Am Anfang war das Wort. Was wie die göttliche Schöpfung klingt, hat bei Lawrence Weiner Methode. Der New Yorker Konzeptkünstler verwandelte Sprache in Kunst. Damit erweiterte er nicht nur den klassischen Werkbegriff, er schuf auch seine eigene Marke. Mit seiner skulpturalen Definition von Wort und Text avancierte Weiner zu den radikalen Erneuerern der Kunst des 20. Jahrhunderts. Porträt eines stillen Minimalisten.
SPRACHKÜNSTLER
SMASHED TO PIECES (IN THE STILL OF THE NIGHT) / ZERSCHMETTERT IN STÜCKE (IM FRIEDEN DER NACHT). Fast drei Jahrzehnte prangerte der Spruch am Flakturm im Wiener Esterházypark. Der Entwurf stammte vom legendären US-Künstler Lawrence Weiner, der 2021 im Alter von 79 Jahren verstarb. Je nach Leseart konnte man Weiners textbasierte Installation als Anti-Kriegs-Parole oder Memorial an den Nationalsozialismus deuten – das war auch das Besondere an Weiners Wortskulpturen, die sich in den meisten Fällen einer konkreten Deutung entzogen. Seine minimalistischen Sinnsprüche in markanten Großbuchstaben und schwarzer Konturierung ließen Raum für Assoziationen und Interpretationen – Poesie und Philosophie nicht ausgeschlossen. Der Schriftzug am Flakturm wurde im Rahmen der Wiener Festwochen 1991 angebracht. Der Ort war voller Geschichte und Erinnerung – für Weiner der perfekte Spielplatz für seine metaphorischen Textpassagen. »Ich interessiere mich für den Unterschied zwischen den Geräuschen am Tag und in der Nacht. Sie boten mir diesen Flakturm an; ich beschloss, diese Arbeit dort zu platzieren. Ich wusste sehr wohl, dass sie eine Metapher hatte. Es war die Arbeit, die in dem Moment hervorkam, vielleicht habe ich in dem Moment an diese Dinge gedacht. Das ist das Großartige an Kunst, sie fängt als eine Sache an und wird dann für jemand anderen etwas anderes. Das ist ihre ganze Funktion.«1 Ursprünglich war die Wandinstallation nur für temporäre Zeit gedacht, am Ende wurden es 28 Jahre. 2019 wurde sie wegen Umbauarbeiten vom Haus des Meeres übermalt. Weiner erfuhr erst im Nachhinein von der Aktion. Es grenzt an Ironie, eigentlich sollte sein Werk gegen das Vergessen ankämpfen, am Ende wurde es selbst zum Opfer. In den Medien zeigte sich Weiner wenig amüsiert: »Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber wer immer den Flakturm neu designt hat, hat einen Scheißjob gemacht.« Und zynisch fügte er hinzu: »Ich kann dem Fortschritt nicht im Weg stehen. Und Wien wird kulturell kollabieren, wenn es nicht ein weiteres Kaffeehaus bekommt. Das gibt es jetzt da oben am Flakturm.«
WORKING CLASS
Weiner und Wien verband schon immer eine besondere Beziehung. In den Neunzigern war er neben Ona B., Evelyn Egerer und Birgit Jürgenssen Mitglied des feministischen Künstlerkollektivs DIE DAMEN. Erst kürzlich wurde ihm posthum der Oskar-Kokoschka-Preis verliehen. Auch bei der Albertina hinterließ der Künstler seine Spuren. Die Bodeninstallation OUT OF SIGHT / AUSSER SICHT auf der Bastei wirkte wie ein überdimensionales Kinderhüpfspiel, das die Passanten animierte, mit dem Kunstwerk zu interagieren. Mit Phrasen wie ASSUMING A POSITION / EINE POSITION EINNEHMEN oder THE DESTINATION IS STRAIGHT ON / DAS ZIEL LIEGT DIREKT VOR UNS ermutigte Weiner einen, neue Perspektiven zu entdecken – eine Art Selbstfindungstrip für jeden von uns. Weiners spielerische Installation war mehr als nur ein Kunstwerk, es war eine soziale Skulptur, eine greifbare Erfahrung und ein Erlebnis für Jung und Alt. OUT OF SIGHT wurde in verschiedenen Sprachen unter anderem in der National Gallery of Victoria in