Auf dem Weg in die Galerie fahre ich an ihnen vorbei. Karawanen von Menschen in Urlaubskleidung. In bunten Shorts, Plastiklatschen, T‑Shirts mit Paillettenflamingo-Applikationen und mit Basecap auf den Köpfen bewegen sich in Richtung Strand.
Busladungen von Rentnern in Beige, Socken in Sandalen und Strohhütchen. Familien mit Kühltaschen, Sonnenschirm und Luftmatratze. Es wird ein heißer, sonniger Tag. Am späten Nachmittag ist Gewitter angesagt. Sobald sich die Galerietüren öffnen, stehen sie auch schon vor mir. Schnell noch etwas zu trinken kaufen und vielleicht gibt’s auch Sonnencreme. Oder wenigstens ein paar billige Sonnenbrillen, die hat man nämlich im Hotel vergessen. „So eine 1A-Lage finden Sie nirgendwo“, hatte der Makler gesagt, und wer würde das nicht glauben. Eine gläserne Rotunde direkt am Strand einer Premium-Destination, wie es im Touristenführer heißt. Nur leider habe ich da eine Kunst-Galerie eröffnet; das war der Denkfehler. Zum Glück regnet es viel in Schleswig-Holstein. Ich liebe Regen. Regen steigert das Kunstinteresse enorm; das müsste man mal wissenschaftlich untersuchen. Die Auswirkungen von Luftfeuchtigkeit und Tiefdruckgebieten auf den Geist oder so. Den wissenschaftlichen Nachweis kann ich in wenigen Stunden live erbringen. Wenn das Gewitter kommt, nämlich, denn obwohl es angesagt ist, wird es alle Strandbesucher überraschen und sie werden ihr Kunstinteresse nicht mehr zügeln können.
Mit einer affenartigen Geschwindigkeit stürmen sie die Galerie, weil sie nicht eine einzige Sekunde mehr ohne Kunst leben können. Meine Halle fasst locker 200 Menschen, erst recht, wenn die nur nasse Badekleidung tragen. Da passen neben der hochwertigen Kunst auch Luftmatratzen, Kinderwagen, Rollatoren und Sonnenschirme mit rein. Da hilft nur ein Spurt durch die Galerie, um beim ersten Regentropfen die Tür abzuschließen. Gefahrenabwehr. Besser als Platzregen ist Nieselregen. Oder der Winter. Die Touristen tragen lange Hosen und schicke Jacken, haben Zeit und Umgangsformen. Und obwohl es sich theoretisch um dieselbe Spezies handelt, fällt das Ergebnis eines Galeriebesuchs ganz anders aus. Der gemeine Tourist wandelt sich zum kunstaffinen Bildungsurlauber. Jedenfalls manchmal, und plötzlich kann ich sie lieben. Auch, weil ich vor kurzem selbst Touristin war. In Shorts und Sandalen, mit Badesachen und Hütchen am Strand und einer gegen null tendierenden Lust, mich in der Mittagshitze mit Kunst zu befassen.
Das Gute am Reisen ist ja der Abstand. Und zwar zu allem, was uns im Alltag vom Wesentlichen abhält. Von der Liebe und den schönen Künsten zum Beispiel. Im Urlaub haben wir Muße, uns mit den Dingen zu umgeben, die aus dem Leben la dolce Vita machen. Deswegen macht eine Galerie an einem Urlaubsort eben doch Sinn. Ein entspannter Geist ist offen für Inspiration. Er weitet den Blick und lässt Träume zu. Er lässt Raum für Fantasien, für Wünsche und Gefühle aller Art. Kombiniert mit Kunst, kann das zu wunderbaren und überraschenden Gesprächen führen, die nicht geprägt sind von Zeitstress, Arbeit oder Ablenkung. Reisende plaudern gern und haben ganz entspannt im Hier und Jetzt sogar Muße für intensivere Kunstbetrachtungen. Sie nehmen sich Zeit für ihre Fragen und die Erläuterungen, wollen verstehen, erfahren und genießen. Wenn sie dabei auch noch gut unterhalten werden, erreichen sie spielend die nächste Stufe der Kunstleidenschaft, nehmen sich „ihr“ Kunstwerk mit nach Hause. Darüber freut sich die Galeristin.
Noch schöner ist es allerdings, selber zu reisen. Besonders für Kunstschaffende ist das fast schon existentiell wichtig, denn wir sind auf Inspiration und einen lockeren Geist in besonderem Maße angewiesen, und jeder weiß, dass die Musen unter Palmen oder sonst wo weit weg besonders nachhaltig küssen. Die Ergebnisse eifriger Reisetätigkeit kann man bei Gauguin, Monet, Klee, Macke, Goethe, Dürer und vielen weiteren klassischen Künstlern sehen, und auch für zeitgenössische Künstler kann das Reisen essenziell sein.
Reisen bildet … den Nährboden für die schönsten Blüten der Kunst … oder auch für die bizarrsten Auswüchse, die dunkelsten Nächte, die wildesten Freuden und lichtesten Momente.
Allerdings nur, wenn man mit leichtem Gepäck reist – und damit ist nicht nur der Koffer gemeint. So manch einer packt sich nämlich selber mit ein und trägt in der Kulturtasche seine Zwänge, Ängste, Pflichten und Sorgen mit in die Welt, obwohl da doch die Kreativität hinein gehört. Das „Einfach-zuhause-Lassen“ ist aber schwierig, denn Neurosen und anderes Unkraut haben etwas Klettenhaftes. Ebenso wie der tief im Herzen ungeliebte Gatte oder die Gattin, die auch mit will.
Dem Reiseantritt sollte also unbedingt ein Befreiungsakt vorangehen, und der könnte schon relativ grundlegend ausfallen. Aber genau an diesem Punkt trennt sich der Tourist vom Reisenden. Hier entscheidet sich, ob wir all inclusive buchen oder eine Reise machen, wobei absurderweise gerade die befreite Reise das Potential für all inclusive hat. Inclusive Veränderung, Entwicklung, Erkenntnis, Erweiterung, Entdeckung, aber auch Scheitern.
Nur Mut! Möchte man sich da gegenseitig zurufen und guckt neidisch auf die, die schon unterwegs sind. Obwohl die einem auch leid tun, denn sie haben ihre Versicherung gekündigt. Falls sie wiederkommen, kommen sie als andere, und man selbst ist noch die Alte, und ist das nun gut oder schlecht? Für die Kunst ist das schlecht, soviel steht fest, denn nichts ist tödlicher als immer das Gleiche.
In diesem Sinne: Bon Voyage.