Jim Avignon
Mir gefriert das Lächeln im Gesicht, als er seine Bilder vor mir ausbreitet: Die Erde kann kein Blut mehr sehen, Überwachung springt aus Laptops, ein auf sein Smartphone konzentrierter Pinguin zieht ein inhaltsleeres „Attachment“ hinter sich her. Dann eine riesenformatige Barszene, Endzeitstimmung, „Last Orders“, die Leute im Delirium, die Erde „stets zu Ihren Diensten“ serviert die letzten Reste an Wasser, Weizen und Öl. Draußen brennt ein Baum. Die Gäste interessiert das gar nicht, sie sind zu sehr mit sich selbst und ihrem stereotypen Rollenspiel beschäftigt. Selbst die Zeit startet in ihrem Ursprung schon mit einer ersten Hürde in den Bildern von Jim Avignon, dem Maler mit so farbintensiv-erzählerischen Kompositionen, bei dem der Mensch und dessen Themen beständig im Vordergrund stehen, eingebettet in fliehende Häuserschluchten oder untergehende Stadt- und Weltansichten. Immer ist er vor Ort gewesen, kennt seine Sujets, den Rausch der Stadt, verschiedene Identitäten und verschwiegene Wahrheiten. In seinen Malereien verschmelzen Privates und Öffentliches. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es eine Jim-Avignon-Welt gibt. Parallel zu unserer und doch auch mittendrin – wir sind alle ein Teil davon. Denn der Maler dokumentiert nicht nur die Zeitzeichen seit 30 Jahren, er hinterfragt, reflektiert und kommentiert – humanistisch, nie dogmatisch.
Beim Rummel um das Goldene Kalb auf dem Kunstmarkt ist er raus – und das ist von nicht unerheblicher Wichtigkeit, für ihn als Mensch und ‚als Produkt‘. Und auf der Rezipient*innenseite nicht für nur eine Generation, sondern für schon drei. Bei 95 Prozent der Besitzer*innen seiner Bilder weiß er sicher, dass ihnen die Bilder gehören, weil sie ihnen wirklich etwas bedeuten. Und sie sie nicht mehr hergeben, denn für eine*n Künstler*in seiner Popularität landen erstaunlich wenige Werke in Auktionen. Jim Avignons Arbeiten gehören definitiv in die Räume des Lebens, sie haben eine Identität, einen Spirit und eine Sprache. Natürlich haben sie auch in White-Cube-Galerien gehangen, aber das ist nicht primär das Ziel. Worum geht es wirklich?
SOCIAL ENERGY: ZWISCHEN KRITIK UND BEMERKENSWERTER BEJAHUNGSKRAFT
Der Mann, der mit souveräner Bescheidenheit und Heiterkeit durch sein privates Leben geht und dabei war, als das eine oder andere Zeitalter in ein neues überleitete, macht uns aufmerksam und fordert sanft Wertebesinnung. Wenn wir uns fragen, was wirklich wertvoll ist, begründen sich die Antworten sicher nicht im Konsum von Materiellem. Wer also Ja zum Leben sagt, meint die Liebe, das Lachen, die Menschen und die Natur. Wenn wir davon zu wenig in unserem Leben spüren, sollten wir einfach dringend unseren Blick vom Smartphone abwenden und umdenken. Und alle, die diese Essentials auch für wichtig halten, sind eingeladen, ihm zu folgen. Kommen wir direkt zum Thema dieser Ausgabe: Highspeed. So, wie mehr als ein halbes Jahrhundert „Uhu“ für Flüssigklebstoff stand oder „Tempo“ für Papiertaschentücher, so steht Jim Avignon für Schnelligkeit … Klar, er gehört zur Generation „Techno“, aber in erster Linie bedeutet Geschwindigkeit für ihn Reaktionsfähigkeit. Es ist vielmehr das Tempo, mit dem er die Geschehnisse in der Welt kommentiert und das Vermögen, mit dem er in Aktion kommen kann, wenn er es für notwendig erachtet, so als jüngstes Beispiel genannt das Social-Media-Malerei-Event „Dienstagsmaler“ während des Lockdowns. Wenn Sie alte Videoaufnahmen sehen oder Artikel lesen, begegnet Ihnen das vom Künstler vor dreißig Jahren implementierte „schnellster Maler der Welt“. Einmal mehr, dass Jim Avignon am eigenen Leib ein Exempel statuiert und somit beweist, wie unbedeutend manche Schubladen sind. Dies war eine Reaktion auf das Bedürfnis nach Kategorisierungen in der Kunstszene. Obgleich Schnelligkeit in der Malerei wahrlich keine relevante Kategorie ist, kam das gut an, wurde medial gerne aufgegriffen. Auch das ist ein Spiegel unserer Gesellschaft.
