Wir sprechen mit dem bemerkenswerten Chef Massimo Bottura und reflektieren mit ihm über die Zeit der Isolation, den Neuanfang in Italien und die wesentliche Zutat der Kunst. Seine Tochter Alexa war es, die ihn auf die Idee der Instagram-Serie „Kitchen Quarantine“ während der Ausgangssperre brachte. Abend für Abend teilte Bottura gemeinsam mit seiner Familie Rezepte, Inspirationen, Gedichte und Musik von Freunden aus der ganzen Welt auf Instagram. „Es ist kein Kochen im klassischen Sinne, sondern ein Konzept, um die Stimmung zu heben und trotz „Social Distancing“ gemeinsam Zeit zu verbringen und zu lernen, wie wir die Lebensmittel, die wir in unseren Vorratskammern finden, am besten verarbeiten können. Kochen ist eine Geste der Liebe, und sie mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen, macht mich glücklich und bringt einen wesentlichen Mehrwert in diesen neuen Alltag“, beschreibt Massimo Bottura.
Einen Platz in Botturas Restaurant Osteria Francescana in Modena zu ergattern, ist gar nicht einfach. In den vergangenen Jahren gab es stets Wartelisten dafür. Dieses besondere Erlebnis ist international sehr begehrt und es musste seitens der Gäste von langer Hand geplant werden. In den vergangenen Monaten während dieser außergewöhnlichen Schließzeit entwickelten Bottura und sein Team vier Pakete, die er „Futures“ nennt: „Es sind vier verschiedene Erlebnis-Kombinationen in limitierter Serie, um in unsere Welt einzutreten und Zugang zu Reservierungen zu erhalten. Innerhalb kürzester Zeit waren sie ausverkauft, was uns bestätigt, dass die Menschen es kaum erwarten können, wieder zu reisen und neue gastronomische Erfahrungen zu machen“, meint Massimo Bottura optimistisch. Parallel baute er mit seinem Team einen Lieferservice für sein Bistro Franceschetta58 auf: „Franceschetta58 at home“. Es wird ein Gericht zum Zubereiten geliefert, mit Zutaten, die teilweise bereits von der Küche der Franceschetta58 vorbereitet wurden, aber zu Hause fertiggestellt werden sollen, ähnlich einer „Four-Hands-Kitchen“, um die Qualität zu gewährleisten.
Selbstverständlich engagierte sich Bottura, trotz Quarantäne, auch weiterhin für sein Programm „Refettori“ (Speisesaal) der gemeinnützigen Organisation „Food for Soul“, die er mit seiner Frau Lara Gilmore ins Leben gerufen hat, um die Verschwendungskultur von Nahrungsmitteln zu reduzieren und die soziale Inklusion zu fördern. „Wir dürfen nie vergessen, dass die Schwächsten auch diejenigen sind, die gegenwärtig vor der größten Herausforderung stehen“, argumentiert Massimo Bottura und erklärt weiter: „Deshalb unterstützen wir jetzt mehr denn je unsere Mensen, um sicherzustellen, dass sie weiterhin alle Menschen unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen aufnehmen und verpflegen können. Auf cookingisanactoflove. org sammeln wir Rezepte aus unseren Mensen und von all den Menschen, die sich an unseren Kampagnen beteiligen wollen. Wir wollen eine Plattform schaffen, auf der wir Ideen und Kochtechniken austauschen können, um Lebensmittelabfälle zu vermeiden.“
Als wir mit Massimo Bottura sprechen, steht er kurz vor der Wiedereröffnung der Osteria Francescana, und er und sein Team können es kaum erwarten, die Gäste mit einer neuen Menüfolge begrüßen zu dürfen, die vom Album der Beatles Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band inspiriert wurde. Unabhängig von der derzeitigen Gesundheitskrise setzt sich Massimo Bottura schon seit langem für Nachhaltigkeit ein und sorgt sich um die Zukunft des Essens und seine Kultur. Für den Chef ist es heute mehr denn je notwendig, mit dem Bewusstsein zu beginnen. Mit dem Format „Kitchen Quarantine“ ist es ihm gelungen, seine Herangehensweise zu erklären, um Verschwendung zu vermeiden und Ressourcen zu erkennen. Der Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln beginnt in erster Linie mit dem Bewusstsein, wie man einkauft und wie man das Potenzial jeder einzelnen Zutat nutzt, insbesondere in der lokalen Küche: „Nur so werden wir in der Lage sein, die Nahrungsmittelüberschüsse aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die Schoten von Erbsen, die Stangen vom Spargel oder Sellerie, die Schale vom Ingwer… das alles sind Elemente, die den Wert nicht wegnehmen, sondern hinzufügen! Sowohl der Akt des Kochens als auch der Akt des Essens muss zu einer ethischen Entscheidung werden und darf nicht länger nur eine Frage des Geschmacks sein. Fragen wir uns, woher das kommt, was wir in unseren Schränken haben, was seine Vergangenheit ist, aber auch und vor allem, wie wir seine Zukunft sehen.“
Die Kunst ist unser Panorama von Ideen, aus dem wir jeden Tag schöpfen, um nie aufzuhören, uns immer wieder neue Gerichte und neue Projekte auszudenken. Die Kunst hat unseren Wandlungen in der Küche und darüber hinaus Kontinuität verliehen, sie hat unserer Entwicklung eine grundlegende Richtung gegeben.