Melbourne (2017), in der National Gallery Singapore (2021) und auf der Art Basel (2022) präsentiert. Weiner zählte zu den letzten großen Künstlern des 20. Jahrhunderts, die ihren ganz eigenen Weg verfolgten. Heute gilt er als einer der einflussreichsten Vertreter der internationalen Gegenwartskunst. Geboren 1942 in New York, wuchs Weiner in der Bronx auf, wo seine Eltern einen Süßwarenladen führten. Als junger Mann hatte er diverse Gelegenheitsjobs. »Ich habe in der Kunstwelt viele Leute getroffen, die mich kannten, seit ich vierzehn oder fünfzehn war, von der Cedar Bar her. Damals arbeitete ich die ganze Zeit; und kein New Yorker Barkeeper weigert sich, dir einen Drink zu geben, wenn du von der Nachtschicht in den Docks kommst, Schiffe entladen hast mit falschen Papieren.«3 Etwa zeitgleich wurde der Abstrakte Expressionismus in den USA groß. Er musste sich da »durcharbeiten«,4 so Weiner rückblickend. »Ich würde sagen, dass Künstler wie John Chamberlain, Donald Judd, Claes Oldenburg und Barnett Newman die wichtigsten Leute für meine Generation waren. Sie zeigte uns, dass man ein männlicher amerikanischer Künstler aus der Arbeiterklasse sein konnte und sich trotzdem mit den sogenannten intellektuellen Aspekten des Lebens auseinandersetzte. Es war nicht nur aus dem Bauch heraus, wie bei den Abstrakten Expressionisten. Die hatten keine Bücher gelesen, sondern waren zum Psychoanalytiker gegangen.

MIT SPRENGSTOFF UND SPRÜHDOSE
Nach einem kurzen Studium der Philosophie und Literatur am Hunter College, reiste Weiner Anfang der Sechziger in das sonnige Kalifornien, wo er im Mill Valley eine Reihe von Explosionen in der Landschaft durchführte, die er als Cratering Pieces bezeichnete. »Ich hatte diese Idee, dass jeder Krater eine spezifische Skulptur bildete. Vier oder fünf Jahre lang dachte ich, dass es der individuelle Akt ist, der das Herstellen von Kunst ausmacht. Die Krater waren eine Möglichkeit, Skulpturen zu machen, indem ich etwas entfernte statt wie üblich etwas einzufügen.«6 Zurück in New York konzentrierte er sich wieder auf die Malerei. Es entstanden die sogenannten Propeller Paintings, Motive, die an Testbilder alter Fernseher erinnerten. »Ich wohnte in der Lower East Side – 1960 war ich in die Bleecker Street gezogen –, und jemand hatte mir einen alten Fernseher geschenkt. Die einzige Zeit, zu der ich einen halbwegs anständigen Empfang hatte, war mitten in der Nacht. Mit der Zeit war ich absolut fasziniert von dem Testbild – damals wohnten glaube ich in dieser Gegend noch vier oder fünf andere Maler, die auch solche Testbild-Sachen machten. Es war so etwas wie ‚Wir machen jetzt Bilder von diesem Ding, das wir die ganze Zeit anschauen‘ «.7 Die Bilder waren »ziemlich klein – ein paar Zentimeter, auf Metall, mit Autolack aus der Sprühdose – bis zu relativ groß, drei bis dreieinhalb Meter. Die Größe hing davon ab, wie groß das Atelier war, in dem sie entstanden.«8 Es dauerte nicht lange, bis Weiner merkte, dass er etwas anderes machen musste. »Ich wollte nichts mit autoritärer Kunst zu tun haben und fand die Vorstellung unerträglich, ein Bild zu malen, wie einige meiner Kollegen es damals taten, und vorzuschreiben, wie es gehängt werden sollte und wo der Betrachter stehen sollte. Ich hielt das nicht für die Funktion von Kunst, denn all das hängt ja auch von der Körpergröße ab. Ich erkannte, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringen wollte, mich mit der allgemeinen Idee von Materialien zu befassen statt mit dem Spezifischen.«



WENIGER IST MEHR