Wenn es für eine Message nicht viel mehr braucht als wenige Striche, ist das eine von vielen möglichen Professionalitäten: Jim Avignon ist Profi, was die Reflexionsfähigkeit von Kunst angeht – und ebenso ihre Medialität.
Für den scharfen Beobachter Jim Avignon war Highspeed 1991 bereits ein Thema, mit dem er die Ausstellung „Highspeedworld“ im Berliner Dead Chicken Art Space (Schinkestraße) realisierte. Während das in den Neunzigern vielleicht für Sensationen sorgte, sind „Deadline“ und „asap“ („as soon as possible“) heutzutage Buzzwords für die Druckmacher-Attitüden, die ohnehin am weitesten von Kunst entfernt sind. Die Zeiten ändern sich. Und zwar nicht gerade schleichend. Schnell ist der sogenannte Fortschritt, aber der ist ja kein Qualitätsmerkmal, sondern wird in Quantitäten umgerechnet. Wenn in der Industriegesellschaft noch galt, größtmögliche Produktionsleistung in kurzer Zeit zu erbringen, sollte im digitalen Zeitalter umgedacht werden. Von Highspeed nicht weit entfernt sind Schnelllebigkeit, Newsfluten und Updates: Ist es nicht erschreckend, wie schnell und kurzlebig Errungenschaften und Trends sind? Gut, die Selfie-Phase haben wir wohl überstanden, aber heute werden wir beispielsweise regelmäßig zu Systemupdates gezwungen, kaum, dass wir uns an die letzte Neuerung der Benutzeroberfläche gewöhnt haben (oder auch nur annähernd die Bedeutungen kennen). „Business as usual“ wird private Angelegenheit.
STIL, STRICH UND PALETTE
Während er als Installations- und Interventionskünstler mächtig Aufwand betreibt, vermittelt der Maler Jim Avignon, seinem Publikum die Wahrnehmung von der Welt mit vermeintlich wenigen Mitteln zu übertragen. Wahrscheinlich ist er wegen seiner vordergründig farbenfrohen Palette und seines sicheren Strichs schnell in der Comic-Ecke gelandet. Die dafür typischen Outlines sind zu einem seiner Markenzeichen geworden. Bezeichnen wir sie jedoch nicht als Outlines, sondern als Konturen, nähern wir uns genauso gut den suburbanen Landschaften von Valerio Adami. Und sicher erinnern wir uns unmittelbar an Werke von Patrick Caulfield oder auch dem zwischen Pop-Art und Surrealismus changierenden Eduardo Paolozzi – sowie Andy Warhol. Doch Jim Avignon ist im Jetzt, und widmet sich der „überreif“ gewordenen Pop-Art knapp in „Brown Bananas“. In seinem malerischen Werk sind neben wiederkehrenden Themen und Sujets auch verschiedene Arbeitsweisen und Stile zu finden. Die jüngst wiederentdeckten Aquarellfarben führen zu vollends durchgearbeiteten Bildwerken, während den plakatähnlichen Acrylbildern oft klare Symboliken reichen. Zu diesen perspektivisch zweidimensionalen Bildern zählen typische Characters wie die Erde, Häuser, Köpfe als Kartons, DJs, Surfer, Skelette, Fernseher und Radios, Laptops und Smartphones, Alkoholika, Bäume, Blumen oder Flüsse, Tiere und Häuser.
In „The novel“ oder „Self-help Guru“ beispielsweise geschieht alles, was wir wissen „müssen“, im vorderen Bildraum – eben ein bisschen wie in der depersonalisierten Werbung. Wie wir Piktogramme gelernt haben zu lesen, erkennt der schnelle erste Blick die Symboliken. Einen Wimpernschlag später, erst mit dem zweiten Blick, erfassen wir Jim Avignons Tiefsinnigkeit und aktuelle Gesellschaftskritik. Wenn es für eine Message nicht viel mehr braucht als wenige Striche, ist das eine von vielen möglichen Professionalitäten: Jim Avignon ist Profi, was die Reflexionsfähigkeit von Kunst angeht – und ebenso ihre Medialität. Tiefe und Komposition hingegen, ja, einen kubistischen und teils konstruktivistischen Szenenaufbau finden wir in Avignons Großformaten. Expressionistisch gestaltete Stadtlandschaften und Architekturen rufen uns „Die Geschwindigkeit der Straße“ (1918) von George Grosz sowie dessen „Deutschland, ein Wintermärchen“ (1918) ins Gedächtnis, Arbeiten von Feininger oder auch die Großstadtbilder von Ernst Ludwig Kirchner. Die Protagonist*innen der Stadt, in den Bars und Tanzlustbarkeiten – wie in „Out on the Weekend“, „Barscene“, „Here comes the bad News“, „Another happy Bar“ oder „Heartbeat–City“ – scheinen sich stilistisch zwischen den Goldenen Zwanzigern, Philip Guston, manchmal „Dora Maar“ und heutigen Stereotypen zu bewegen, jedoch hat Jim Avignon seine eigenen Charaktere erschaffen. Hier und dort wird „Der Mann ohne Eigenschaften“ wieder präsent: „Nach der eintönigen Anspannung seiner Gedanken in den letzten Tagen, fühlte er sich aus einem Kerker in ein weiches Bad versetzt. […] Er floß wie eine Welle durch die Wellenbrüder, wenn man so sagen darf; und warum sollte man es nicht dürfen, wenn ein Mensch, der sich einsam abgearbeitet hat, in die Gemeinschaft zurückkehrt und das Glück empfindet, in der gleichen Richtung zu fließen wie sie!“ (Musil, 1930/1978, Bd. 1, S. 129).