Im Jahr 2014 veröffentlichte die FAO einen Bericht, in dem erklärt wurde, dass 1/3 der produzierten Nahrungsmittel weggeworfen werden, während 815 Millionen Menschen vom Hunger betroffen sind. Diese Zahlen veranlassten Bottura und sein Team im Jahr 2015, dem Aufruf der Expo zu folgen, deren Thema die Ernährung des Planeten war: „Wir haben uns gefragt, warum wir uns, anstatt darüber nachzudenken, mehr zu produzieren, nicht darauf konzentrieren, wie wir die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen besser nutzen können? Wie können wir die schutzbedürftigen Menschen in unserer Gesellschaft wirklich ernähren? Warum ihnen nicht an Orten dienen, wo Schönheit im Mittelpunkt steht? Wie können Köche durch ihre Fähigkeiten und ihr Wissen Veränderungen herbeiführen?“
Auf diesen Grundlagen entstand in Zusammenarbeit mit der Caritas 2016 dann auch die Organisation „Food for Soul“. Zusammen mit seiner Frau Lara Gilmore wollte er ein kulturelles Projekt ins Leben rufen, um durch die Qualität gemeinsamer Ideen, die Kraft der Schönheit und Gastfreundschaft die Verschwendung von Lebensmitteln und die soziale Isolation zu bekämpfen. Heute sind diese Projekte konkrete Beispiele dafür, wie vereinte und integrative Gemeinschaften selbst an Orten möglich sind, wo man es am allerwenigsten erwartet: „Unser tägliches Engagement ist nur ein Beispiel dafür, was jetzt und sofort getan werden kann, und wir hoffen, dass es diejenigen, die an einen möglichen und erreichbaren Wandel glauben wollen, weiterhin inspirieren wird“, erklärt Massimo Bottura und fährt überzeugend fort: „Mein Wunsch und der meines Teams ist es, dass es eines Tages in jeder Stadt der Welt ein „Refettorio“ geben wird. Dass ein Projekt wie dieses nicht die Ausnahme, sondern die Regel einer integrativen und fürsorglichen Gesellschaft ist. Innovation ist für uns ein ständiges Ziel. Auf diese Weise halten wir unsere Leidenschaft für das, was wir gerne tun, am Leben, und so arbeiten wir jeden Tag mit einem Traum im Kopf und haben alle Hände voll zu tun.“
Während der Recherche haben wir erfahren, dass Massimo Bottura neben seinem sozialen Engagement auch der Kunst sehr nahe steht und sich sehr für moderne und zeitgenössische Künstler*innen interessiert. „Kunst und Kultur sind für mich immer schon die wichtigsten Zutaten gewesen. In der Küche wie im Alltag sind sie Werkzeuge, um an Wissen zu gelangen. Wissen bringt Bewusstsein, und daraus erwächst ein Gefühl der Verantwortung. Kunst ist ein grundlegendes Werkzeug, um als Person und gleichzeitig gemeinsam mit der Gemeinschaft zu wachsen.“ Das vermittelt Massimo Bottura seinem Team jeden Tag, damit er sich nicht im Alltag verliert, sondern immer ein Fenster für die Poesie offenlässt, für den unerwarteten Geistesblitz, der jederzeit von einem Musikstück, einem literarischen Werk oder einem Kunstwerk ausgehen kann. „Die Kunst ist unser Panorama von Ideen, aus dem wir jeden Tag schöpfen, um nie aufzuhören, uns immer wieder neue Gerichte und neue Projekte auszudenken. Die Kunst hat unseren Wandlungen in der Küche und darüber hinaus Kontinuität verliehen, sie hat unserer Entwicklung eine grundlegende Richtung gegeben.“ In der Osteria Francescana blickt der Chef stets mit kritischen Augen auf die Vergangenheit, niemals nostalgisch. Jeden Tag bittet er sein Team, die italienische kulinarische Tradition aus 10 km Entfernung zu betrachten.
Das hilft, die Dinge aus einer distanzierten Perspektive zu sehen, den besten Teil davon auszuwählen und in der Lage zu sein, das zu verbessern, was geändert werden kann und muss. Massimo Bottura zieht an dieser Stelle den Vergleich zur Arbeit von Ai Wei Wei: mit der Tradition zu brechen, um nur das Beste von ihr zu bewahren, um damit eine neue Zukunft zu gestalten. Dies ist auch die Idee hinter einem seiner weltbekannten Gerichte „La Parte Croccante della Lasagna“, eine Mischung aus hervorragenden Zutaten, fortschrittlichen Kochtechniken und handgemachter Pasta. Es geht im Kern darum, das Beste aus der Vergangenheit in die Zukunft zu bringen. „Tradition in der Evolution“ ist die Essenz seines Ansatzes.
Das neue Menü, das Bottura für die Wiedereröffnung der Osteria Francescana kreiert, ist das perfekte Beispiel dafür, wie Musik (in diesem Fall: vom Album der Beatles Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band) zusammen mit jeder anderen künstlerischen Form inspirieren und ihre eigenen Grenzen überschreiten kann, indem sie zu einem Gericht wird, das Emotionen vermittelt und eine Geschichte erzählt. „Mit unseren Gerichten wollen wir die Gegenwart und die Vergangenheit erzählen, aber auch einen Ausblick auf die Zukunft geben, wir wollen Gäste mitnehmen, die unsere bewegenden Erinnerungen, aber auch unsere tiefsten Leidenschaften teilen.“