Das Frauen- und Naturbild von Zipora Rafaelov lebt wesentlich von Licht und Schatten
Frauen. Frauen, eingesponnen in unentwirrbares Liniengespinst. Frauen, auf sich zurückgeworfen. Elfenzart, spinnwebfein, dornröschenhaft entrückt. Frauen, die sich selbst genügen. Frauen, die befähigt scheinen, der Welt wie Scheherazade Geschichten zu schenken oder in einem Harem Strippen zu ziehen. Manchmal scheinen die Protagonistinnen von Zipora Rafaelov – aus der Perspektive des Abendlandes – geheimnisvoll exotisch, mitunter erotisch mit sich beschäftigt, während sie Betrachterphantasien herausfordern können wie Batseba im Bade oder eine Odaliske von Delacroix. Das stört sie aber nicht. Sie sind selbstbewusst und stark. In Rafaelovs charakteristischen Licht- und Schattenzeichnungen sind sie geborgen wie in einem Kokon. Er gestattet freizügige Posen, schirmt sie ab, schützt sie.
Märchen und Mythen – wie sie etwa in den Metamorphosen Ovids überliefert sind – erlauben das facettenreiche Spiel mit Identität, das Rafaelov propagiert: dabei Rollen- und Geschlechterzuschreibungen hinterfragend sowie die Rolle, in die sie selbst schlüpft. »In allen weiblichen Figuren bin auch ich porträtiert«, sagt sie. »Eva, das bin ich; die Frauen, sie sind Eva.« »Eva« betitelt sie einen Cut-out aus dem Jahr 2006 und 2018 eine 3D-Zeichnung. Oft konspirieren Frauenbild und Naturauffassung auf verschlungenen Wegen. Eine Seelenverwandte scheint die mythologische Figur Daphne, die zu ihrem Schutz in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde, als Apollon ihr nachstellte.
Weibliche Figuren tauchen in Rafaelovs Werk kurz nach der Jahrtausendwende auf: Verschiedene Werkreihen sind ihnen exklusiv gewidmet. 2017 beginnt die Arbeit an der kleinformatigen Skulpturenserie »Woman« im Material Kunststoff. Von 2017 bis 2019 entsteht die dreizehnteilige Werkgruppe »Relaxing Woman «: Sind die ersten sechs Zeichnungen Ausdruck von »Protest und Verweigerung, dem Haushalt nachzugehen », so wenden sich die Frauenfiguren in den späteren Arbeiten sich selbst zu, »um sich zu finden«. In den Jahren 2019 und 2020 konzipiert Rafaelov die neunteilige Serie »A Day in Lady’s Life». »Day Dream « ist die Werkreihe überschrieben, an der sie gegenwärtig arbeitet. Hier reitet eine weibliche Figur im kurzen Kleid und mit Hochfrisur auf einem Hund, dort rekelt sich eine Frau mit Fischschwanz oder es weist eine Mondsichel den Weg durch eine Galaxie der Phantasie. Hinsichtlich der Darstellung von Frauen mit schmaler Taille und femininem Flair mag man an Illustrierte oder Modemagazine der 1950er Jahre denken, wo versierte Zeichner die moderne Frau als Zauberfee im Eigenheim betrachteten. Elegant gekleidet, erledigte sie den Haushalt dank der neuen elektrischen Helfer in der (Wasch-)Küche mit links und fand noch Zeit, für den Besuch die Salzstangen im Rauchglasbehältnis zu arrangieren. Mit Ironie und Poesie nimmt sich Rafaelov des ewig Weiblichen jenseits jenes Korsetts an. Frauen lockern sich.
Die Künstlerin exponiert und karikiert. Ihre Miniaturen weisen 2017 den Weg. Die Damen zeigen Bein und Busen, jedoch nicht zwingend für einen imaginierten Betrachter. Sie wirken stillvergnügt und ganz bei sich, bisweilen wie in einem Tagtraum. Eva brüstet sich zwar, aber keiner starrt sie an. Ebenso wenig prostituieren sich die Frauen in den Werkzyklen »A Day in Lady’s Life« oder »Relaxing Woman«, wo das Entspannungsmotiv schon im Titel anklingt und die Frau wie in einem Vexierspiel eingebettet ist in einen dschungelartig, ornamentalen Zusammenhang. Die Kunstgeschichte kennt das Motiv der zurückgelehnten Frau (reclining woman). Rafaelov dekliniert es naturnah. In einem Cut-out des Jahres 2014 ragt ein menschlicher Arm aus einem labyrinthartigen Liniengeflecht inmitten von Blüten und Blättern. Die Serie »Relaxing Woman« greift diese Einbettungsmethode später auf und verfeinert sie. Rafaelov komponiert überaus delikate Suchbilder, die das Auge über den Augenblick hinaus betören – und manchmal irritieren oder erschrecken.
