Lesbare Fotos als Treibstoff für intelligente Zukunft

Interview mit Carlos Spottorno und Guillermo Abril

Die bei­den mit dem World Press Pho­to Award aus­ge­zeich­ne­ten Spa­ni­er Car­los Spott­or­no und Guil­ler­mo Abril befas­sen sich im Aus­stel­lungs­pro­jekt DIE VERWERFUNG mit dem Phä­no­men und der Geschich­te einer Gren­ze, die zwei Natio­nen und zwei Regio­nen – Öster­reich und Ita­li­en, Tirol und Süd­ti­rol – teilt. Ihre Ein­drü­cke und Erkennt­nis­se tei­len Spott­or­no und Abril in Form einer Gra­phic Novel, einer Erzähl­form in Bil­dern, wie sie in Comic­ro­ma­nen für Erwach­se­ne zu fin­den ist. Dabei bewe­gen sie sich an der Schnitt­stel­le von Jour­na­lis­mus, Lite­ra­tur und Foto­kunst und ver­wan­deln das Inns­bru­cker BTV Stadt­fo­rum im Rah­men der Rei­he INN SITU unter der künst­le­ri­schen Lei­tung von Hans-Joa­chim Gögl in einen begeh­ba­ren Comic, der ein zwei­di­men­sio­na­les Road­mo­vie über jene Orte ist, die sie im Rah­men ihrer Recher­che besuch­ten. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der topo­gra­fi­schen, geo­lo­gi­schen und kul­tu­rel­len Bedeu­tung der öster­rei­chisch-ita­lie­ni­schen Gren­ze könn­te aktu­el­ler nicht sein. Des­halb haben wir Car­los und Guil­ler­mo wäh­rend ihrer Iso­la­ti­on in Madrid zu einem Inter­view gebeten.

In den ver­schie­de­nen Län­dern, die die EU bil­den, wis­sen wir sehr wenig von­ein­an­der. Wir ken­nen unse­re gemein­sa­me Geschich­te nicht, auch wenn es eine gemein­sa­me Geschich­te ist. 

Guil­ler­mo Abril, Journalist

Wie seid ihr zur Aus­drucks­wei­se der Gra­phic Novel gekom­men? Was sind die Vor­tei­le die­ses Stils durch die Kom­bi­na­ti­on von Foto­gra­fie und Text in Form von Geschichtenerzählen?

CARLOS S.: 2015 woll­te ich ein Buch mit Fotos machen, die ich wäh­rend mei­ner Repor­ta­gen mit Guil­ler­mo an den euro­päi­schen Außen­gren­zen für El País Sem­anal gemacht hat­te. Ich dach­te, dass ein tra­di­tio­nel­les Foto­buch nicht in der Lage wäre, ein all­ge­mei­nes Publi­kum anzu­spre­chen, also recher­chier­te ich über erfolg­rei­che visu­ell geschrie­be­ne Geschich­ten, die ich nach­emp­fin­den konn­te. Foto­ro­ma­ne wur­den schnell ver­wor­fen. Schließ­lich kam ich auf eini­ge wirk­lich gute Sach­buch-Gra­fik­ro­ma­ne wie „Maus”, „Per­se­po­lis”, „Der Foto­graf” oder „Pjöng­jang”, die mich ermu­tig­ten, eini­ge Sei­ten zu tes­ten. Nach­dem der visu­el­le Aspekt fest­ge­legt und eine Grund­struk­tur defi­niert war, bau­ten wir Sei­te für Sei­te auf, indem wir eine ent­wor­fe­ne Sequenz erstell­ten, auf der Guil­ler­mos Tex­te die Geschich­te zum Leben erweck­ten. Der grund­le­gen­de Vor­teil die­ser Art des Geschich­ten­er­zäh­lens besteht dar­in, dass fast jeder in der Lage ist, sich dar­auf zu bezie­hen. Es ist eine sehr ein­fa­che Art, kom­ple­xe Geschich­ten zu erzäh­len, ohne sie zu stark zu ver­ein­fa­chen. Es ist eine Spra­che, zu der sich vie­le Men­schen fast natür­lich hin­ge­zo­gen fühlen.

An wel­chen Pro­jek­ten habt ihr vor die­ser neu­en Gra­phic Novel gemein­sam gearbeitet?

