Existenz. Zeugnis des Individuellen im Universellen

Wenn die Besucher*innen den Ein­gang des Felix-Nuss­baum-Hau­ses durch die schwe­re Eisen­tür betre­ten, die sich auto­ma­tisch öff­net, um dann mit einem schwe­ren Don­nern zuzu­fal­len, fin­den sie sich in einem dunk­len, schma­len Gang von gro­ben, rau­en Beton­wän­den wie­der. Nach weni­gen Schrit­ten in der Enge fällt Licht durch ein tür­ho­hes Fens­ter in die Düs­ter­nis. Durch die­ses bli­cken sie in den Raum der Gegen­wart, in dem sich die Instal­la­ti­on „Exis­tenz“ von Bri­git­te Wald­ach in die Dani­el-Libes­kind-Archi­tek­tur legt.

Wie ein Bild rahmt das Fens­ter einen Aus­schnitt der Instal­la­ti­on als Pro­log zur künst­le­ri­schen Inter­ven­ti­on: Im obe­ren Drit­tel des Recht­ecks wer­den schräg im Raum ver­lau­fen­de rote Lini­en sicht­bar, deren Anfangs- und End­punkt aus die­ser Per­spek­ti­ve unklar sind. Dahin­ter zieht der von Dani­el Libes­kind errich­te­te Raum mit sei­nen in Sack­gas­sen füh­ren­den Wän­den in die Tie­fe. Im Vor­der­grund steht ein Wort geschrie­ben: Exis­tenz. Im Hin­ter­grund, auf dem Fens­ter, das sich im Raum zur Natur öff­net, fin­det sich ein wei­te­rer Begriff: Welt. Dar­un­ter ein Satz: „Der Mensch ist absicht­lich so ein­ge­rich­tet, um das nicht zu sehen, was er nicht sehen soll.“

Por­trät Bri­git­te Wald­ach © Mart Engelen

Bereits an die­ser Stel­le wird in der klu­gen Ver­schrän­kung von Innen und Außen, von Vorder‑, Mit­tel- und Hin­ter­grund neben der Viel­schich­tig­keit der Instal­la­ti­on eben­so Waldachs Inter­es­se an dem Raum bild­lich. Im Ate­lier befragt Wald­ach auf Papier, mit­un­ter auf wand­fül­len­den For­ma­ten, die Facet­ten von (Bild-)Raum: den land­schaft­li­chen, archi­tek­to­ni­schen oder auch den unend­li­chen Raum des Uni­ver­sums; in ihren Raum­zeich­nun­gen ver­lässt sie die Flä­che und ver­spannt Bän­der für die drit­te Dimen­si­on, wo sie unter Ein­be­zug von Sound auch sinn­lich mul­ti­di­men­sio­nal arbei­tet und einen Wahr­neh­mungs- und Erfah­rungs­raum erschafft.

Beim Betre­ten des Rau­mes der Gegen­wart wird der Ursprung der Linea­tur sicht­bar: ein raum­ho­hes Objekt mit Fens­tern, aus des­sen Inne­rem es inten­siv rot strahlt. Die fest­in­stal­lier­te, von Libes­kind ent­wor­fe­ne Vitri­ne wur­de von der Künst­le­rin ins Zen­trum ihrer Instal­la­ti­on gerückt.

