Veranlasst zur Aufarbeitung rassistischer Verfolgung
DER NACHLASS DES DEUTSCHEN KUNSTHÄNDLERS UND MUSEUMSMANNES HILDEBRAND GURLITT (1895–1956) WAR IN DEN MEDIEN ZUNÄCHST ALS VERSCHOLLENER NAZI-SCHATZ BEKANNT GEWORDEN. NACH KURZER ZEIT GING ES ALLERDINGS UM GANZ ANDERE FRAGEN: WOHER STAMMEN DIESE KUNSTWERKE? UNTER WELCHEN UMSTÄNDEN HATTE GURLITT SIE ERWORBEN? WIE KONNTE EIN FACHLEUTEN ZUMINDEST TEILWEISE BEKANNTER BESTAND AN KUNSTWERKEN NACH DEM TOD HILDEBRAND GURLITTS IM NOVEMBER 1956 EIN SCHATTENDASEIN FÜHREN?
Heute wissen wir: Der „Kunstfund Gurlitt“ besteht aus mehr als 1.500 Kunstwerken, die sich im Besitz von Cornelius Gurlitt (1932–2014), dem Sohn Hildebrand Gurlitts, befunden haben. In dessen Münchner und Salzburger Wohnungen wurden die Werke seit November 2012 aufgefunden. Cornelius Gurlitt setzte die Stiftung Kunstmuseum Bern überraschend als Alleinerbin ein und vermachte dem Museum damit einen umfangreichen Bestand an Kunstwerken aus dem Nachlass seines Vaters. Auf die Frage, warum das Kunstmuseum Bern die vorwiegend in den 1930er und 1940er Jahren erworbenen Werke erhielt, gibt es keine eindeutige Antwort, lediglich verschiedene Spekulationen. Allerdings verbanden die Gurlitts mit Bern geschäftliche Kontakte zu Galerien und Auktionshäusern.
Mit dem Kunstfund tauchten vor allem zahlreiche Werke von Künstlern auf, die das NS-Regime als „entartet“ diffamiert hatte und über deren Standort infolge der Beschlagnahmungen aus deutschen Museen lange Zeit Unsicherheit bestand. Im Kunstfund dominieren Arbeiten auf Papier, d.h. Gouachen, Aquarelle, Farbholzschnitte, Zeichnungen und Druckgrafiken. Der überlieferte Bestand erlaubt Rückschlüsse auf die Kunstregionen und Strömungen, die Hildebrand Gurlitts Kunstverständnis prägten, und dokumentiert seine Vorlieben und Interessen als Sammler. Künstlerisch sozialisiert wurde Gurlitt durch die Berliner Moderne, die Künstlerinnen und Künstler der Sezession um Max Liebermann und Lovis Corinth. Den größten Raum nehmen jedoch die modernen Bewegungen ein, die in Hildebrand Gurlitts Heimatstadt Dresden ihren Ursprung hatten: die Künstlergruppe Brücke, Künstler der Neuen Sachlichkeit und des Verismus, vor allem Otto Dix, aber auch George Grosz und Max Beckmann.
Der „Kunstfund“ lenkte ein weiteres Mal die Aufmerksamkeit auf Fragen nach der Geschichte des Handels mit Kunst in einer Diktatur und der daraus resultierenden Verantwortung der Akteure, zu denen Hildebrand Gurlitt als staatlich bevollmächtigter „Verwerter“ der beschlagnahmten Werke „entarteter“ Kunst und Einkäufer für das „Führermuseum“ in Linz zählte.
Mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ – Beschlagnahmt und verkauft“ machte das Kunstmuseum Bern die Sammlung von November 2017 bis März 2018 zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich. Dem Museum war es ein Anliegen, die Instrumentalisierung der Kunst durch ein Unrechtsregime zu thematisieren und den staatlich organisierten Raub von Kunst- und Kulturgut als Bestandteil der politischen wie rassistischen Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen in Deutschland und in den besetzten Gebieten zu veranschaulichen. Die Beschlagnahme von mehr als 20.000 Gemälden, Skulpturen und Grafiken aus deutschen Museen in der Aktion „Entartete Kunst“ ist beispielhaft für das zerstörerische Vorgehen des Regimes gegen eine freiheitliche Kultur. Sie hat Lücken in den Sammlungen deutscher Museen hinterlassen und das Dasein der verfolgten Künstlerinnen und Künstler entscheidend beeinflusst. Auch die berufliche Entwicklung Gurlitts lässt erahnen, wie unmittelbar er als Museumsleiter und Kunsthändler mit der Diktatur verbunden war. Sein Eintreten für die Künstlerinnen und Künstler der Moderne wurde ihm zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn zum Verhängnis. Seine Anstellung als Leiter des Hamburger Kunstvereins und später als Direktor des Museums Zwickau verlor er, weil er Antikriegsbilder, expressionistische, abstrakte oder veristische Kunst, die in schonungsloser Weise die Wirklichkeit abbilden, ausgestellt und angekauft hatte.
Mit Erstarken der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gerieten Museumsleiter wie Gurlitt zunehmend unter Druck. Mit gezielten Kampagnen beförderten nationalsozialistische Parteigänger und Mitglieder des NSDAP-nahen Kampfbundes für deutsche Kultur die gesellschaftlichen Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst. Durch die schlichte Gleichsetzung von künstlerischem Verfall und gesellschaftlichem Niedergang zielten sie auf Künstler und die Demokratie gleichermaßen. Die unheilvolle Verquickung von politischer Propaganda und Gegenwartskunst ist keine Erfindung des Nationalsozialismus. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts waren Realismus und Impressionismus Gegenstand zahlreicher Schriften, die in der zunehmenden stilistischen Vielfalt und den abstrakten Tendenzen einen kulturellen und gesellschaftlichen Verfall sahen.