Bernhard Leitner

Über akustisches Entstehen, Vergehen und Anhalten von Räumen

Eine ehe­ma­li­ge elek­tri­sche Getrei­de­müh­le im Wein­vier­tel ist seit 1993 das weit­läu­fi­ge Ate­lier von Bern­hard Leit­ner. Leit­ners Ton-Raum-Instal­la­tio­nen und sei­ne Ton-Raum-Skulp­tu­ren neh­men Raum in Anspruch, den die­ses 1936 erbau­te Indus­trie­ge­bäu­de durch­aus bie­tet. Leit­ner, der in Feld­kirch gebo­ren wur­de, in Inns­bruck matu­riert und in Wien Archi­tek­tur stu­diert hat, und unter ande­rem in New York in der Stadt­pla­nung tätig und von 1972 bis 1982 Pro­fes­sor an der New York Uni­ver­si­ty war, führ­te die Reno­vie­rungs­ar­bei­ten selbst durch und stell­te den ursprüng­li­chen Zustand die­ser beein­dru­cken­den Indus­trie­ar­chi­tek­tur wie­der her. Ent­stan­den sind eine Säu­len­hal­le, eine Hal­le mit Gleis­an­schluss, eine Hohe Hal­le, eine Obe­re Hal­le und ein Wohn-Loft. Ent­deckt und frei­ge­legt wur­de bei den Umbau­ar­bei­ten ein voll­kom­men erhal­te­ner alter Holz­si­lo aus der Ent­ste­hungs­zeit der Müh­le. Die Zel­len­wän­de wur­den raus­ge­schnit­ten, dabei wur­de sicht­bar, dass die über­ein­an­der geschich­te­ten Holz­pfos­ten ledig­lich von 15cm lan­gen Stahl­nä­geln zusam­men­ge­hal­ten wer­den. Es sind die vie­len lie­be­voll restau­rier­ten Details, die spür­ba­re Wert­schät­zung des ursprüng­li­chen Hand­werks der Zim­mer­meis­ter, die Hin­ga­be zu Form und Mate­ri­al, der Respekt vor dem Nutz­bau, die dem Ate­lier­ge­bäu­de eine authen­ti­sche Atmo­sphä­re ver­lei­hen. Die­sel­be Authen­ti­zi­tät ver­kör­pert auch der Künst­ler mit und in sei­nem Werk und so gestal­tet sich auch der unver­gess­li­che Atelierbesuch.

Bern­hard Leit­ner und Mag­da­le­na Fro­ner beim Durch­schrei­ten der Ser­pen­ti­na­ta, Pho­to: Hugo V. Astner

Look with your ears. 

King Lear,
Wil­liam Shake­speare, Akt 4, Sze­ne 6

Bern­hard Leit­ner, der nach sei­ner Rück-kehr aus New York seit 1987 fast 20 Jah­re Pro­fes­sor für Medi­en­ge­stal­tung an der Uni­ver­si­tät für ange­wand­te Kunst in Wien war, emp­fängt uns bei unse­rer Ankunft in Gain­dorf in sei­nem Gar­ten im Innen­hof. Augen­blick­lich fällt uns eine Öff­nung in der Mau­er auf, die eigent­lich das Grund­stück begrenzt und Leit­ner klärt uns auf: »Die­se Öff­nung haben mei­ne Frau und ich bewusst aus­ge­spart, um von der Wohn­kü­che aus die uns umge­ben­de Natur und die sich ändern-de Land­schaft erle­ben zu kön­nen.« Für Bern­hard Leit­ner gehö­ren Ton und Natur zusam­men, denn »die Klang­räu­me der Natur sind höchst viel­fäl­tig, eben durch die andau­ern­de Ver­än­de­rung – durch Wind, durch Regen, durch Tem­pe­ra­tur.« Vis-à-vis, erzählt uns Leit­ner, wer­den im Herbst eine Aus­stel­lungs­hal­le und ein Labor ent­ste­hen. Die­ses Pro­jekt rea­li­siert der Archi­tekt und Künst­ler gemein­sam mit sei­nem Sohn Lukas. »Lukas hat ein inter­es­san­tes archi­tek­to­ni­sches Fach gewählt: Licht und Raum. Tages­licht und Kunst­licht sind ein span­nen­des, immer wich­ti­ger wer­den­des The­ma.« Der Neu­bau wird ein lang­ge­streck­ter Bau, der sich nach dem Grund­stück ent­lang der Bahn­glei­se rich­tet. »Der Ent­wurf ist ein 40m lan­ger Bau, 10m breit, in der Mit­te auf 12m x 12m erwei­tert. Dort wird der TONWÜRFEL 2018 auf-gebaut, gleich­zei­tig als fer­ti­ge Skulp­tur und als Labor«, fährt Bern­hard Leit­ner fort.