Neben den Punk­ten, aus wel­chen die Lini­en aus der Wand tre­ten, sind Orte zu lesen: Ber­lin, Brüs­sel, Rom, Ost­ende, Saint Cyprien und wei­te­re. Nur eine der vie­len Lini­en führt von der Wand zur Decke und schlägt dann senk­recht in den Boden ein. Sie ent­springt dem Geburts­ort Felix Nuss­baums: Osna­brück. Der Blick in die Vitri­ne zeigt auf deren Rück­wand einen Block von Jah­res­zah­len, die mit 1904 begin­nen und mit 1944 enden, die Lebens­da­ten Nuss­baums. Hier neh­men die Lini­en ihren Anfang. Hin­ter 1944 setzt eine chif­fre­ar­ti­ge Zah­len­kom­bi­na­ti­on den Schluss­punkt: XXVI/284/285. Die Ver­bin­dung von Jah­res­zah­len und Orten durch die gespann­ten roten Bän­der ver­räum­licht die Bio­gra­phie Nuss­baums. Aus der Viel­zahl der Städ­te, an denen Felix Nuss­baum gelebt hat – zuerst frei­wil­lig in Ham­burg oder Ber­lin, ab 1933 im Exil und auf der Flucht zum Bei­spiel in Ost­ende, Paris oder Brüs­sel – ent­steht eine Kar­to­gra­phie, die sich über die Wand in den Raum fortführt.

Die roten Lini­en enden in der gegen­über­lie­gen­den spit­zen Ecke des Libes­kind-Rau­mes, wo sie sich zu einem Drei­eck ver­dich­ten. Das Drei­eck ist neben dem Hexa­gramm und dem Pen­ta­gramm eines der auf weni­ge Stri­che redu­zier­ten Sym­bo­le in der Instal­la­ti­on, das vie­le Bedeu­tun­gen trägt. Mit der Spit­ze nach unten steht es für das Femi­ni­ne, für Mate­rie oder das exis­ten­zi­el­le Ele­ment Was­ser. Auch war es das Sym­bol, das Häft­lin­ge in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern kenn­zeich­ne­te. In die­ser Ecke begeg­net man den Num­mern XXVI/284 und XXVI/285 wie­der – es sind die Depor­ta­ti­ons­num­mern von Felix Nuss­baum und sei­ner Ehe­frau Fel­ka Pla­tek. Eine Män­ner­stim­me erklingt: „Ist man nicht eigent­lich immer ein­sam?“, „Glau­ben Sie ja nicht, dass Frem­de Hei­mat ist“, „Ob hier oder dort – ohne Echo zu schaf­fen ist bedrü­ckend“. Einem inne­ren Dia­log ver­gleich­bar sind Nuss­baums Gedan­ken, die er in Brie­fen aus dem Exil schrieb, in der Ecke hörbar.

Auf dem Weg zu dem Gedicht von Hei­ner Mül­ler wird man auf eine drit­te Hör­sta­ti­on auf­merk­sam. Gespro­che­ne Zita­te aus Nuss­baums Brie­fen quel­len aus der ange­lehn­ten Tür der Vitri­ne. Sie wer­den über­la­gert von kaum wahr­nehm­ba­ren Sät­zen, nur noch ein­zel­ne Wor­te sind aus den Gedan­ken und Refle­xio­nen extra­hier­bar. Hier ver­mi­schen sich Nuss­baums Aus­sa­gen mit denen Wal­ter Ben­ja­mins und Franz Kaf­kas, so dass eine akus­ti­sche Text­wol­ke ent­steht, der man in schrift­li­cher Form in Waldachs Zeich­nun­gen begeg­net. Ein­zel­ne Sät­ze der Sound­col­la­ge spie­geln sich auf den Wän­den wider: „[…]plötz­lich fängt der Raum an zu stot­tern. … wird unsi­che­rer Grund.“

Sound und Text sind leit­mo­ti­visch in Waldachs Instal­la­tio­nen. Die Stim­men bin­den die von Lini­en durch­schnit­te­ne Archi­tek­tur, ver­dich­ten sie zu einem Gedan­ken­raum. Mit dem Sound navi­giert Wald­ach die Per­so­nen im Raum in die ver­schie­de­nen Rich­tun­gen. Die lei­se gespro­che­nen Wor­te zie­hen in die sack­gas­sen­ähn­li­chen Ecken hin­ein, wo die Enge kör­per­lich bedrängt. „Dead ends“ sind in der Archi­tek­tur­spra­che Dani­el Libes­kinds ein wie­der­keh­ren­des Stil­mit­tel: Im Ber­li­ner Jüdi­schen Muse­um endet die Ach­se des Holo­caust in einem lee­ren, kal­ten, nur durch einen schma­len Licht­schlitz beleuch­te­ten Turm. Im Felix-Nuss­baum-Haus, dem „Muse­um ohne Aus­gang“, ver­lau­fen sich Besucher*innen in spitz zulau­fen­den Ecken, Gän­ge enden vor einer Wand; als „Irr­weg“ (FAZ) wird das Muse­um emp­fun­den, das „Klaus­tro­pho­bie“ (Rhei­ni­scher Mer­kur) erzeu­ge. Einen Rund­gang gibt es nicht, am Ende heißt es umkehren.