GUILLERMO A.: Car­los und ich haben an allen mög­li­chen Pro­jek­ten gemein­sam gear­bei­tet: von der Recher­che in Län­dern, die sich im Krieg befin­den, bis hin zur Beob­ach­tung einer Welt­raum­ra­ke­te, die in Fran­zö­sisch-Gua­ya­na star­tet. Ich möch­te hin­zu­fü­gen, dass wir eini­ge der bes­ten Pro­jek­te unse­rer Kar­rie­re gemein­sam rea­li­siert haben. Zwi­schen 2013 und 2016 reis­ten wir wäh­rend der Flücht­lings­kri­se gemein­sam ent­lang der Außen­gren­ze der Euro­päi­schen Uni­on, von Afri­ka bis zur Ark­tis. Über meh­re­re Jah­re hin­weg unter­nah­men wir zahl­rei­che Rei­sen, die zu „La Grie­ta” (2016) führ­ten, einer Gra­phic Novel über die Kri­se der euro­päi­schen Iden­ti­tät inmit­ten der Flücht­lings­kri­se. 2019 erhiel­ten wir den Euro­päi­schen Pres­se­preis für die Repor­ta­ge „Pal­my­ra, die ande­re Sei­te” über den Krieg in Syri­en, die eben­falls in Form einer Gra­phic Novel in El País Sem­anal und im Maga­zin der Süd­deut­schen Zei­tung ver­öf­fent­licht wurde.

Gibt es bestimm­te Inspi­ra­ti­ons­quel­len, die Sie bei­de nut­zen, um Ihre Krea­ti­vi­tät herauszufordern?

GUILLERMO A.: In mei­nem Fach­ge­biet – dem Jour­na­lis­mus – ist mei­ne bevor­zug­te Inspi­ra­ti­ons­quel­le das US-Maga­zin The New Yor­ker, das mei­nen Geist immer wie­der mit neu­en Ansät­zen und Arten, die Rea­li­tät zu erzäh­len, öff­net. Der Repor­ter Ris­zard Kapu­scin­ski, des­sen Bücher ich wider­keh­rend lese, gibt mir immer wie­der Anre­gun­gen. Er geht meis­ter­haft mit der Erzäh­lung der mit der Geschich­te ver­floch­te­nen Gegen­wart um. Aber jeder Bereich kann mich inner­lich etwas bewe­gen: vom Film bis zur Poe­sie, vom Thea­ter bis zum Essay. Ich lese ger­ne die Klas­si­ker: Homer, Moby Dick, Don Qui­jo­te. In ihnen suche ich nach dem Uni­ver­sa­len in den Geschich­ten. Und in allen von ihnen, und das deckt sich mit einem der Schwer­punk­te mei­ner Arbeit, steht die Rei­se im Mit­tel­punkt der Geschich­te. Es ist wahr­schein­lich etwas, das mit unse­ren wan­dern­den Ursprün­gen zu tun hat. Wir alle sind Söh­ne von Migran­ten und Reisenden.

CARLOS S.: Mein Vater war Diplo­mat und mei­ne Mut­ter plas­ti­sche Künst­le­rin. Ich habe Male­rei stu­diert und dann eine Zeit lang als Art Direc­tor in der Wer­be­bran­che gear­bei­tet. Die­se Kom­bi­na­ti­on von Umstän­den mach­te mich neu­gie­rig auf die Dyna­mik und Logik der Welt in Bezug auf Wirt­schaft und Poli­tik, wobei ich beson­ders auf die Art und Wei­se ach­te­te, wie die Geschich­ten erzählt wer­den. Ich lese alle mög­li­chen Bücher und Zeit­schrif­ten, aber die Geschich­te ist mei­ne Haupt­quel­le der Inspi­ra­ti­on. Der Anblick von Velaz­quez‘ „Las Meni­nas”, „Die Welt von ges­tern” von Ste­fan Zweig oder ein Besuch in Pom­pe­ji sind die Art von Erleb­nis­sen, die mei­ne Phan­ta­sie anregen.

Für INN SITU habt ihr an der Gren­ze zwi­schen Öster­reich und Ita­li­en gear­bei­tet. Wel­che Erkennt­nis­se habt ihr gewonnen?