Weiners konnotierte Sinnsprüche waren immer pur und zeitlos. Er schaffte es, mit wenigen Wörtern viel zu sagen. Mit seinen Sprachskulpturen schuf Weiner eine Referenz zu den Materialien, die eine Ausführung nicht mehr notwendig machte. 1968 fasste er seine Botschaft in STATEMENT OF INTENT / ABSICHTSERKLÄRUNG zusammen: THE ARTIST MAY CONSTRUCT THE PIECE / DER KÜNSTLER KANN DAS WERK HERSTELLEN; THE PIECE MAY BE FABRICATED / DAS WERK KANN ANGEFERTIGT WERDEN; THE PIECE NEED NOT BE BUILT / DAS WERK MUSS NICHT AUSGEFÜHRT WERDEN; EACH BEING EQUAL AND CONSISTENT WITH THE INTENT OF THE ARTIST THE DECISION AS TO CONDITION RESTS WITH THE RECEIVER UPON THE OCCASION OF RECEIVERSHIP / JEDE MÖGLICHKEIT IST GLEICHWERTIG UND ENTSPRICHT DER ABSICHT DES KÜNSTLERS, DIE ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE AUSFÜHRUNG LIEGT BEIM EMPFÄNGER ZUM ZEITPUNKT DES EMPFANGS. Kunst muss nicht gemacht, aber gedacht werden, so sein Credo. Mit seiner minimalistischen Einstellung wurde Weiner neben Joseph Kosuth und Sol LeWitt zu einem Mitbegründer der Konzeptkunst in den Sechzigerjahren. Dabei sah sich Weiner selbst nie als Konzeptkünstler: »Ich bin immer ein Atelierkünstler gewesen. Ich bin ein Materialist, ich bin kein Konzeptkünstler. Die Künstler, deren Arbeiten nach wie vor einen Wert und einen Gebrauch in unserer Struktur haben, sind alle Materialisten, von Robert Ryman bis zu Daniel Buren – er arbeitet mit dem Material der Geschichte. Aber sein Bezugspunkt ist immer die Geschichte. Ich möchte eine Praxis, die sich nicht auf die Geschichte beziehen muss. Das ist der Unterschied.«10 Obwohl Weiner seine Arbeiten nicht als ortsspezifisch sieht, fügen sie sich in das Umfeld ein. »Ich versuche, soviel ich kann über Kanalisation, Stadtplanung und solche Sachen herauszufinden, für diesen Ort, und ich stelle meine Arbeit da hinein, aber ich werde die Arbeit dafür nicht verändern. Es gibt keinen Grund, weshalb ich das tun sollte, und ich glaube nicht, dass die Leute das erwarten, obwohl sie gerne denken, dass es speziell für sie ist. Nein, es ist speziell, sobald es gemacht ist. Danach wird es etwas anderes. Aber es ist nicht ortsspezifisch: es kommt aus einer Atelierpraxis.«11 Auf die Frage, ob er Ausstellungen in Galerien oder Museen vorzieht: »Meistens mache ich lieber Ausstellungen in kommerziellen Galerien als in Museumsstrukturen, weil die Leute da hereinkommen können, es anschauen, lachen und wieder nach Hause gehen. In einem Museum denken sie, sie hätten es nicht begriffen. Ich möchte den Leuten nicht das Gefühl geben, dass sie etwas nicht kapiert haben.«Emile Bernard, selbst Maler, später Kunstkritiker, der 1907 ein Buch »Erinnerungen an Paul Cézanne« herausbrachte, erfuhr das ganz hautnah: »So sah ich ihn während des ganzen Monats, den ich in Aix zubrachte, an dem Bild mit den drei Totenköpfen, das ich als sein Vermächtnis ansehe, sich abmühen. Dieses Gemälde wechselte fast jeden Tag Farbe und Form, und doch hätte man es, als ich zum ersten Mal Cézannes Atelier betrat, als fertiges Werk von der Staffelei nehmen können. Wahrlich seine Art zu arbeiten war ein Nachdenken mit dem Pinsel in der Hand. Cézanne zweifelte stets an sich: »Was mir fehlt«, sagte er vor diesen drei Totenköpfen zu mir, »das ist die Realisation. Vielleicht komme ich noch soweit, aber ich bin alt, und es ist gut möglich, daß ich sterbe, ohne dieses höchste Ziel erreicht zu haben: Realisieren! Wie die Venezianer!« Der Weg ist das Ziel, lehrte schon Konfuzius. Aber Cézanne wollte sich damit nicht abgeben. Und er blieb darum ein ewig Suchender.