Mit Wür­feln beschäf­ti­gen sich auch Leit­ners ers­te Ideen im Jahr 1969. Der Wür­fel ist für ihn ein Aus­sa­ge-neu­tra­ler Bau­kör­per, für den es kei­ne Vor­ga­ben gibt: »Die ers­te Idee war ein SOUNDCUBE mit 36 Laut­spre­chern an jeder Sei­te, jeder ein­zel­ne Laut­spre­cher exakt ansteu­er­bar, eine völ­lig uto­pi­sche Idee – dafür gab es damals am Markt kei­ne Gerä­te. Aber als Idee war es ein offe­nes, inspi­rie­ren­des Denk-Gerüst. 1981 habe ich einen Wür­fel für eine lie­gen­de Per­son mit kom­ple­xen Klang-Bewe­gun­gen zwi­schen acht Laut­spre­chern umge­setzt, der an der docu­men­ta 7 gezeigt wur­de.« Seit­dem konn­te man sei­ne Wer­ke und deren Doku­men­ta­tio­nen in zahl­rei­chen inter­na­tio­na­len musea­len Ein­zel- und Grup­pen­aus­stel­lun­gen sowie im Öffent­li­chen Raum erkun­den. Beim TONWÜRFEL 2018 hat Leit­ner dann erst­mals acht Klang­flä­chen aus Fich­ten­holz ein­ge­setzt, die durch an jeder Plat­te mon­tier­te Trans­du­cer ange­regt wer­den: »Dabei ent­ste­hen voll­kom­men ande­re akus­ti­sche Abstrah­lun­gen. Die Holz­flä­chen (45cm x 320cm) begin­nen zu schwin­gen und wer­den zu Flächen-Lautsprechern.«

Pul­sie­ren­de Stil­le, Aus­stel­lungs­an­sicht: BERNHARD LEITNER. TON-RAUM-SKULPTUR, Shed­hal­le, Lan­des­mu­se­um Nie­der­ös­ter­reich, St. Pöl­ten, 2016, Pho­to: Fuchs

Die Akus­tik ist für Leit­ner eine Wun­der­welt. Die Kup­pel aus Mar­mor des Taj Mahal ist für ihn ein ganz beson­de­res Bei­spiel dafür: wenn in ihr ein Ton erklingt, hört der Raum nicht mehr auf zu klin­gen. »Die­se Refle­xio­nen in der Kup­pel sind ein herr­li­ches Zei­chen für Ewig­keit. Das ist ja kein Zufall, dass die Raum­kup­pel in Form und Mate­ri­al so errich­tet wur­de.« Geht es nach Bern­hard Leit­ner, spricht man in der Archi­tek­tur viel zu wenig über Akus­tik. »Seit der Erfin­dung der Foto­gra­fie wird alles nur mehr visua­li­siert, die Akus­tik aber kann ich nicht visua­li­sie­ren, die muss ich erle­ben. Alles ist Bewe­gung und Schwin­gung, je-des Organ schwingt. Die Natur hat uns ver­schont, dass wir hören, was in unse­rem Kör­per pas­siert. In der Akus­tik ist alles in Schwin­gung und das ist ein fas­zi­nie­ren­des Phä­no­men«, stellt der Künst­ler fest. Leit­ner kann in sei­nen Instal­la­tio­nen und Skulp­tu­ren die akus­ti­sche Fra­ge nicht von der ästhe­ti­schen tren­nen. »Es muss visu­ell über­zeu­gen, damit jemand hin-hört.« Sei­ne ers­te Idee, die auf einem Flug von Euro­pa nach Ame­ri­ka ent­stand, war jene, wie ein Archi­tekt eine Linie zu zeich­nen, aber eine Linie kon­stru­iert aus Sound und nicht aus Mate­ri­al. 1968 war das natür­lich uto­pisch. Aber es war rück­bli­ckend eine äußerst frucht-bare Idee, aus der sich sehr viel ent­wi­ckelt hat. Wir dür­fen die­se Ent­wick­lung nun ein Stück weit wäh­rend der Ate­lier­be­ge­hung ver­fol­gen und selbst erfahren.