GUILLERMO A.: Als ich ver­schie­de­ne Orte ent­lang der öster­rei­chisch-ita­lie­ni­schen Gren­ze besucht habe, bin ich wie­der auf etwas gesto­ßen, das mich auf mei­nen Rei­sen ent­lang der Außen­gren­ze der Euro­päi­schen Uni­on bewegt hat: In den ver­schie­de­nen Län­dern, die die EU bil­den, wis­sen wir sehr wenig von­ein­an­der. Wir ken­nen unse­re gemein­sa­me Geschich­te nicht, auch wenn es eine gemein­sa­me Geschich­te ist. Außer­dem wird die­se Geschich­te wider­sprüch­lich, weil sie uns in jedem Land in einem natio­na­len Schlüs­sel gelehrt wird. So sind unse­re spa­ni­schen Köni­ge Spa­ni­er, und für die Öster­rei­cher sind sie Öster­rei­cher, auch wenn sie, wie man in der Hof­kir­che ent­de­cken kann, die­sel­ben Köni­ge, das­sel­be Reich waren, durch Hei­rat ver­eint. Ich glau­be, dass wir die gemein­sa­me euro­päi­sche Bil­dung stär­ken müs­sen, nicht auf natio­na­ler Ebe­ne. Gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis wäre ein gro­ßer Schritt zur Einheit.

CARLOS S.: Dies ist ein Gespräch, das wir vie­le Male im Rah­men die­ses Pro­jekts und sogar schon vor­her geführt haben: Es ist unmög­lich, ein geein­tes Euro­pa auf­zu­bau­en, wenn wir der natio­na­len Geschich­te wei­ter­hin Vor­rang vor der euro­päi­schen Geschich­te ein­räu­men. Es ist auch auf­fal­lend, wie sehr der Auf­bau einer natio­na­len Iden­ti­tät auf mili­tä­ri­schen Errun­gen­schaf­ten und Cha­rak­te­re beruht. Nicht nur in Öster­reich und Ita­li­en: Es ist in jedem Land genau dasselbe.

Die Bild­spra­che hat in den letz­ten Jah­ren enorm an Bedeu­tung gewon­nen, auch durch sozia­le Medi­en. Was ist euch wich­tig, wenn ihr mit Bil­dern kom­mu­ni­ziert? Wie ent­schei­det ihr, wel­ches Foto das rich­ti­ge ist?

CARLOS S.: Ich hal­te an der Idee fest, dass man, wenn man inter­es­san­te Fotos machen will, vor inter­es­san­ten Din­gen ste­hen muss. Ich foto­gra­fie­re jedes Foto, als ob es auf der Titel­sei­te der New York Times erschei­nen wür­de, und ich füh­re über das, was ich foto­gra­fie­re, Buch, weil ich weiß, dass ich irgend­wann eine Sequenz machen muss. Ich möch­te, dass mei­ne Fotos les­bar sind. Ich ver­su­che, ein­fa­che Rah­men zu machen, in denen die ent­schei­den­den Infor­ma­tio­nen nicht unbe­merkt blei­ben und nicht durch uner­wünsch­te Prä­sen­zen gestört wer­den. Eine comic­ar­ti­ge Geschich­te hängt von der Koexis­tenz meh­re­rer Infor­ma­ti­ons­ebe­nen ab: die Geschich­te an der Basis, die Fotos, die Sequenz, die Text­bo­xen, der Text selbst… er ist bereits voll­ge­packt mit Infor­ma­tio­nen, des­halb müs­sen die „Roh­fo­tos“ so les­bar wie mög­lich sein. Ich arbei­te irgend­wie wie ein Kame­ra­mann bei einem Film: Wäh­rend der Dreh­ar­bei­ten behal­te ich die end­gül­ti­ge Geschich­te im Kopf. Ich suche nach star­ken Fotos, aber ich schie­ße auch „B‑Roll“, damit ich flie­ßen­de Über­gän­ge machen kann.

Die bei­den Spa­ni­er ver­wan­deln die INN SITU Aus­stel­lung in einen begeh­ba­ren Comic.
Car­los Spott­or­no und Guil­ler­mo Abril im Gespräch mit Tho­mas Klap­fer, Bür­ger­meis­ter von Franzensfeste.
Fran­zis­ka Geis­lers Fami­lie betreibt das Krimm­ler Tau­ern­haus an der öster­rei­chi­s­chi­ta­lie­ni­schen Grenze.

