Kurator Francesco Stocchi im Gespräch mit Francesca Interlenghi
Eine zwischen Ritual und Rhythmus oszillierende Reise in die Vergangenheit, ein Spiel von Harmonien und Dissonanzen, durchdrungen von Szenen der Vergänglichkeit und Katharsis. Dies sind nur einige der Suggestionen, die den Überlegungen der Künstlerin Latifa Echakhch zugrunde liegen. Sie wurde von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia beauftragt, die Schweiz bei der 59. internationalen Kunstausstellung – der Biennale Arte – zu vertreten. Das Projekt »The Concert«, das in Zusammenarbeit mit dem Perkussionisten und Komponisten Alexandre Babel und dem Kurator Francesco Stocchi konzipiert und realisiert wurde, versetzt in Erstaunen und überrascht zugleich, indem es die Definition des Bekannten und des Gewohnten übertrifft. »Wir möchten, dass das Publikum die Ausstellung mit demselben Gefühl wie nach einem Konzert verlässt. Dass sie das Echo dieses Rhythmus, dieser Erinnerungsfragmente hören«, sagt die Künstlerin.
Die Künstlerin Latifa Echakhch wurde 1974 in El Khnansa (Marokko) geboren und lebt und arbeitet in Vevey und Martigny (Schweiz). Mit ihrer facettenreichen Praxis aus Malerei, Skulptur und Installation untersucht sie die Widersprüche und Stereotypen unserer Gesellschaft, die Themen Erinnerung und Migration und verwandelt Gegenstände und Materialien des täglichen Lebens in identitätsstiftende, geschichtsträchtige und mythologische Bedeutungsträger. Nach ihrem internationalen Erfolg, zahlreichen Einzelausstellungen auf der ganzen Welt, dem Verleih des Marcel-Duchamp-Preises 2013 und der Ausstellung 2015 im Museum Haus Konstruktiv in Zürich »Screen Shot«, für die sie mit dem Züricher Kunstpreis ausgezeichnet wurde, kehrt Echakhch mit diesem Projekt zur Biennale Arte nach Venezia zurück, an der sie bereits anlässlich der 54. Ausgabe teilgenommen hatte.
The Concert ist ein mehrstimmiges, in gewisser Weise polyfones Projekt, das ein Zusammenspiel verschiedener Motive umfasst, die zwar alle ihre eigene Identität bewahren, aber gemeinsam die Schlussmelodie tragen. Können Sie mir erzählen, wie Sie dieses sehr wichtige Ereignis aus kuratorischer Sicht angegangen sind?
FRANCESCO STOCCHI: Es ist sicherlich ein interessantes Projekt, weil es sich von allen anderen Arbeiten unterscheidet, die ich zuvor umgesetzt habe. Ich betone interessant, denn wenn es in unserem Beruf eine Gefahr gibt, dann ist es jene, in einen reproduzierenden, um nicht zu sagen repetitiven Kreislauf zu geraten. Das Risiko besteht darin, sich auf eine Form festzulegen. Stattdessen verwende ich in erster Linie den Begriff interessant, weil wir uns auf operativer Ebene in einem noch nie da gewesenen Zustand befinden: Wir sind vier Personen und die Metapher der Band beschreibt dies gut. Eine Leadsängerin, Latifa Echakhch, und der Rest von uns, wobei jeder eine andere Rolle spielt, die sich von der üblichen Nomenklatur von kuratorischer Leitung oder Produktionsleitung und so weiter löst. Die Teamleistung zielt offensichtlich darauf ab, die Idee der Künstlerin für den Pavillon gemeinschaftlich zu realisieren. Was Echakhch versucht, inhaltlich umzusetzen, verdient unsere ganze Bewunderung. Die Biennale Arte ist eine wichtige Bühne, die sie nutzt, um etwas Neues und Unerwartetes zu schaffen, etwas, das vielleicht schon in ihr schlummerte und auf die richtige Gelegenheit wartete, um sich zu manifestieren. Aber niemand kann für das Ergebnis garantieren. In den letzten Jahren hat die Künstlerin eine neue Art von Malerei entwickelt, die sowohl von der Kritik als auch vom Publikum sehr geschätzt wird, und so lag es nahe, diese Art von Werken auch in diesem Rahmen auszustellen. Stattdessen entschied sich Echakhch dafür, den Pavillon nicht als Podium zu nutzen, um sich selbst zu präsentieren und zu zelebrieren, sondern als Gelegenheit, sprachlich und disziplinär etwas völlig Neues zu schaffen. Wir sprechen hier über Musik! Ihre Leidenschaft für die Musik reicht lange zurück, aber dies ist ihr Debüt als Urheberin und wird vielleicht ein neues Kapitel in ihrem Leben einleiten.
Der Begriff »neu« taucht in Ihren Worten häufig auf, um dieses Projekt zu charakterisieren. Eine Definition, die kaum für Messen oder institutionelle Kontexte wie diesen zu gebrauchen ist, die sich als wenig geeignet erwiesen haben, um Neuerungen und Experimente zuzulassen. Neu ist hier nicht nur das noch nie Dagewesene, sondern auch das Unerwartete. Können Sie mir davon erzählen?
