ATHAR JABER + DISTRETTO LAPIDEO BRESCIANO
Athar Jaber wurde als Sohn irakischer Eltern in Rom geboren und wuchs zwischen Rom, Florenz und den Niederlanden auf. Derzeit lebt und arbeitet er als Künstler in Antwerpen, Belgien, wo er außerordentlicher Professor für Skulptur an der Royal Academy of Fine Arts ist. Er hat persönliche Ausstellungen verwirklicht und an Ausstellungen in der ganzen Welt teil-genommen; seine Werke wurden von privaten und öffentlichen Sammlungen erworben, wie von der Barjeel Art Foundation, dem Palästi-nensischen Museum, dem Nationalen Museum der Schönen Künste von Havanna und dem Hauptsitz der FAO in Rom.
Da er mit den Bildern des Golfkriegs aufwuchs, kam sein expressiver intimer Impuls nicht umhin, sich mit Themen wie Leiden und Gewalt zu befassen. Gleichzeitig entwickelte er durch sein Leben in der italienischen Stadt Florenz, die als Wiege der Kunst angesehen wird, ein tiefes Verständnis für die klassische Skulptur in einer kontinuierlichen Spannung auf der Suche nach idealer Schönheit.
Der Punkt, an dem sich diese beiden Szenarien begegnen, ist der Ursprung der Intensität von Jabers Sprache, die stetig nach vorne denkt, bis hin zu einer Reflexion, die irgend-wie das Hinfällige und das Dauerhafte, das Flüchtige und das Konstante, das Veränderliche und das Verbleibende harmonisiert.
Seine Forschung zeichnet sich durch einen neuen Ansatz zur Herstellung von Kunststoff aus. Der innovative Charakter seines Denkens und seiner künstlerischen Praktik bedeutet, dass er sich nicht mit bestehenden Formeln und Kategorien zufriedenstellen lässt, sondern stets neue Wege eröffnen möchte, indem er sich mit dem Experimentieren für eine freiere Skulptur im Vergleich zum Bildhauerkonzept befasst. Experimentieren, denn modern zu sein bedeutet heute, das Risiko einzugehen, die Gelegenheit, den Kairos, zu nutzen. Es bedeutet zu wagen: nicht mit der bestehenden Tradition, den Formeln und Kategorien zufrieden zu sein, sondern neue Wege zu eröffnen, eine Führungsrolle einzunehmen.
Wenn es wahr ist, dass Skulptur nach den Worten des Kunstkritikers und Verlegers Marco Meneguzzo „heute die am schwierigsten zu definierende Disziplin ist”, stimmt es ebenso, dass sich in diesen Umkreis mit seinen unscharfen und so wenig dekodierbaren Umrissen eine beispiellose Bemühung einfügt, die mit dem prozeduralen Charakter von Jabers „Friendly Fire“-Projekt in Zusammenhang steht. Ein ehrgeiziges Vorhaben, das in Zusammenarbeit mit renommierten internationalen Partnern die Fertigung von vier monumentalen Steinskulpturen mit unkonventionellen Methoden wie der Anwendung ballistischer Technologien zum Ziel hat. In Zusammenarbeit mit der Königlichen Militärakademie von Brüssel und dem belgischen Verteidigungsministerium werden die großen Marmorblöcke in den entsprechen-den militärischen Ausbildungseinrichtungen mit Schusswaffen und Sprengstoff geformt.
Durch die Aneignung der zerstörerischen Methoden, die häufig mit terroristischen Organisationen verbunden sind, führt Jaber einen großen, revolutionären Paradigmenwechsel durch. Er verschiebt den Schwerpunkt des Denkens, reflektiert das Thema Gewalt und wechselt von seiner inhärenten Vernichtungskraft zu seiner viszeralen schöpferischen Kraft. In einer der vielen bedeutenden Passagen seines Buches „Die Gewalt und das Heilige” behauptet René Girard: „Gewalt kann nur in dem Maße getäuscht werden, in dem man ihr nicht jeden Ausbruch entzieht und ihr etwas anbietet, das sie einfangen kann.” Dieses etwas wird in den Absichten des Künstlers zu Gewalt selbst und seine Methodik zwangsläufig im Dienste eines generativen Aktes. Eine innovative sprachliche Lösung, bei der die Skulptur durch Modellierung eines dreidimensionalen Festkörpers nach neuen Koordinaten entsteht.
«The artist’s role is not one of mere entertainment. Artists have a responsibility towards society. We are privileged with a unique freedom and our creative practices have the power to affect change. Our position must be used to address problematic issues and contribute positively to society. I want to emphasize that negative experiences of violence can be transformed into something positive and beautiful. This project can be regarded as an artistic contribution to a soft policy of counter terrorism. It effectively aims to undo the damages inflicted by ISIS to the world cultural heritage and cancel their actions.»