Die Gren­ze zwi­schen Nord­ti­rol und Süd­ti­rol ist his­to­risch und auch heu­te noch ein für man­che Men­schen hoch­bri­san­tes The­ma. Habt ihr euch ein­ge­hend mit der Geschich­te befasst und hat­tet ihr Gele­gen­heit, mit Zeit­zeu­gen zu sprechen?

GUILLERMO A.: Unser Ansatz war eher der eines Chro­nis­ten als der eines His­to­ri­kers. In die­sem Sin­ne sind wir nicht zu tief in die Geschich­te der Gren­ze ein­ge­drun­gen. Aber wir haben ver­schie­de­ne Per­so­nen befragt, die uns von kom­pli­zier­te­ren Zei­ten erzählt haben, in denen zum Bei­spiel deutsch­spra­chi­ge Bür­ger und ihre Nach­kom­men in Ita­li­en ver­folgt wur­den. Ich erin­ne­re mich an eine ita­lie­ni­sche Uni­ver­si­täts­for­sche­rin deutsch­spra­chi­ger Her­kunft, die uns die Geschich­te ihres Groß­va­ters erzähl­te: Er ergriff die „Opti­on“ und trat wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs in die deut­sche Nazi-Armee ein, deser­tier­te dann und kehr­te in sein Dorf zurück. Die Enke­lin zeig­te uns das Haus der Fami­lie, in dem zu Mus­so­li­nis Zei­ten eine Kata­kom­ben­schu­le unter­ge­bracht war. Die­ses Haus ist heu­te eine Tou­ris­ten­un­ter­kunft. Mei­ner Mei­nung nach spie­gelt und sym­bo­li­siert die­se Ver­än­de­rung den Wan­del, den die Regi­on durch­ge­macht hat: Heu­te ist die Grenz­fra­ge im All­ge­mei­nen eine gere­gel­te Ange­le­gen­heit. Natür­lich kann jedes Gleich­ge­wicht ver­bes­sert wer­den. Aber ich wür­de sagen, dass es ein Gleich­ge­wicht gibt.

CARLOS S.: Unser Wis­sen über die Regi­on war vor Beginn des Pro­jekts ziem­lich ober­fläch­lich, aber es braucht nicht all­zu viel, um die grund­le­gen­den Fak­ten zu erfas­sen, wenn man Quel­len aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven liest. Als Euro­pä­er, die sich seit eini­ger Zeit mit der Geschich­te euro­päi­scher Men­schen beschäf­ti­gen, glau­ben wir, dass wir in der Lage sind, eini­ge grund­le­gen­de Dyna­mi­ken zu ent­schlüs­seln. Aber wir kom­men nicht als Exper­ten hier­her. Wir haben uns die­sem Unter­fan­gen als Ent­de­cker gestellt, als Men­schen, die bereit sind, durch Erfah­run­gen aus ers­ter Hand zu ler­nen; denn es sind die klei­nen Details, die man manch­mal durch gut eta­blier­te Erzäh­lun­gen durch­schau­en kann. Erst durch die Reak­ti­on der Men­schen auf Fra­gen von Ange­sicht zu Ange­sicht weiß man, wie heiß ein The­ma ist. Wir waren über­rascht zu sehen, dass die Ruhe in Nord- und Süd­ti­rol weni­ger ruhig ist, als wir erwar­tet hatten.

Der Blick von außen auf eine sol­che Gren­ze ist eine Berei­che­rung für die Regi­on. Wel­ches Gefühl ver­bin­det ihr mit die­ser Grenze?