Neu ist der Ansatz, mit dem die Künstlerin die Biennale di Venezia betrachtet: nicht zu Ehren einer interessanten, vorhergehenden Produktion, sondern als Ausgangspunkt für einen Neuanfang. Und das halte ich für einen würdevollen Ansatz. Das Projekt enthält einen Verweis auf das Neue und das Nichtwissen, der uns alle auf die gleiche Ebene stellt. Ich halte das angesichts der Art und Weise, wie die Künstlerin ein solches Ereignis in Angriff genommen hat, für bewundernswert. Wir erleben insbesondere in den letzten Jahren eine Art Normalisierung der Produktion und der Ausdrucksweisen, die möglicherweise zum Teil auf eine Generation zurückzuführen ist, die es leid ist, alles suggeriert zu bekommen, aber auch auf ein Übermaß an Informationen, die uns allen in Echtzeit zur Verfügung stehen und die Originalität künstlich erscheinen lassen. Daher wird das Neue selbst zu einer schwierigen Übung. Junge Künstlerinnen und Künstler, die ich konsequent verfolge, neigen dazu, das Neue nicht deswegen zu wagen, weil sie es fühlen, sondern als Reaktion. Und so kommt es, dass der Wunsch, um jeden Preis originell zu sein, am Ende dazu führt, wie alle anderen zu sein, weil jeder originell sein möchte. Aus diesen Gründen finde ich ein formal und ästhetisch so markantes Projekt wie »The Concert«, das zu einem solchen Anlass etwas Neues wagt, wunderbar.
Mir scheint, dass neben dem Neuen auch die Zeitfrage ein entscheidendes Element ist. Und zwar zum einen, weil hier die Zeit rückwärts fließt, vom hellen Tageslicht bis zum Vorabend. Und zum anderen, weil das Projekt, ähnlich wie bei einem Konzert, auf eine Translokation des Zuschauergefühls über die Zeit des Geschehens hinaus, über den Raum des Pavillons hinaus, in die Fragmente der eigenen Erinnerung zielt.
Als mich die Künstlerin bat, sie bei diesem Abenteuer zu begleiten, sagte sie mir: »Ich weiß nur eines: Ich möchte, dass das Publikum den Pavillon mit demselben Gefühl verlässt, das es auch nach einem Konzert hat.« Wir sind von diesem Ziel ausgegangen und haben uns rückwärts vorgearbeitet. Dies war die einzige Vorgabe, die wir hatten, eine ziemlich poetische Vorgabe, würde ich hinzufügen. So entwickelte sich Echakhchs Überlegung nicht so sehr basierend darauf, was zu tun oder zu zeigen sei, sondern darüber, wie sich das Publikum nach dem Besuch der Ausstellung fühlen soll. Den Fokus auf das Publikum zu verlagern, bedeutet, zu hinterfragen, was in der Erinnerung zurückbleibt, und eine Vorstellung von Katharsis zu unterstützen, die der Betrachter genau in dem Moment erfährt, in dem er das Ereignis genießt, die er aber vor allem mitnehmen kann. Das war der Ausgangspunkt und ich muss sagen, es war etwas Neues, vor allem für die Künstlerin. Rückwärts zu gehen, bedeutet, einen Vergleich zwischen Hoffnung und Wunsch anzustellen, den Wunsch nach dem, was gewesen ist, mit dem zu vergleichen, was man festhalten möchte. Die Hoffnung auf das, was nicht ist. Oder wieder rückwärtsgewandt, eine Hoffnung auf die eigene Vergangenheit? Ich habe keine Antwort, da sich die Ebenen überschneiden.
Ich greife das Thema des Publikums auf, das hier meiner Meinung nach nicht nur die passive Rolle des Zuschauers zu haben scheint, sondern auch die aktive Rolle des Auslösers des Werks, um Sie zu fragen, ob und inwieweit wir im Zusammenhang mit diesem Projekt von partizipatorischer Kunst sprechen können.
Das Projekt ist nicht insofern partizipatorisch, als der Betrachter aufgefordert wird, das Werk zu vollenden, sondern weil das Werk nur durch die Beteiligung des Publikums funktioniert. Mit anderen Worten, ein Pavillon, der Gemälde präsentiert, setzt voraus, dass der Pavillon auch ohne Publikum funktioniert. Hier ist stattdessen, wie bei einem Konzert, die Anwesenheit des Publikums notwendig. Der Betrachter wird nicht aufgefordert, zu handeln oder sich an der Entstehung des Werkes zu beteiligen, sondern sein Da-Sein, sein Herzschlag, sein Gehen auf knarrendem Boden ist gefordert. Durch den visuellen Zugang zu den Werken über eine schriftliche Ordnung und eine rhythmische Abfolge von Lichtern tritt er in eine stille Erzählung ein, die mit einer Orchestrierung verbunden ist. Auch dies ist ein interessantes partizipatorisches Element.
