Ich lasse mich treiben, aber ich kenne die Strömung, die ich mir ausgesucht habe.
Seit langem lebt und arbeitet Anselm Kiefer in Frankreich und man freut sich hierzulande darüber, denn es gibt keinen anderen Künstler, der das, was man lange voller Stolz „ECOLE DE PARIS“ nannte, auf so aufsehenerregende Weise wiederbelebt hätte. Der Umzug in das südfranzösische Barjac, in die Nähe des Grandiosen, von Höhlen zersetzten „ARDÈCHE-TALS“ hat das Werk veärndert ins Blondere, Stillere transportiert. Kiefer war offensichtlich auf der Suche nach Distanz zu sich selbst, zu seinen biographischen Daten, zu den mächtigen Themen.
Inzwischen, im neuen Leben verschwanden die „Kyffhäuser“, „Hermannschlacht“ oder „Brünhildes Tod“. Auch seine Ausflüge ans Rote Meer, zu Aaron, den ägyptischen Plagen, zu den Pharaonen, Ausflüge, die alle um Exodus kreisten, haben einer privateren Thematik Platz gemacht. An die Stelle der düsteren, kalzinierten Darstellungen traten mehr und mehr helle, mit botanischen Funden gespickte Tafeln. Samenkerne, ausgetrocknete Blüten dienen als diamantener Sternenstaub jener Unendlichkeit, auf die nicht zuletzt all die Riesenformate in den Remisen und Tunnels hinweisen, die sich der Künstler in Barjac angelegt hat. Die Auseinandersetzung mit architektonischen Ensembles und mit der historischen Zeit verliert sich im grenzenlosen Raum der Weltlandschaften. Anselm Kiefer ist inzwischen erneut umgezogen, in ein riesiges Atelier im Osten von Paris. Die Wirkung seiner Arbeiten hat nicht nachgelassen. Die Beschäftigung mit weitläufigen Gebäuden und jähen Perspektiven liefert von Anfang an ein entscheidendes Motiv im Werk.
Immer wieder spielen in den Bildern Bühne und Räume die Hauptrolle.
Möglicherweise hat das auffällige Interesse an der Architektur damit zu tun, dass die Zeit, in der Kiefer aufgewachsen ist, Geschichte und Symbolik von Bauwerken mit besonderer Gereiztheit unter die Lupe nahm. Bauten verfielen im Nachkriegsdeutschland dem Fetischismus der Leugnung und der Leere. Sie mussten büßen, sie wurden strenger entnazifiziert als die Gesellschaft, man sezierte sie oder riss sie ab. Kiefer kennt diese Berührungsangst nicht, er spielt früh mit dem Ruinösen, mit dem Abgelebten und Fatalen, das sich vom Gesicht der Häuser ablesen lässt. Das Krustige, Zerbröselnde der Malerei, die Verwendung von Stroh, das den Gedanken an Feuer, an Brandstiftung nahelegt, all dies besitzt im Werk eine konkrete Bedeutung. Er setzt den Mehrwert des Kaputten ein. Die Faszination durch das Desaster, ein negativer heroischer Aspekt hinterfängt die Wirkung seiner Bilder und Installationen. Diese besitzen einen hohen Grad an materieller Anschaulichkeit.
Jeder, der mit ihnen konfrontiert wird, weiß, dass es um mehr als subjektive existentielle Angst geht. Es geht um politisch und letztlich anthropologisch begründete Angst. Wenn es irgendwie geht, übernimmt der Künstler nicht einfach indifferente Materialien, sondern solche, die ihre eigene Geschichte mitbringen und für die er benennbare Quellen angeben kann. Die Vernetzung der Fundstücke mit Orten ist wichtig. Seine Steine, Erden, Pflanzen und Textilien verweisen auf präzise, immer wieder mit Emotionen verbundene Topographien. Nicht von ungefähr ließ er sich das alte Blei, das die Dombauhütte vom Dach des Kölner Doms abräumte, in sein Atelier im Süden Frankreichs transportieren. Ein Teil davon taucht in den Skulpturen „Zwanzig Jahre Einsamkeit“ auf. Solche Transfusionen des Geschichtlichen ins Werk interessieren ihn. Er lädt das Schrundige, das Spiel mit Strukturen und pastosem Farbauftrag mit Hinweisen auf historische Ereignisse auf. Nehmen wir nur aus früheren Jahren „Innenraum“, ein Bild, in dem die Speersche Reichskanzlei zu verkohlter Kälte verwandelt erscheint. Diese Arbeiten Kiefers, die sich in den siebziger Jahren der deutschen Geschichte zuwenden, zählen sicherlich zu den eindrucksvollsten Historienbilder der Nachkriegszeit.