GUILLERMO A.: Die­se Gren­ze ist geschichts­träch­tig, eine oft tra­gi­sche Geschich­te, wie es in fast allen Ecken der Euro­päi­schen Uni­on der Fall ist. Wäh­rend ich ent­lang die­ser Gren­ze reis­te, hat­te ich das Gefühl, dass die­se Tra­gö­die durch einen Geist der Zusam­men­ar­beit und Brü­der­lich­keit zwi­schen den ver­schie­de­nen Natio­nen, Regio­nen und Völ­kern Euro­pas über­wun­den wur­de. Oder zumin­dest durch eine fried­li­che Koexis­tenz. In die­sem Sin­ne wirkt die Gren­ze zwi­schen Öster­reich und Ita­li­en wie eine Meta­pher für die EU. CARLOS S.: Als ein Mensch, der von Ästhe­tik und gutem Geschmack tief bewegt ist, ver­bin­de ich mit die­ser Regi­on Schön­heit, Fried­fer­tig­keit und gutes Manage­ment. Alles hier sieht gut aus und ist gut erhal­ten. Von den kolos­sa­len alpi­nen Land­schaf­ten bis hin zu den klei­ne­ren Details in jedem her­ge­stell­ten Objekt. Die­ser Ort stellt einen uni­ver­sel­len Kanon dafür dar, wie das Leben für jeden Men­schen aus­se­hen soll­te. Aus his­to­ri­scher Sicht ist dies ein­deu­tig einer jener Orte, an denen vie­le sehr mäch­ti­ge Ener­gien auf­ein­an­der tref­fen. Die öster­rei­chisch-ita­lie­ni­sche Gren­ze ist heu­te ein Vor­bild dafür, wie Geschich­te über­wun­den und in Treib­stoff für den Auf­bau einer intel­li­gen­te­ren gemein­sa­men Zukunft ver­wan­delt wer­den kann.

In einem funk­tio­nie­ren­den Euro­pa soll­ten Gren­zen kei­ne gro­ße Rol­le mehr spie­len – aber sie spie­len immer noch eine Rol­le. Im Moment ist dies noch deut­li­cher zu spü­ren. Was ist eure per­sön­li­che Visi­on für Europa?

GUILLERMO A.: Ich glau­be, dass Euro­pa eines der größ­ten und bes­ten Frie­dens­ex­pe­ri­men­te in der Geschich­te der Mensch­heit ist, eine Errun­gen­schaft, die erst nach der gro­ßen Tra­gö­die in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts mög­lich war. Aber mit jeder Kri­se tau­chen Grenz­strei­tig­kei­ten und Miss­trau­en zwi­schen den Län­dern wie­der auf. So gesche­hen mit der Finanz­kri­se von 2008, mit der Flücht­lings­kri­se, und jetzt wäh­rend der Pan­de­mie tau­chen die Span­nun­gen wie­der auf. Die­se glo­ba­le Pan­de­mie muss uns eines leh­ren: Wir kön­nen ihr nur in einer koor­di­nier­ten Wei­se zwi­schen den Län­dern begeg­nen. Wir sind in die­sem 21. Jahr­hun­dert so mit­ein­an­der ver­bun­den, dass wir die Pro­ble­me nur gemein­sam ange­hen kön­nen. Nur wenn es unse­rem Nach­barn gut geht, kann es uns gut gehen.

CARLOS S.: Euro­pa, und ins­be­son­de­re die EU, ist wohl das sozi­al fort­schritt­lichs­te poli­ti­sche Gre­mi­um, das die Welt kennt. Euro­pa hat im Lau­fe sei­ner tau­send­jäh­ri­gen Geschich­te alle mög­li­chen poli­ti­schen Orga­ni­sa­ti­ons­for­meln aus­pro­biert: das alte Römi­sche Reich, König­rei­che, Stadt­staa­ten, Fürs­ten­tü­mer, Regio­nal­staa­ten, regio­na­le Rei­che und schließ­lich die heu­ti­gen Staa­ten. Die EU wur­de mit dem lang­fris­ti­gen Ziel gebo­ren, die­sen Sta­tus quo zu über­win­den und die­se natio­na­len Gren­zen auf­zu­wei­chen. Die Her­aus­for­de­run­gen, denen wir uns für die Zukunft stel­len müs­sen, sind glo­bal: Umwelt- und Gesund­heits­fra­gen, bahn­bre­chen­de Tech­no­lo­gien und der dar­aus resul­tie­ren­de Bedarf an einem neu­en Wirt­schafts­sys­tem wer­den die gesam­te koope­ra­ti­ve Intel­li­genz erfor­dern, zu der wir in der Lage sind. Aus mei­ner Sicht soll­te Euro­pa auf sei­nem Weg zu einer poli­ti­sche­ren Uni­on muti­ger sein.

Wie habt ihr die­ses Gesamt­pro­jekt für INN SITU erlebt? Es ist ein völ­lig neu­er Ansatz, den die­ses Pro­jekt den Künst­lern bie­tet, auch in Bezug auf den inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansatz.