Während der jüngsten Konflikte im Nahen Osten wurden viele Kulturerbestätten von terroristischen Organisationen beschädigt oder zerstört. Ein Problem, das uns alle betrifft, unabhängig von unserer geografischen Lage, und das uns ganz unmittelbar betrifft. Das kulturelle Erbe gehört zu unserer gemeinsamen globalen Geschichte und ermöglicht es uns, mit verschiedenen Kulturen in Kontakt zu treten, uns an unsere Vorfahren und ihre Geschichten zu erinnern, auch und vor allem zum Nutzen künftiger Generationen. „Friendly Fire” bietet eine einzigartige Gelegenheit, diese Werte und diesen Reichtum zurückzugewinnen und öffentliche Institutionen und private Unternehmen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenzubringen, um eine ehrgeizige Vision zu verfolgen: die kreative, innovative und konstruktive Erhaltung des historischen Erbes der Menschheit.
Nach ihrer Verwirklichung werden die vier monumentalen Skulpturen in verschiedenen internationalen Museen auf der ganzen Welt ausgestellt, um die Nutzer über das Thema aufzuklären. Anschließend werden sie über Auktionen und/oder Kunstgalerien verkauft. Ein Teil des Erlöses wird an die UNESCO gespendet, damit durch Schusswaffen beschädigte Werke in Konfliktgebieten wie Syrien, Irak oder Afghanistan wiederhergestellt werden können.
Zu den Partnern, die das Projekt begeistert begrüßten, zählt auch das „Distretto Lapideo Bresciano (Gebiet der Steinmaterialien in Brescia)“, das beschloss, dem Künstler das Rohmaterial zur Verfügung zu stellen. Das Gebiet deckt die gesamte Marmor- und Granitverarbeitungskette ab. Seine Mission ist es, die hervorragenden Materialien und Fähigkeiten seiner Mitglieder zu fördern und sie bei der Entwicklung ihrer Aktivitäten zu begleiten. Darüber hinaus soll das gesamte historische und kulturelle Kapital der Steine von Brescia geschützt und auf sie aufmerksam gemacht werden. Das Gebiet hat sich seit jeher im Umweltschutz engagiert, indem kontinuierlich nach Lösungen für alternative Verwendungszwecke und die Verwertung der Verarbeitungsrückstände gesucht wurde, auch in Zusammenarbeit mit öffentlichen und privaten Behörden. Brescia (Italien) und ihre Provinz stellen das zweite italienische Marmorbecken dar. Über dreihundert spezialisierte Unternehmen exportieren rohe und verarbeitete Steine in die ganze Welt. Vom Bergbau bis zur Verarbeitung, von der Handwerkskunst bis zur industriellen Produktion ist das Brescia-Steinematerial-System als eine Erfolgsgeschichte der nationalen Wirtschaft sowie als ein Stück Geschichte der italienischen Kultur, der Kunst und des alltäglichen Lebens anzusehen. Das Gebiet versammelt die Unternehmen, die auf die Gewinnung und Verarbeitung der typischen Steine aus Brescia spezialisiert sind: Botticino Classico, Botticino Semiclassico und Bottici-no Fiorito, Brekzien-Sedimentgesteine Breccia Aurora, Breccia Oniciata, Porphyr von Valcamonica sowie Verarbeitungsunternehmen von Steinmaterialien aus der ganzen Welt.
Stein ist Stein, setzt sich aus Notwendigkeit durch und lässt keinen Ausweg frei. In Meneguzzos Worten ausgedrückt: „Sobald alles andere beseitigt ist, bleibt die Materie und sogar die Form der Skulptur – nur um traditionelle Kategorien zu verwenden, die aber nicht leicht zu vernachlässigen sind – dies er-scheint als eine Art nächster Schritt des Entgegenkommens oder des Kontrasts zum Material, das jedoch idealerweise das Hauptelement bleibt”. Der Stein ist das Material in Jabers Poetik, der absolute Protagonist all seiner Produktion, das Ergebnis eines Gedankens, der auf andere Gedanken trifft und sich mit ihnen vermischt: Stein, der zum kollektiven Gedächtnis gehört und einen Dialog mit der Zeit und mit vergangenen und zukünftigen Räumen sicherstellt, der der Arbeit ein langes Leben garantiert und zu einem Identitätsvehikel wird. Stein, der als Anreiz zur Meditation wirkt und über das Konzept des Raumes der Skulptur hinausgeht, er wird nicht mehr als geschlossener und unpassierbarer Ort verstanden, an dem sich das künstlerische Objekt zeigt und lebt, sondern als Gegenstand-Raum in einer osmotischen Beziehung, völlig offen und durch den ihn umgebenden Raum erweitert.
Immerhin ist Jabers Sensibilität in die Welt eingetaucht, offen für die Welt und zu-gleich von ihr durchdrungen. Deshalb nimmt er bei der Vorstellung dieses ehrgeizigen Projekts die lange Geschichte der skulpturalen Tradition auf sich, meidet aber deren sterile Projektion.