Daneben konfrontiert uns Avignon mit Schlitzäugigkeit, Zweiäugigkeit und Dreiäugigkeit wie in „Night on Earth“ und „Under the boardwork“. Sind wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht immer bei nur einer Sache, sondern haben in unserem Tun direkt noch ein, zwei andere Dinge im Sinn oder Ziele im Blick? Es ist doch ohnehin alles so schnelllebig. Und oft anstrengend („Tomorrow“). Jim Avignons Kombination von Farbigkeit, Strich, Charakteren und seinen Sujets, gekoppelt mit malerischer Spontaneität, gehört zum Neoexpressionismus mehr als zu etwas anderem. Betrachten wir seine Malmittel und Haltung, wird noch ein weiterer Punkt relevant: Er malt und zeichnet auf allem: Papier, Häusern (Tegel Berlin, Bangkok, N.Y.C., Urban Nation Berlin) und Mauern (East Side Gallery), vornehmlich verwendet er Materialien wie Karton und Pappe wieder. Das ist nicht nur nachhaltig und zugleich wenig kostenintensiv, sondern hat die positive Eigenschaft, schnell zu trocknen. Spannend wird es auch, wenn die bereits von anderen schon einmal verwendeten (used) Fundstücke architektonische Grundrisszeichnungen vom Empire State Building oder dem Metropolitan Museum sind. Tatsächlich geschahen diese Glücksfunde während seiner New Yorker Zeit 2005 bis 2012 („Hug the Enemy“). Einen Jim Avignon können Sie übrigens auch daran erkennen, dass der Titel direkt auf dem Bild steht, wie es einst Aubrey Beardsley bei „Isolde“ (1895) oder „The Kiss of Judas“ (1893) tat.
VON DER EINSTELLUNG HER GEHÖRT ER ZUR FLUXUS-BEWEGUNG UND ZWINKERT DEN SITUATIONIST*INNEN ZU
Einfache Materialien, Gebasteltes, neue Material-Entwicklungen für seine Ausstellungen wie Maschinen am Strom („perfect match“) oder kinetische Wandobjekte, Konzerte seiner Ein-Mann-Heimelektronikband Neoangin, ungerahmte Bilder in Galerien, nur mit Klebeband befestigt, Live-Aktionen, spontan-improvisiert oder detailgetreu vorbereitet, von der Flugblätter-Mentalität über eine designte Swatch oder British-Airways-Flieger (1997–1999) ist alles dabei. Das Wichtigste ist ihm dabei die Community, das Zusammenkommen, Umherziehen, gemeinsam(e) Sache(n) machen. Jim Avignon liebt es, über die Kunst die Menschen zusammenzubringen: 1992 brachte er eine dreiwöchige Liveperformance vor der documenta 9 in Kassel zustande, bei der er täglich ein großes Bild malte, um es am Abend mit dem Publikum zu zerstören. 1995 bekam er für die Nacht des 6. Mai die SCHIRN-Kunsthalle und hängte in seiner Ausstellung „Get rich with art“ 800 Werke, die sich die Besucher*innen aussuchen durften.
Jüngst startete er auf der 16. Art Karlsruhe 2019 mit der Galerie Marko Schacher Raum für Kunst die aufsehenerregende Aktion „Black Market“. Von den wahnsinnig vielen Aktionen gibt es wunderbare Dokumente in Form von Büchern, Filmen und natürlich den Werken selbst. Gerade erschien sein neues Buch „Jim-Avignon. Welt und Wirklichkeit“ im Verbrecher Verlag.
Jim Avignon bedeutet Bewegung, Veränderung und Ideenreichtum: Kreativität lässt sich halt nicht aufhalten. Er liefert uns nicht per se negierende Diagnosen, sondern beherrscht den Twist: die unerwartete Wendung mit dem zweiten Blick. Er löst klassische Genres auf, lässt Grenzen verschwimmen – und verschwinden. Und zwar lebensnah.
Aus Prinzip. Mit Rückgrat.