Im Raum der Gegen­wart füllt Bri­git­te Waldachs Idee der „Exis­tenz“ die Lee­re, die das archi­tek­to­ni­sche Prin­zip Dani­el Libes­kinds mit sich führt, als wür­de sie ein lan­ges Schwei­gen bre­chen; Wor­te, Lini­en, Far­be schei­nen das Frag­men­ta­ri­sche des Aus­stel­lungs­rau­mes zu ver­klam­mern. Eigen­stän­dig, doch im Ein­klang mit der Spra­che Libes­kinds passt die Inter­ven­ti­on wie ein Schlüs­sel in die Archi­tek­tur und öff­net sie. Waldachs Instal­la­ti­on spinnt die Geschich­te, die in den Räu­men gebor­gen ist, wei­ter. “Archi­tec­tu­ral space, as I see it, has to be part of the sto­ry it’s try­ing to com­mu­ni­ca­te. It’s not just a con­tai­ner to be fil­led; it’s part of the sym­bo­lism of the buil­ding. And the sym­bol trans­ports you bey­ond the mate­ri­al rea­li­ty and, in archi­tec­tu­re, toward that which lan­guage its­elf can­not ful­ly articulate.”

Nicht nur Libes­kinds Archi­tek­tur prä­gen tie­fen Fluch­ten, Sack­gas­sen oder ver­zerr­te For­men, genau­so ist die­ses gestal­te­ri­sche Prin­zip im Werk von Nuss­baum prä­sent, was eine inti­me Gegen­über­stel­lung von Wald­ach zeigt. An der engs­ten Stel­le der Archi­tek­tur, seit­lich von der Vitri­ne, schafft Wald­ach Raum für eine per­sön­li­che Betrach­tung zwei­er Wer­ke von Nuss­baum: Sie über­trägt das Selbst­bild­nis mit Juden­pass, um 1943, und Jaqui auf der Stra­ße, 1944, mit einer fei­nen, roten Linie auf die Wand und ver­spannt die ver­schie­de­nen Ebe­nen der bei­den Wer­ke mit roten Bän­dern: Auf einer ers­ten Ebe­ne ver­knüpft Wald­ach die per­spek­ti­vi­schen Flucht­punk­te der bei­den Wer­ke; auf einer zwei­ten ver­bin­det die Künst­le­rin die bei­den David­ster­ne der Ver­folg­ten; als drit­tes zie­hen Lini­en von den Ecken des bei Wald­ach lee­ren Juden­pas­ses zu den Ecken des Jaqui-Gemäl­des. Die Gegen­über­stel­lung wirft Fra­gen auf, die an das Leben und Werk von Nuss­baum gerich­tet sind und ihn als Men­schen und Künst­ler the­ma­ti­sie­ren: Wie ein Spie­gel ist der Aus­weis leer und pro­ji­ziert das Bild des Jaqui auf die gegen­über­lie­gen­de Sei­te als Befra­gung eige­ner Iden­ti­tät, wäh­rend Nuss­baums Augen den/die Betrach­ter*in aus dem Selbst­bild­nis anbli­cken und in den Dia­log ziehen.