Als Anselm Kiefer vor langen Jahren seinen ersten großen Auftritt in den USA hatte, notierte William Rubin, Chefkonservator des New Yorker Museum of Modern Art, über das Werk: „Ich glaube nicht, dass einer der zeitgenössischen amerikanischen oder europäischen Maler so gut wie Kiefer ist. Auf ihn setze ich.“ Ja, Deutschland habe, meinte der Autor, seit dem Zweiten Weltkrieg keinen außergewöhnlicheren Geist im Bereich der Kunst hervorgebracht. Er entdeckte in den Bildern des Malers aus Deutschland das, was die Bilderangst der Avantgarde zumeist schuldig geblieben war, die Weiterführung der Historienmalerei. Und zwar präsentierte Kiefer einen Umgang mit Geschichte, der nicht für Optimismus, für Siege und Eroberungen eintrat, sondern der sich, im Gefolge von Picassos „Guernica“, ausschließlich dem Fatalen und Verlorenen zuwandte. Der epische Spielraum der Themen, die Möglichkeit, in rasanter Verkürzung Mythisches mit Zeitgeist und die große schöpferische Geste mit dem miserabilistischen Selbstspott der „arte povera“ der sechziger Jahre zu paaren, führten im Werk Kiefers zu einem markanten Resultat. Der schnell einsetzende Erfolg beruhte darauf, dass der Maler dem tabuierten Part der deutschen Geschichte nicht aus dem Weg ging. Kiefer machte, wie nur noch Gerhard Richter, mit der Verdrängung von Namen, Begriffen und Topographien Schluss. Er nannte ein Bild „Deutsche Geisteshelden“. Dazu trat etwas Gewagteres, er gestaltete seine Themen nicht aus einer sicheren Distanz, aus der Distanz des Nachgeborenen, den ein gutes Gewissen retten soll.
Er verquickte die Auseinandersetzung mit dem gefährlichen Abglanz der Verblendung, die zu dieser fatalen Vergangenheit geführt hatte. Unübersehbar mischt er in seinen Werken Aufklärung mit einer anästhetisierenden Atmosphäre. Aus dieser Antinomie beziehen die exorbitanten Arbeiten der siebziger und achtziger Jahre ihren rattenfängerischen Sog. Kiefer hat sich mit seinen Geschichtsbildern „Der Rhein“, „Dem unbekannten Maler“, „Athanor“ weiter vorgewagt als seine Zeitgenossen. Das musste zu Anfeindungen und Fehlinterpretationen führen. Doch an der Grundeinstellung des Werks kann keiner zweifeln, sie liegt auf der Seite des Untergangs, einer verantwortungsbewussten tiefen Melancholie. Nicht umsonst hat der Künstler das saturnische, melancholische Blei zur Grundnahrung vieler Skulpturen und Bilder gemacht. Die Mischung aus einem präzisen Bildaufbau und der Anziehungskraft durch das Verbrannte, das Defekte, die in den zerbröselnden, von Schutt bedeckten Bildern materiell greifbar hervortreten, schafft Verwirrung. Man kann hinter dieser Hinwendung zu einem psychischen Materialismus den Einfluss von Beuys entdecken, der die Gestikulation der „arte povera“ und den postdadaistischen Umgang mit dem Niedrigen und Verachteten zu einem privaten Lamento bündelt. Doch Kiefer setzt noch etwas anderes ein, er arbeitet mit der konkreten Anspielung auf geschichtliche Daten, er wendet sich dem genauen Teil der kollektiven Erinnerungen zu. Wie kein anderer versteht er es, in seinen Kompositionen auch das photographische Zitat, als Beleg, aufblitzen zu lassen. In diese Darstellungen, in diese greifbaren Wunden der Zeit muss der Betrachter seinen Finger legen.
Die eindrucksvollsten Bilder sind deshalb zweifellos diejenigen, in denen der direkte Malvorgang immer wieder durch stoffliche Zitate und photographische Einsprengsel unterbrochen wird. Das Werk ist auf diese Blutproben des Wirklichen angewiesen, nährt sich von ihnen. In Arbeiten wie „Nothung“ oder „Resurrexit“ arbeitet der Künstler mit Augentäuschung. Er imitiert die verzweigten Maserungen von Holzböden und Dielen. Die Darstellungen architektonischer Motive und Landschaften bleiben zunächst noch stilistisch und technisch getrennt. Denn in den Landschaftsbildern verzichtet Kiefer auf das faksimilehafte Nachzeichnen von Strukturen. Ein Sturzacker wird von einer tiefgepflügten Mal-Masse aus Farbe und Erde dargestellt.
Die pastose Technik erreicht ihre stärkste Wirkungin den schrundigen Malgründen, in die der Maler – nehmen wir Bilder wie „Wege: märkischer Sand“ – die Samen seiner historischen und mythologischen Erinnerung aussät. Die technische Virtuosität steigert sich dabei regelrecht zum wagnerianischen Tutti: Sand, Teer, Schellack, Sägemehl, Bleifolien, sprechende Materialien wie das Stroh der Brandstifter, Stacheldraht und Kleidungsstücke tragen zu der depressiven Stimmung bei, sprechen von diesem „Wasteland“, das T.S. Eliot zur Metapher der verödeten chaotischen Moderne ausgerufen hat. Kiefers großartige Bücher, wunderbare, variantenreiche bleiche Folianten liefern zum Werk den einzigartigen Kommentar: sie umspielen die Apokalypse des Johannes. Kiefer ist sich dessen bewusst, hat er doch unmissverständlich festgehalten: Ich lasse michtreiben, aber ich kenne die Strömung, die ich mir ausgesucht habe.