Viel gemein haben ihre Frauengestalten mit den Protagonistinnen von Unica Zürn (1916–1970), der Berliner Zeichnerin und Dichterin: wiederentdeckt von der 59. Kunstbiennale in Venedig, die ausgeprägtes Interesse an Kunst von Frauen, surrealistischen Formulierungen und deren Vorwegnahmen in der Kunstgeschichte demonstriert. Rafaelov distanziert sich von Surrealismus oder Symbolismus. Ihren Arbeiten liegt die »Sehnsucht nach einer friedlichen und heilen Welt« zugrunde, »einem Paradieszustand, der verloren ist« – nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer Kriegserlebnisse und Herkunft: »Das Streben nach Frieden und Vollkommenheit ist in der Thora verankert und manifestiert sich in all meinen Werken.« Rafaelovs Vater fiel im 6‑Tage-Krieg als sie 12 Jahre alt war.
Ihre Kunst steht auf dem Fundament symbolstarker Figürlichkeit, die in Naturräume mit wuchernder Flora eingewoben ist. Das Feinfühlige, Fragile und Fantasievolle verbindet sie mit Zürn. Beide Künstlerinnen leitet kein Trend. Sie sind vollkommen ihrem eigenen Ausdrucksbedürfnis verpflichtet. Ihren OEuvres ist anzusehen, dass die Bildsprache von innen kommt. »Ich schaue nicht nach außen, ich mache sichtbar, was in mir ist», sagt Rafaelov, sanft die romantische Klaviatur anschlagend. Wandel und Anverwandlung konstituieren ihr Werk. Ein Fischschwanz genügt, um das Kapitel Meerjungfrau aufzublättern und einzutauchen in den ausufernden Wirkungskreis der Figur der Undine: seit ihrem Auftauchen im Kunstmärchen von Friedrich de la Motte Fouqué je nach Standpunkt Traum- und Schreckensbild zugleich. »Auf den Grund schauen« nennt Rafaelov 2021 ihre Rauminstallation in der Kunsthalle Mannheim. Nicht (nur) der Meeresgrund ist gemeint. Seestern, Insekt, Vogel und Wasservogel, Reptil, Delphin und Katze sind neben menschlichen Figuren eingewoben in diese Komposition: eine Fadenzeichnung. Vorhanggleich weht sie förmlich herab von der Decke des Raumes, gestaltet mit dem 3D-Stift, den Rafaelov seit fünf Jahren einsetzt. Sie sind »gewissermaßen in die Luft gezeichnet». Das Umgebungslicht zeichnet mit: Die Schattenbilder auf der Wand verstärken den Eindruck von Raumtiefe. Der Mensch erscheint neben seinen Mitgeschöpfen. Es geht nicht um hierarchische Einordnung, sondern um das Bild des Menschen als eine Kreatur unter vielen.
Am Anfang steht in Rafaelovs Werk die Zeichnung auf Papier. Inspiriert hat sie die Höhle von Lascaux. Manchmal ist es ein kleines Ereignis, das Großes nach sich zieht. 1985 sah die Künstlerin einen Film über die jungpaläolithsche Höhlenmalerei in der Dordogne. Erst wenige Jahre zuvor war sie zum Weltkulturerbe erklärt worden. Die Kunststudentin faszinierte die Vorstellung, »mit reduzierten Linien räumlich fassbare Figuren zu zaubern»: Aus der Skizze und dem flüchtigen Notat heraus entwickelt sie ihre intensive Kunst. Bald genügt ihr die zweidimensionale Betrachtungsweise nicht mehr. 1987 entdeckt sie Draht als Werkstoff, kann nun in der dritten Dimension arbeiten. Diese Phase endet bald. Zwei Jahre später führt Rafaelov erste Scherenschnitte aus. Sie entdeckt dafür Tortenpapier. Die geschnittenen Formen sind alltägliche Gegenstände, wie sie sie auch bei ihren Objekten ins Visier nimmt. In den 1990er Jahren wird der Faden wichtig. Die erste Faden-Installation im Raum realisiert sie im Jahr 1993 am Flugsteig B‑54 am Flughafen Düsseldorf.
Faden und Acrylfarbe betrachtet Rafaelov fortan als zentrale Werkstoffe. Bald entstehen Raumzeichnungen, die sich zu Rauminstallationen förmlich weiterspinnen lassen. Fäden bedingen das lineare Gefüge im luziden Ereignisfeld. Licht und Schatten sind elementare Mitwirkende. Die beredten Werke können in Abhängigkeit von ihrer Positionierung in einem helleren oder abgedunkelten Raum sowie infolge künstlicher Beleuchtung ihre Wirkmächtigkeit verstärken. Der ausgeprägte Raumbezug, der sich dem Betrachter unversehens mitteilt, verdankt sich der umsichtigen Berücksichtigung außerkünstlerischer Parameter. Rafaelov sagt: »Ich arbeite mit Licht als bildhauerischem Material.« Der Gebrauch des 3D-Stiftes eröffnete völlig neue Möglichkeiten in dieser Hinsicht.