Für die­sen neu­en Kon­text löst Wald­ach die bekann­ten Gesich­ter des Werks von Nuss­baum aus der ver­trau­ten Umge­bung. Dadurch kann selbst sein berühm­tes­tes Werk, das Selbst­bild­nis mit Juden­pass, neu ent­deckt wer­den. Statt wei­te­rer Figu­ren, die Wald­ach häu­fig in ihre Wer­ke ein­zeich­net, sind es im Felix-Nuss­baum-Haus die Betrachter*innen selbst, die sich als Zeu­gen der Gegen­wart durch die Raum­zeich­nung bewegen.

Als Teil der Instal­la­ti­on erle­ben sich die Men­schen im Raum beson­ders inten­siv im hin­te­ren Abschnitt. Hier span­nen sich auf der Rück­sei­te der Vitri­ne, von einem David­stern aus­ge­hend, schwar­ze und wei­ße Lini­en längs über eine Stre­cke von 15 Metern von Wand zu Wand, fächern sich auf, tref­fen auf die Wand, wer­den dort umge­lenkt, dre­hen sich, bün­deln sich am Fens­ter oder füh­ren als Linie in die Ecke.

Der David­stern ist seit dem Holo­caust Zei­chen der Ver­fol­gung und Unter­drü­ckung. In sei­ner Geschichte3 steht das Hexa­gramm auch für eine Ganz­heit, für das Zusam­men­füh­ren von Gegen­sät­zen. Es ver­eint das nach oben und das nach unten gerich­te­te Drei­eck und damit das Mas­ku­li­ne und das Femi­ni­ne, Feu­er und Was­ser, das Geis­ti­ge und die Mate­rie. Da das Hexa­gramm eine Gesamt­heit ver­kör­pert – die Alche­mie hat die­ses Sym­bol wegen des Zusam­men­schlus­ses aller vier Ele­men­te geschätzt – ist es auch Zei­chen für den Makro­kos­mos, für das Uni­ver­sum. Indem Wald­ach aus dem nach oben wei­sen­den Drei­eck wei­ße Bän­der ver­spannt und aus dem ande­ren schwar­ze, hebt sie die ori­gi­nä­re Bedeu­tung des Sym­bols und sei­ne Kraft hervor.

Die Kom­bi­na­ti­on der hel­len und dunk­len Strah­len, die über den Köp­fen hin und her sau­sen und an den Kör­pern vor­bei­zie­hen, mit dem abfal­len­den bzw. auf­stei­gen­den Boden von Dani­el Libes­kind ent­zieht dem Men­schen im Raum sei­ne Bezugs­punk­te, sodass ihn Schwin­del ergreift und er sich tas­tend durch den Raum bewegt – wie­der kommt Wal­ter Ben­ja­min in den Sinn: „[…] plötz­lich fängt der Raum an zu stot­tern. … wird unsi­che­rer Grund.“ Opti­schen Halt geben die roten Senk­rech­ten, die sich gegen den Sog der Mas­se stel­len, sich aus dem Gewe­be her­aus­lö­sen, um ver­ti­kal in den Boden ein­zu­drin­gen und den Men­schen zu ver­an­kern. So ist der rote Faden Zeug­nis des Indi­vi­du­el­len im Uni­ver­sel­len, ver­knüpft die Posi­tio­nen Felix Nuss­baum – Dani­el Libes­kind – Bri­git­te Wald­ach und führt den/die Betrachter*in durch Werk, Archi­tek­tur und zeit­ge­nös­si­sche Rezeption.

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geschrieben von

Von der Hamburger Kunsthalle wechselte Mechthild Achelwilm (*1982) Anfang 2018 nach Osnabrück, um dort als Kuratorin für zeitgenössische Kunst im Museumsquartier Osnabrück u. a. die Ausstellungsreihe „Gegenwärtig. Zeitgenössische Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum“ zu kuratieren. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Kunst/Kunstpädagogik und Philosophie an der Universität Osnabrück wurde Achelwilm am Kunsthistorischen Institut der Universität Osnabrück über „Das Phänomen ‚Femme fatale‘“promoviert

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