Durch das Wohn­haus gelan­gen wir in die Ate­lier­räu­me und errei­chen die ers­te Hal­le. »Ein Ton durch­dringt alles«, erklärt Leit­ner, wäh­rend wir vor einer Arbeit mit einer Mes­sing-scha­le ste­hen, die durch eine 150 cm lan­ge, frei hän­gen­de Metall­spi­ra­le mit einem Stück Holz ver­bun­den ist. Die Klang­wel­len in der Mes­sing­scha­le, wel­che durch das Bewe­gen der an der Scha­le punkt­ar­tig mon­tier­ten Stahl­spi­ra­le erzeugt wer­den, set­zen sich bis in das Holz­ob­jekt fort. Tat­säch­lich: Das Holz klingt wie eine Gei­ge. Die gan­ze Flä­che wan­delt sich in eine Schwin­gung und klingt. Die Wel­len gehen durch das Holz. Wie kann der Klang durch den Fest­kör­per gehen? »Wir sind von Klang umge­ben und durch­drun­gen, wobei das Durch-drin­gen noch wich­ti­ger ist«, so Leitner.

Über das neue Trep­pen­haus, das dem Holz­si­lo von 1935 ent­lang ange­legt ist, um alle Räu­me zen­tral errei­chen zu kön­nen, gelan­gen wir in die wie­der her­ge­stell­te Säu­len­hal­le. Dort sind Skulp­tu­ren und Objek­te aus den 70er Jah­ren sowie theo­re­ti­sche Raum­mo­del­le aus­ge­stellt. Die soge­nann­te Nota­ti­ons­skulp­tur, sechs Sieb­druck­plat­ten aus Ple­xi­glas von 2002, basiert auf den Ideen von 1969. »Es ist eine Art Mani­fest. Ich woll­te das noch­mal sicht­bar machen. Man sieht den Zylin­der­raum, den Flü­gel­raum, den pen­deln­den Kreis­raum als gra­fi­sche Nota­tio­nen von Ton-Archi­tek­tu­ren. Die­se Räu­me kön­nen inein­an­der über­ge­hen. Die Idee war ja von An-fang an, die Archi­tek­tur zu erwei­tern und zwar mit dem Phä­no­men Zeit und Bewe­gung, also Räu­me nicht mehr sta­tisch zu den­ken, son­dern im Ent­ste­hen und Ver­ge­hen und im Anhal­ten.« In sei­nem Mani­fest, das 1977 in New York nie­der­ge­schrie­ben wur­de, for­mu­liert er es im zwei­ten Absatz wie folgt: »Es ist not­wen­dig den Begriff »Raum« umzu­den­ken und zu erwei­tern. Die­se Räu­me haben kei­ne gleich­zei­tig erleb­ba­ren Gren­zen, sie sind auch nicht »flie­ßend-dyna­misch« im her­kömm­li­chen Sinn. Sie ent­ste­hen und ver­ge­hen. Raum ist hier eine Fol­ge von räum­li­chen Ereig­nis­sen – wesen­haft ein Ereig­nis der Zeit. Raum wird in der Zeit ent­wi­ckelt, wie­der­holt und ver­än­dert.« Als Archi­tekt und Künst­ler war es für ihn essen­ti­ell, dass durch den Sound voll­kom­men neue Eigen­schaf­ten in der Archi­tek­tur offen­ge­legt wer­den wie oszil­lie­ren­de Gren­zen, pul­sie­ren­de oder schwin­gen­de Räu­me, rasche und lang­sa­me Räu­me. Durch die Eigen­schaf­ten des Tons gelingt es Leit­ner, die Emp­fin­dung zu steu­ern. Die Erkennt­nis­se, die bis heu­te erlangt wer­den konn­ten, gehen auf zahl­rei­che Expe­ri­men­te zurück, auf den Aus­tausch mit Inge­nieu­ren, Tech­ni­kern, Musi­kern, Medi­zi­nern u.v.m. Das alles doku­men­tier­te Leit­ner akri­bisch in Notiz- und Arbeits­bü­chern, die heu­te einen Teil sei­nes künst­le­ri­schen Œuvres darstellen.