Wenn man von Publikum spricht, liegt eine Diskussion über Körper und ihre Metamorphosen nicht fern. Das ist das große Thema, das Cecilia Alemani, die Kuratorin der diesjährigen Biennale Arte, für die Ausstellung »The Milk of Dreams« gewählt hat.
Könnte es daran liegen, dass es sich um den Zeitgeist handelt? Könnte es sein, dass die Körper ein wichtiger Teil des Konzerts sind? Könnte es sein, dass wir das Publikum über den Körper einbeziehen wollen? Alle Sinne werden durch Wärme‑, Geräusch- und Klangempfindungen aktiviert. Ganz zu schweigen davon, dass die von der Künstlerin selbst gefertigten Holzskulpturen Körperteile darstellen: Sie sind Köpfe, Ohren, Fetzen. Tatsächlich erfolgt eine umfassende und sehr wichtige Körperarbeit und es ist sicherlich interessant, sich in der heutigen Zeit damit zu beschäftigen.
Welche Werke sind im Pavillon zu sehen? Und wie ist er aufgebaut?
Es gibt eine Reihe von Holzskulpturen, die dem folkloristischen Karnevalsstil entlehnt sind und deren schwarzes, verbranntes Holz sich dem Licht widersetzt. Vom Morgengrauen bis zur Dunkelheit. Die Route ist als Rückwärtsfahrt angelegt, so als würde man nach dem Ende eines Konzerts rückwärts in die eigene Nacht zurückkehren. Der Verlust des Lichts begleitet das Verbrennen des Holzes und führt zum letzten Raum, dem Hauptraum, der völlig dunkel ist. Hier befinden sich weitere große Skulpturen, die von einer Lichtersequenz beleuchtet werden, deren Bewegung und Rhythmus an eine eigens geschriebene Musik erinnern. Der Klang ist jedoch nicht hörbar, es handelt sich nicht um eine Übersetzung von Tönen in Licht, wie es beispielsweise bei Parreno der Fall ist. Vielmehr handelt es sich um Lichtstrahlen, die den Blick auf die nicht verbrannten, d. h. weniger geschwärzten Teile der Skulpturen lenken.
Das Projekt steht im Dialog mit dem 1951 von Bruno Giacometti entworfenen Gebäude, einem Raum mit präzisen Eigenheiten, mit denen man sich zwangsläufig auseinandersetzen musste.
Die Idee erwies sich als passend zu den Besonderheiten eines Raumes, der für die Aufnahme von Kunst geschaffen und für die Organisation der verschiedenen künstlerischen Medien gestaltet wurde. Der Schweizer Pavillon ist der einzige, dem eine Mauer vorgelagert ist, die den Ausstellungsbereich im Freien von dem der Giardini abgrenzt. Eine Wand, die ein Innen und ein Außen abgrenzt und selbst ein Wegweiser ist. Es handelt sich darüber hinaus auch um einen besonderen architektonischen Kontext, das Nonplusultra der Moderne. Dieses fast schon stereotype Bild der Moderne mit der Idee der Explosion, den Verbrennungen und dem Vokabular des Karnevals und seinen vergänglichen Festwagen zu kombinieren, halte ich für eine anregende Methodik, die es uns ermöglicht, über den Gegensatz zwischen Utopien und Träumen, zwischen der modernistischen Utopie und dem Traum vom Karneval nachzudenken.
Sie beschreiben mir dieses Projekt mit Anspielungen, auch sprachlicher Art, populärer Natur. Sie erzählen mir von Konzerten, Karneval und Festwagen. Wie passt das alles zum Kunstgedanken und zur Kunstbiennale?
Was sind Pavillons, wenn nicht eine Aneinanderreihung von Umzugswagen? Und was ist die Biennale, wenn nicht ein Buch, das durchgeblättert wird, in dem jeder Pavillon eine Seite ist, die betrachtet wird? Wir haben darüber, über den Kontext und die besonderen Merkmale der Biennale di Venezia nachgedacht. Denn über die Bedeutung und Dominanz des Ereignisses selbst hinaus war ich auf kuratorischer Ebene daran interessiert, zu verstehen, wie dieses Projekt in eine Art Karneval eingebettet werden kann. Einen Karneval, in dem es eine Vorstellung von Nachfolge und von Publikum gibt, eine Wiederholung und eine kollektive Vision, die niemals absolut, sondern relativ ist, in dem Sinne, dass die Pavillons sehr oft im Vergleich zueinander und nicht als eigenständige Einheiten wahrgenommen werden. Genau wie bei einem Konzert wollte ich, dass dies in eine weltliche und nicht religiöse künstlerische Erfahrung übersetzt wird. Auf einer interpretativen und kritischen Ebene bedeutet dies, Kunst in die Gesellschaft einzufügen. Denn es ist keine Welt, und sei sie auch noch so schön, die von der übrigen Welt getrennt ist. Es ist etwas, das aus dem Leben gerissen wird.