Die Figur-Grund-Dialektik, wie sie zweidimensionaler Kunst innewohnt, extrapoliert die Israelin und überträgt sie mit leichter Hand, wie es scheint, so in den Raum, dass der Rezipient Faden und Kubatur – die profanen Parameter – beinahe aus den Augen verliert und den Eindruck gewinnt, dass die Künstlerin die Impressionisten weiterdenkt in die dritte Dimension. Ein Schwebezustand manifestiert sich. Durchweg geht es der ehemaligen Studentin von Michael Buthe und Meisterschülerin von Beate Schiff um das Verbringen von Ideen und Motiven in eine fluktuierende Sphäre, in ein Zwischenreich, wo Übergänge zwischen Traum und Realität, physischer Erscheinung und psychologischer Eigengesetzlichkeit verwischen können. Organische Einbindung strukturiert die Liniendschungel: All-over-Konstruktionen, die sich in Rafaelovs zarter Raumkunst zu einem eigenen Universum gleichsam natürlich fortpflanzen, sind sie erst einmal induziert. Um dieses Fortpflanzungsmodell zu verstehen, muss man Rafaelov dabei zusehen, wie sie Hand anlegt, Faden um Faden und Figur für Figur den ihnen angemessenen Platz einräumt.
Ihre Sozialisierung im Judentum, Kindheit und Jugend am östlichen Mittelmeer reflektieren ihre Arbeiten indirekt. Mit Draht und Seilen zeichnete auch Gertrud Louise Goldschmidt (1912–1994), die unter dem Namen Gego bekannte Installationskünstlerin, und postulierte einen Bezug zum Raum. Parallelen zu Gego zeigen sich darüber hinaus bezüglich der Hinwendung zur Kunst über einige Seitensprünge – Gego hatte zunächst Architektur und Ingenieurwesen studiert, Rafaelov Journalistik und Ökonomie in Tel-Aviv –, und mit Blick auf die jüdische Herkunft der Künstlerinnen. Während die Nazis aber Gego 1938 ins Exil zwangen, war Rafaelov im Jahr 1981 in Deutschland willkommen. Sie pendelt zwischen Düsseldorf und Tel-Aviv, ihre Wurzeln sind wesentlicher Aspekt ihrer künstlerischen Aussage: »Thematisch orientiere ich mich an meiner jüdischen Identität und greife diese Motive immer wieder auf.« Auch in Werktitel kann das jüdische Erbe Eingang finden, etwa wenn eine Rothaarige als »Gingit« bezeichnet wird. Die Reihe »Black is beautiful« verhandelt, dass Menschen stigmatisiert und aus der Gesellschaft oder (nationalen) Gemeinschaft ausgegrenzt werden können.
Rafaelovs Kunst spiegelt die Vertrautheit mit zwei Welten: der von orientalischen Vorstellungen geprägten und der westlichen. Die Praxis der Levante, die sich wegen des Bilderverbots kein Bild machen darf in der Art, wie wir es kennen, sondern im zeichenhaft Schönen ihren verfeinerten Ausdruck findet, belagert eine Ecke in Rafaelovs Fühlen und Denken. Das Judentum wiederum, darauf weist sie hin, erlässt kein generelles Bilderverbot, sondern ein Verbot von Götzendarstellungen, definiert als dreidimensionale Bildwerke. Unterdessen findet auch das abendländische Weltbild Eingang in ihr OEuvre. Rafaelovs eigenständiges Werk fesselt deshalb, weil Einflüsse verarbeitet werden, die die sensitive Kosmopolitin und Vermittlerin zwischen zwei Kulturkreisen in ihre Kompositionen aufs Hinreißendste und vor dem Hintergrund ihres breiten Kulturverständnisses mit mitunter traumwandlerisch sicherem Gespür für eine lyrisch gedankenreiche Grundierung hineinwebt. Rafaelov schafft ein retinal nachhaltiges Erlebnis.
»Traumversunken« und »Tagträume« wählte sie einst nicht von ungefähr als Titel für Kataloge, und schon lange benetzt »Die Milch der Träume», die sich über die aktuelle Venedig Biennale ergießt, auch ihr Schaffen. Die Leistungsschau der Nationen widmet sich – wie auch Rafaelov – geradezu herzinniglich elementaren weiblichen Phantasien, auch erotischen, wobei die Verbindung zur organischen Natur hervortritt. Verbundenheit und Integrativität sowie Transparenz und Diaphanität sind zentrale Themen Rafaelovs. Vernetzung oder Verflochtenheit kennzeichnen auch die Raumentwürfe. Gegenwärtig arbeitet Rafaelov in vier Medien: Zeichnung, Skulptur, Cut-out, (Raum-)Installation. Licht ist das fünfte. Das Materielle wie Immaterielle ist ein Niederschlag ihrer philosophischen Haltung.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 3.22 REFLECTION erschienen.