1971 begann Bern­hard Leit­ner in sei­nem Labor in New York mit den prak­ti­schen Unter­su­chun­gen von begeh­ba­ren Ton-Räu­men. Ab 1973 dann die Ton-Raum-Arbei­ten am und zum Kör­per. Es han­delt sich um auf den Kör­per bezo­ge­ne Räu­me und Skulp­tu­ren. Dar­un­ter auch die Ton-Lie­ge. Wir sehen meh­re­re Ent­wick­lun­gen die­ses Objekts und dür­fen eine davon auch erle­ben. Leit­ner bewegt den Klang über die­se Lie­ge. Der Klang bewegt sich durch den Kör­per, run­ter und rauf, von Kopf bis Fuß und wie­der zurück. Der Ton fließt durch uns hin­durch. Erstaun­lich. Das könn­te man sich durch­aus als The­ra­pie vor­stel­len. Leit­ner erzählt, dass es dazu bereits Ver­su­che mit Pati­en­ten gab. »Den Kör­per, den Geist und die See­le zusam­men­brin­gen. Man spürt sich selbst«, bringt es der Künst­ler auf den Punkt. Genau­so emp­fin­den wir das. Der Ton schwingt an und schwingt wie­der zurück. Es ist ein Cel­lo-Ton, gemischt mit einem tie­fen Horn-Ton. Kein syn­the­ti­scher Ton. Wir erspü­ren, dass die­ses Durch­drin­gen des Tons ein Zugang zum eige­nen Kör­per, zur See­le ist.

Schräg gegen­über von der Lie­ge hängt in der Säu­len­hal­le der soge­nann­te Ton-Schirm mit einem Durch­mes­ser von 130cm. Wir stel­len uns unter den Schirm, ein Werk aus 1990. Die Töne sprin­gen her­um, aus­ge­löst von acht in das Objekt ein­ge­näh­ten Hoch­tö­nern. Schließt man die Augen, ist es, als befän­de man sich in einer unend­lich gro­ßen Kup­pel, gar im Uni­ver­sum. Der Ton ver­än­dert den Maß­stab des Rau­mes. »Der Raum wird gren­zen­los weit. Die Gren­zen lösen sich auf. Ich arbei­te mit dem Raum, da ist die Fra­ge der Gren­ze eine ent­schei­den­de. Wenn ich Gren­zen auf-machen, vari­ie­ren, oszil­lie­ren kann, dann habe ich Räu­me, die atmen«, sagt Leit­ner. In der For­schung und in den Arbei­ten von Bern­hard Leit­ner ist das Mate­ri­al essen­ti­ell. Die Töne des Schirms wur­den bei­spiels­wei­se mit einem soge­nann­ten Trau­to­ni­um (1) auf­ge­nom­men. »Ich kann­te den ehe­ma­li­gen Assis­ten­ten von Traut­wein, Oskar Sala, der das Trau­to­ni­um aus den 20er Jah­ren nach­ge­baut hat und damit Musik pro­du­zier­te. Bei­spiels-wei­se auch für den Spiel­film von Hitch­cock »Die Vögel«. Mit die­sem Instru­ment haben wir die­se ganz schar­fen spit­zen Töne erzeugt. Die­se wur­den dann alea­to­risch zu einem Ton-Gewe­be gemischt und mit einem »Delay« aus-gestat­tet, damit das Mate­ri­al flüs­sig wird.«

Auf einem Foto an der Wand ent­de­cken wir Le Cylind­re Sono­re, ein Dop­pel­zy­lin­der aus Beton, der im Parc de la Vilet­te, Paris, seit 1987 zu erle­ben ist. Durch 24 Laut­spre­cher wer­den dort unter­schied­li­che Raum­sze­na­ri­en inter­pre­tiert. »Ein künst­lich ver­weh­ter Raum, der dann beson­ders inter­es­sant wird, wenn der natür­li­che Wind dazu kommt oder spit­ze Töne, die von den Vögeln in den Bam­bus­sträu­chern auch nach-gepfif­fen wur­den«, berich­tet Leit­ner. Das flie­ßen­de Was­ser zwi­schen den Wand­ele­men­ten neu­tra­li­siert den Raum von den Geräu­schen der urba­nen Umge­bung, eine nicht unwe­sent­li­che Bedin­gung für die Hör-Auf­merk­sam­keit der Besucher.
Und schon nähern wir uns dem nächs­ten Objekt, dem soge­nann­ten Sprin­ger. Auf einer lan­gen Holz­leis­te mit Unter­tei­lun­gen springt der Ton ähn­lich einem Hür­den­läu­fer hin und her. »Ich mache den Ton damit sicht­bar. Man kann sehen, wie er springt. Da kommt die wich­ti­ge Ver­bin­dung von Augen und Ohren ins Spiel. Ich bin über­zeugt, dass die­se bei­den Sin­nes­or­ga­ne mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Wis­sen­schaft­lich wur­de das stets ver­nach­läs­sigt. Ich den­ke dabei immer an Shake­speares King Lear: Schau mit dei­nen Ohren / Look with your ears«, zitiert Leit­ner. Und genau­so erle­ben wir es auch. Der Sound springt. Wir sehen plötz­lich mit unse­ren Ohren. Eine ganz neue Dimen­si­on der Erfah­rung. Wir wol­len noch tie­fer ein­tau­chen und begrei­fen, wie frucht­bar die­se ers­te Idee von Bern­hard Leit­ner war, wie umfas­send das Feld ist, auf dem er sich bewegt und wie essen­ti­ell die For­schung ist, die er betreibt: »Ich habe foto­gra­fiert, notiert, aber es war sehr schwer, mei­ne Erkennt­nis­se mit­zu­tei­len. Es ist heut­zu­ta­ge manch­mal noch schwer. In mei­nen Kör­per­ar­bei­ten bin ich ja sehr weit gegan­gen. Ich weiß, dass wir in der Haut akus­ti­sche Zel­len haben, dass wir in der Lage sind, Töne über die­se Zel­len auf­zu­neh­men. Das ist sehr span­nend, da weiß man noch sehr wenig darüber.«