CARLOS S.: Es war eine sehr berei­chern­de Erfah­rung. Nach­dem die Grund­la­ge für das Pro­jekt gelegt war, haben wir in völ­li­ger Frei­heit gear­bei­tet, um die Geschich­te und die Aus­stel­lung nach unse­ren künst­le­ri­schen Plä­nen zu pro­du­zie­ren. Ich moch­te die Her­aus­for­de­rung, eine Geschich­te über ein The­ma zu schrei­ben, das ich fast von Grund auf erfor­schen muss­te, sehr. Was den inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansatz betrifft, so lie­be ich die Idee, das, was ich tue, aus einem Blick­win­kel zu betrach­ten, der mei­nen Fähig­kei­ten fremd ist.

Was erwar­tet ihr bei­de euch von der Zukunft? Der Kunst- und Kul­tur­sek­tor ist von der Pan­de­mie schwer getrof­fen wor­den, und wie es aus­sieht, sicher­lich langfristig.

GUILLERMO A.: Ich ken­ne die Kunst­welt nicht sehr gut, sie ist nicht mei­ne Domä­ne. Ich weiß, dass es kurz­fris­tig schwie­rig sein wird, zum vor­he­ri­gen Moment zurück­zu­keh­ren, denn Kunst hat eine mensch­li­che Kom­po­nen­te und ist eine sozia­le Erfah­rung. Wegen der Angst vor Anste­ckung und der not­wen­di­gen Sicher­heit kann das lan­ge dau­ern. Gleich­zei­tig glau­be ich aber auch, dass die Kunst von Ange­sicht zu Ange­sicht uner­setz­lich ist. Und dass sie des­halb irgend­wann zurück­keh­ren wird. Was die Zukunft betrifft, die vor uns liegt, so glau­be ich, dass jede Kri­se Über­gän­ge und Ver­än­de­run­gen beschleu­nigt. Und ich habe das Gefühl, dass wir auf eine Welt pre­kä­rer Arbeits­be­zie­hun­gen zusteu­ern, eine „über­höh­te“ Welt, in der der Pass nicht mehr nur sagt, woher man kommt, son­dern auch zu einem Gesund­heits­pass wird, in dem unse­re Mobil­te­le­fo­ne dazu die­nen, zu beschei­ni­gen, wo wir sind, mit wem wir zusam­men sind und was wir tun. Wo es sehr wich­tig sein wird, wer die Algo­rith­men kon­trol­liert. Wo die sozia­le Kluft zwi­schen den­je­ni­gen, die Tele­ar­beit leis­ten kön­nen, und den­je­ni­gen, die wei­ter­hin von Ange­sicht zu Ange­sicht arbei­ten müs­sen, akzen­tu­iert wird. Eine Welt, in der die Tech­no­lo­gie so mäch­tig gewor­den ist, dass sie digi­ta­le Dik­ta­tu­ren unter­stüt­zen kann. Das Poten­zi­al ist vor­han­den. Es ist eine Zukunft, die unse­re Gesell­schaf­ten vor neue Her­aus­for­de­run­gen stel­len wird. Ich glau­be nicht, dass sie uns in eine bes­se­re Welt füh­ren wird als die, die wir vor­her hatten.

CARLOS S.: Die Kunst­welt ist ein Spie­gel­bild des Lebens selbst: extrem ungleich und auf akzep­tier­ten Kon­ven­tio­nen basie­rend. Auf der einen Sei­te ist die Aris­to­kra­tie der Kunst, die über dem Boden schwebt. Auf der ande­ren Sei­te gibt es die Arbei­ter­klas­se der Kunst, die von Sti­pen­di­en und kom­mer­zi­el­len Arbeits­plät­zen lebt. Ich habe in mei­ner Arbeit immer Gren­zen über­schrit­ten, und ich sehe nicht, wie ich es anders machen könn­te. Ich höre vie­le Leu­te sagen, dass sie nicht „zurück zur Nor­ma­li­tät“ gehen wol­len, weil „nor­mal“ ganz falsch war. Ich tei­le einen Teil die­ses Kon­zepts. Von der Zukunft erwar­te ich, dass ich mein Ope­ra­ti­ons­feld erwei­tern wer­de. Ich wer­de ver­su­chen, immer mehr Erzähl­for­men zu erfor­schen, um über die gro­ßen The­men des Lebens zu spre­chen, und ich hof­fe, dass ich mit immer mehr Zuhö­rern in Ver­bin­dung tre­ten kann.

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