ALTHIPPIE UND WORTKÜNSTLER
Über ein halbes Jahrhundert zählte Weiner zu den ganz Großen in der Kunst. Er hatte Ausstellungen weltweit, wurde von Topplayern wie Larry Gagosian, Marian Goodman und Thaddaeus Ropac vertreten. Obwohl Weiner in der ganzen Welt rumkam, hielt er sich am liebsten in seinem Atelier auf. Früher lebte der Althippie auf einem Boot in Amsterdam, doch sein eigentlicher Rückzugsort war immer seine Heimatstadt New York. Mit seiner Frau Alice bewohnte er ein Townhouse im hippen West Village. Den ursprünglich 1910 erbauten Waschsalon ließ der Künstler in ein fünfstöckiges Wohnstudio umbauen. »Ich mag es wirklich, tagelang allein im Atelier zu bleiben, ohne jemanden zu sehen. Ich bin gerne in meinem Atelier. Wenn ich nicht rausgehen muss, um irgendwelche geschäftlichen Dinge zu erledigen, gehe ich nicht mal raus, um was zu essen zu kaufen. Ich esse einfach, was im Schrank ist.«13 Weiner war ein Urgestein in der Kunst und ein Unikat in Person. Mit Rad- oder Matrosenmütze, Bart, Ohrring und selbstgedrehter Zigarette kannte man ihn. Dem Medium Sprache blieb Weiner zeitlebens treu. Er selbst nahm sich immer als Bildhauer wahr. Die Flucht aus dem White Cube in den öffentlichen Raum war für ihn dabei essenziell. »Ich weiß nicht, ob das eine Meinung darstellt, aber die Idee, eine Skulptur im Freien zu machen, hat mich schon immer fasziniert, weil man mit dem freien Raum einfach nicht konkurrieren kann, so dass es das Beste ist, eine Skulptur zu machen, die sich nicht völlig in einen Ort integriert, aber dort existiert und von jemandem, der die Skulptur sieht oder sich mit der Skulptur beschäftigt, entdeckt werden kann.«Als Wortkünstlerwurde Weiner weltberühmt, mit Literatur hatte das aber nichts zu tun. »Ich verstehe Literatur als etwas, das mit Beziehungen zwischen Menschen zu tun hat. Ich arbeite nicht mit Literatur, und wenn ich einen Text mache, dann aus dem einfachen Grund, dass ich es so einfach wie möglich mache.«15 Weiner versuchte das Material in eine Sprache zu übersetzen. »Ein Gegenstand fasziniert mich, ich mag die Idee, ihn zu nehmen, die Idee, Kunst zu machen. Aber das Material alleine, ohne die Sprache, verliert seine Bedeutung. Jede künstlerische Arbeit hat einen Titel. Der Titel ist meine Arbeit.«

Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 4.22 AFFINITY erschienen.