Wir gehen einen Stock höher und stau­nen nicht schlecht, denn es eröff­net sich uns ein hoher licht­durch­flu­te­ter Raum. »Der etwas düs­te­re Raum hat­te ein soge­nann­tes Kalt­dach aus über die Jah­re gedun­kel­tes Holz. Ich habe das Dach iso­liert und die Dach­flä­chen weiß gestri­chen und so bekam das impo­san­te Gebälk die gan­ze Auf­merk­sam­keit und der Raum einen neu­en Cha­rak­ter«, bemerkt Leit­ner. Im Raum ent­de­cken wir die berühm­te Ser­pen­ti­na­ta. Zwei­mal 24 Laut­spre­cher auf zwei 25m lan­gen Indus­trie­schläu­chen. Die­se Instal­la­ti­on geht auf die frü­hen Ideen Leit­ners zurück. Es ist eine Instal­la­ti­on, die sich orga­nisch im Raum ver­hält, von allen Sei­ten zugäng­lich. Wir stel­len uns hin­ein, der Ton rauscht an uns vor­bei und bil­det dabei Lini­en. Es sind die archi­tek­to­nisch gezeich­ne­ten Lini­en als Hör-Lini­en, also nur durch Ton erzeugt, von denen Leit­ner vor­hin sprach. Man kann sich zwi­schen die­sen Lini­en bewe­gen und schließt man die Augen, ist es wie ein Gebil­de. Das Sta­ti­sche fängt an zu flie­ßen, danach fol­gen Punk­te, der Raum wird durch vie­le Punk­te abge­steckt und gefühlt abs­trak­ter. Unfass­bar, was mit Ton alles mög­lich ist. Der Ton lässt Skiz­zen im Ohr entstehen.

Das nächs­te Objekt nennt sich Pul­sie­ren­de Stil­le: zwei par­al­lel hän­gen­de Metall­plat­ten, jeweils 1500mm x 2500mm groß und 3mm stark. Wir stel­len uns dazwi­schen hin­ein. Eine Schwe­bung aus 74 Hz und 85 Hz ver­mischt sich. Es ist ein Pul­sie­ren, mono­phon, das die Plat­ten anregt und die Plat­ten wie­der­um strah­len die­se Schwin­gung gegen­ein­an­der ab. Das dringt tief in das Inners­te des Kör­pers ein. Wir füh­len uns schwer. Man macht einen Schritt raus und da ist nichts außer Lee­re und Stil­le. Leit­ner stellt klar: »Das ist rei­ne Vibra­ti­ons­ar­beit. Da gibt es kei­ne Lini­en und Punk­te. Das Volu­men des Raums ist enorm. Eine tie­fe Fre­quenz, die das Ohr gar nicht hört, aber über­tra­gen über die Vibra­tio­nen hören und spü­ren wir den lei­se pul­sie­ren­den Raum.«

