der Zerstörer. Ohne Begehren zu Leben, bedeutet Frei zu sein.
Marrs Werk aber nur über seine zweifellos spektakuläre Intervention an diesem einen Ort zu definieren, wäre ein Missverständnis. Er deutet auf die beiden Figuren, mit denen die Figurenreihe im Berghain abschließt, und sagt, dass auch diese Arbeit eigentlich eine Geschichte erzählen solle, wie sich Lust in Liebe und inneres Loslassen verwandele. Eng umschlungen ruhen da zwei Körper in träumender Zweisamkeit wie eine Antithese zum wilden Treiben drumherum. Skulpturen aus farbigem Zuckerstoff beschäftigen den gebürtigen Australier bereits viel länger und unabhängig von Animationsanlässen. Seine Fähigkeit, mit seinen Figuren die Emotionen und das Begehren selbst als ein theatralischsymbolisches Spiel zu inszenieren und dabei gekonnt auf einer mitunter hauchdünnen Grenze zwischen High and Low, Affirmation und Entlarvung, Kitsch und Appropriation zu balancieren, wie es etwa ein Richard Prince oder Helmut Newton oder Jeff Koons vorgemacht haben, hat Marr zu einer eigenständigen künstlerischen Strategie weiterentwickelt.
In seinem Neuköllner Hinterhofatelier fühlt man sich fast in die Werkstatt eines Archäologen versetzt, der in Kartons und Regalen die antiken Scherben von Ausgrabungen aufbewahrt. Die stummen Antlitze aber, die einen hier weinrot oder bonbongelb ansehen, haben nichts von edler Einfalt und stiller Größe. Sie wirken mit ihrem gefrorenen Charme surrealistischer Figurinen so gegenwärtig, dass es sich um materialisierte Traumgebilde handeln könnte. Ihr Anblick befremdet und fasziniert unweigerlich. Marr besteht darauf, dass jede Person, die hier als Skulptur erscheint, tatsächlich existiert – beginnend mit einer Ex-Freundin, die das Modell für seinen ersten Versuch mit dem Glukoseguss darstellte: „Das sind keine Interpretationen von mir“, sagt Marr, „das sind eben ‚sie’“: Keine Re-Präsentationen, sondern Präsentationen von Menschen, wie sie sind, nur in einem anderen Medium. Bekannte, meist jedoch Zufallsbegegnungen und Kontakte aus dem Internet, die er in sein Atelier einlädt und mit einem 3 D‑Scanner in einer festgelegten Pose fotografiert, was je nach Situation eine ziemlich anstrengende oder intensive Erfahrung sein kann – wie im Fall der aus Liebesszenen männlicher Körper für die Skulptur im Berghain, die Marr in der Gleichzeitigkeit von Intimität und Inszenierung als existenzielle Erfahrung beschreibt.
Der auf die 3D-Scans folgende Werkprozess entspricht allerdings im Wesentlichen den Abläufen industrieller Fertigung, wie bei üblichen Werkstücken für Design- oder Ingenieurszwecke: Nach der Bearbeitung der 3D-Aufnahmen mit einem für Architektur ausgelegten Computerprogramm erstellt eine Firma anhand der Daten mit einer Spezialfräse ein Figurenmodell aus faserverstärktem Kunstholz, an dem Marr dann mit Silikon eine Gussform abnimmt. Diese lässt er im Potsdamer Katjeswerk mit Glukosemasse füllen, die nach ihrer Aushärtung abschließend mit einer Klarlackschicht haltbar gemacht wird. Zwei Jahre habe er gebraucht, um das Material zu verstehen, erzählt Marr. Am Ende verleihe eben nur Glukose der Farbe diesen goldenen Schimmer, dem seine Arbeiten ihre glorios-klebrige Aura verdanken.
Ursprünglich hatte er mit Malerei begonnen, als Jugendlicher von seinem Vater angeleitet, der selbst ein bemerkenswerter figurativer Maler war und ihn stets ermuntert hat. Nachdem es Joseph der Liebe wegen nach Deutschland verschlagen hatte, unternahm er 2008 einen radikalen Bruch mit seinem bis dahin eher konventionellen Malstil und widmete sich appropriativen Techniken. Seine Motive entnahm er nun den Massenmedien und dem Internet und setzte sie als Collagen aus Acrylglas mit Aluminium-Inlays oder auch als Lightbox um. Damit hatte er rasch Erfolg. Eher aus einer zufälligen Eingebung heraus kam ihm vor sechs Jahren die Idee für die skulpturalen Arbeiten – aus der zwiespältigen Erfahrung des Begehrens, das eine verführerische und verfängliche, eben „klebrige“ Seite an sich habe, wie er sagt.
Womit wir wieder beim spirituellen Hintergrund wären: Die so verführerische wie gleichzeitig distanzierte Wirkung seiner Figuren entspricht vielleicht doch jener eingeübten Notwendigkeit des inneren Loslassens, einer am Ende wiedererlangten Gelassenheit, die zwischenmenschlichen Erfahrungen den Glanz gelebter Träume verleiht.