Er-Innerung ist Zukunft

Über Stille und Schweigen, Alleinsein und Einsamkeit

Ich lie­ge im Bett und bin wach, aber nichts in mir kann sich bewe­gen. Mei­ne Augen sind offen und starr, ich kann sie nicht schlie­ßen. Ich bin ver­dammt noch mal wach! – und ES IST STILL. Wie lan­ge schon hal­te ich inne? Habe ich die Luft zu lang ange­hal­ten? Wie kann mein Tag nur begin­nen? Wie­so bin ich so schwer und bewe­gungs­los? Ich könn­te doch ein­fach etwas tun. Irgend­et­was. Doch ich lie­ge still und regungs­los vor mich hin, und die Welt bewegt sich eben­so wenig wie ich in der Stil­le. Die Erde will sich nicht dre­hen, der Tag ver­wei­gert mir sei­nen Beginn, nimmt mich nicht mit, lässt mich allein.

Doch etwas scheint es zu geben, das mich in die­ser Stil­le erreicht, das mich angeht und mahnt, das sich küm­mert: Das bil­de ich mir nicht ein. Es muss so sein, denn ich ergrei­fe wie aus dem Nichts Zet­tel und Stift und begin­ne zu schrei­ben. Noch eben war ich gelähmt und gänz­lich gefan­gen in der Gewalt der Stil­le. Jetzt bemäch­ti­ge ich mich die­ser Gewalt und wer­de der Sou­ve­rän mei­ner Ein­sam­keit. Ich bin nicht mehr allein. Die Erde beginnt sich wie­der zu dre­hen: Ich schrei­be! Schwei­gen ist red­lo­ses Han­deln und erha­ben über die in ihrer Ver­zweif­lung schwat­zen­den anderen.

Schwei­gend erfährt man sich selbst wie auch den ande­ren in non­ver­ba­ler Kom­mu­ni­ka­ti­on. Wer dage­gen allein ist, der schweigt nicht, son­dern er wird von der Stil­le beherrscht. Um ihn ist es still. Man ist in der Stil­le ver­lo­ren. Wer aber schweigt, drückt sich aus. Nur wer schwei­gen kann, kann auch lie­ben. Im Schwei­gen erobert sich nicht sel­ten der innigs­te Schrei die Welt. Im Schwei­gen liegt das Geheim­nis der Selbst­ge­burt des Metatropisten.

Der Kern der Stil­le ist oft­mals Still­stand, das Ende alles Leben­di­gen, das in der Läh­mung beginnt und aus dem es kein Ent­rin­nen zu geben scheint. Stil­le ist der End­punkt, der Abbruch linea­rer Zeit­wahr­neh­mung. Schwei­gen aber ent­springt der Ewig­keit des Moments. Es ist der Geburts­ort des Neu­en. Das Schwei­gen hat sei­ne eige­ne Zeit und exis­tiert im Ereig­nis wahr­haf­ti­ger Lie­be. Allein-Sein bedeu­tet in der ohn­mäch­ti­gen Ver­zweif­lung der Stil­le zu leben.

Ein­sam­keit wird schwei­gend voll­zo­gen. Schwei­gen und Ein­sam­keit sind leben­dig und Grund­la­ge der Her­me­neu­tik des ande­ren. Sie sind die Grün­dungs­mo­men­te ver­ste­hen­der Ver­nunft und der Selbst­macht des Ein­zel­nen. Man ver­traut schwei­gend der Selbst­macht des ande­ren, weil man sei­ne Ein­sam­keit aner­kennt und ver­steht. Man beschützt den ande­ren in sei­ner Ein­sam­keit, weil man ihn liebt. Wir sind im Schwei­gen zusam­men, eben­so wie in unse­rer Ein­sam­keit. Allein aber wer­den wir nicht sein, denn wir sind uns des Einen gewiss: Es gibt dich, weil es mich gibt, und es gibt mich nur durch dich. Und oft wis­sen wir nicht kon­kret: Bin ich du? Bist du ich?

Ein­sam­keit ist ein Exis­ten­zi­al künst­ler­phi­lo­so­phi­schen Seins, ewig getrie­ben von sei­ner per­spek­tiv­ge­ben­den Sehn­sucht. Emprak­tisch erfah­ren wir in unse­rer Ein­sam­keit ech­te Selbst­macht. Im Allein-Sein dage­gen haben wir Furcht vor allem und jedem. Im Allein­sein erlei­den wir unzäh­li­ge Tode: die Angst, ver­las­sen zu wer­den, die Angst zu schei­tern, die Angst, nicht wirk­lich geliebt zu wer­den. Wer allein ist, wird nicht geliebt.

Wer ein­sam sein kann, ist mutig, weil er weiß, dass er geliebt wird. Er hat es nicht nötig, um Lie­be zu feil­schen, denn er ist sich ihrer gewiss. Wer wahr­haf­tig geliebt wird, wird immer geliebt blei­ben und nie­mals allein sein. Im Schwei­gen liegt die­ser Lie­be Macht. Sie ist bedin­gungs­los. Unwi­der­ruf­lich. Sie hat sich über Leben und Tod ermäch­tigt und nimmt so kein Ende. Sie weiß nichts von Anfang und Ende. Sie ist das Seyn – dei­nes und mei­nes zugleich. Wir SYND, weil die Lie­be IST und sie IST, weil wir SYND. In der Empra­xis gelun­ge­nen Schwei­gens liegt die Erfül­lung der Sehn­sucht voll­ende­ter Liebe.

Kon­stan­ze Caysa und Vol­ker Caysa († 3. August 2017)
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Künstlerphilosophin. Sie promovierte zum Thema: „Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie“. Lehre seit 2006 an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Darunter: Philosophisches Institut der Universität Leipzig, Hochschule für Grafik und Buchkunst zu Leipzig, Kulturwissenschaftliches Institut der Uni Leipzig, Germanistische Institute der Universitäten Lodz, Piliscisiaba/Budapest und Sydney/Australien. Außerdem hielt sie Vorlesungen und Seminare vom WS 2012/13 – WS 2013/14 als Juniorprofessorin (i.V.) an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig. Kolumnistin der Leipziger Zeitung seit 2015. Mitglied des kulturwissenschaftlichen Beirates Klinikum Bremen Ost. Von 2002 bis 2010 war sie Vorstandsmitgleid der Nietzsche Gesellschaft e.V.. Wichtigste Publikationen: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Nietzsche – Macht – Größe (De Gruyter), Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Experimente des Leibes (Peter-Lang-Verlag 2008), Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie (2011), Askese als Verhaltensrevolte (2015), Denken des Empraktischen (2016). www.empraxis.net. Foto © Hagen Wiel

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