Dann dür­fen wir uns hin­set­zen, um über Kopf­hö­rer die Arbeit mit dem Titel Kopf­räu­me zu erle­ben. Es han­delt sich um Arbei­ten, die für den Kopf kom­po­niert wur­den. Der Kopf ist der Auf­füh­rungs­ort – das ist die Idee. Die Bewe­gun­gen der Töne sind für den Kopf gemacht. Plötz­lich geht im Kopf etwas spa­zie­ren. Den Aus­druck einer »Hoh­len Bir­ne« kann man auf ein­mal nach­voll­zie­hen. Der Kopf wird frei, wir schal­ten den Ver­stand aus und kon­zen­trie­ren uns nur mehr auf das Inne­re. Leit­ner fasst es für uns zusam­men: »Man dreht die Augen um 180° und schaut zu, was im Kopf pas­siert. Als wenn es kein Gehirn gebe. Für man­che Men­schen wahr­schein­lich unheim­lich …« Ja, mag sein, für uns befrei­end, beein­dru­ckend, leben­dig. Es über­kommt uns die Lust, selbst mit dem Künst­ler zu expe­ri­men­tie­ren. Die­se Labor­ar­beit mit all ihren Ent­de­ckun­gen, das stel­len wir uns berei­chernd vor.

Der fol­gen­de Raum, in den wir geführt wer­den, ist der höchs­te Raum, der schließ­lich bis in den Silo-Turm des Gebäu­des ragt. Hier kann Bern­hard Leit­ner jene Unter­su­chun­gen durch-füh­ren, die Höhe erfor­dern z. B. sei­ne Klang-Spie­ge­lun­gen. Wir bli­cken an die wei­ße Wand, ein­fach nur an die Wand, da ist kein Laut­spre­cher und den­noch gibt die Wand einen Ton von sich. Es ist wie­der ein Sehen über die Ohren. Leit­ner löst das Rät­sel für uns auf: »Es ist eine Art Raum­ges­tik. Der Ton wird an die Wand pro­ji­ziert als Strahl. Der Ton ist bild­lich da. Man kann ihn hap­tisch ergrei­fen, man will ihn ertas­ten. Wir sind hier in der rei­nen Phy­sik. Ein­falls­win­kel ist gleich Aus­falls­win­kel. Ich ver­wen­de den Para­bol­spie­gel nicht als Emp­fän­ger, son­dern als Sen­der. Den ver­ti­ka­len Strahl sen­de ich über einen Reflek­tor an die Wand. In einer nächs­ten Vari­an­te kann ich den Strahl im Raum wan­dern las­sen. Es ist eine Cho­reo­gra­fie von akus­ti­schen Erschei­nun­gen. Wenn man im Refle­xi­ons­win­kel steht, hört man ihn, sonst nicht. Das hängt dann von der Archi­tek­tur des Rau­mes ab, wie sich der Strahl bewegt. Ich hat­te in Graz die Aus­stel­lung Moving Heads. Im Video haben wir die im Raum wan­dern­den Ton-Strah­len gra­fisch für das Auge eingezeichnet.«

Im sel­ben Raum steht auch noch die soge­nann­te Raum-Wie­ge. Ein Pen­del­raum. Man spürt den Ton von unten. Leit­ner hat die­se 1975 im New Yor­ker Loft selbst gebaut. »Ich konn­te Objek­te viel­fach erst dann rea­li­sie­ren, sobald es tech­no­lo­gisch mög­lich war. Ich brauch­te Inge­nieu­re, die mir dabei gehol­fen haben, Gerä­te zu bau­en, denn es gab damals am Markt kei­ne Gerä­te, um Töne exakt zwi­schen einer Viel­zahl von Ton-Quel­len zu bewe­gen. Die Ent­wick­lung der Sound-Tech­no­lo­gie und die dar­an anschlie­ßen­de Sound-Soft­ware haben mei­ne Arbeit nicht nur beglei­tet, son­dern auch inspi­riert«, erklärt er.

Wir haben in die­sen Stun­den im Leitner’schen Akus­tik-Uni­ver­sum nur einen klei­nen Aus­schnitt des Gesamt­kunst­werks erle­ben dür­fen, doch die­se künst­le­ri­schen Ideen haben uns im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes »die Ohren geöff­net«. Am eige­nen Leib haben wir erfah­ren dür­fen, wie gren­zen­los Raum sein kann, wie unend­lich Zeit ist und was pas­siert, wenn Raum und Zeit archi­tek­to­nisch ein­ge­setzt wer­den. Wir ver­ab­schie­den uns mit einem Auf Wie­der­se­hen, denn sobald die neu­en Aus­stel­lungs­räum­lich­kei­ten gegen­über eröff­nen, wer­den wir es uns nicht neh­men las­sen, nach Gain­dorf im Wein­vier­tel zu fah­ren, dann viel­leicht sogar bequem mit der Bahn.


Der Arti­kel ist in der Print-Aus­ga­be 3.21 erschienen

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