Interview mit Virgilio Martínez Véliz
Für das Gespräch mit dem peruanischen Überflieger Virgilio Martínez müssen wir Mitteleuropa nicht verlassen, denn wir treffen ihn auf 2275 Meter Meereshöhe im Foodspace & Restaurant AlpiNN am Kronplatz in Südtirol. Norbert Niederkofler lädt dort zum Four Hands Dinner, wir baten ihn um einige einleitende Worte zu diesem Gipfeltreffen und er hat prompt zugesagt.
4 HÄNDE, 2 KÖCHE, 1 ZIEL: TRADITION.
Virgilio sucht sie in seiner Heimat Peru, ich in Südtirol. Und obwohl uns 11.000 km voneinander entfernen, ähneln sich unsere Kulturen sehr. Die Anden und die Alpen haben durchaus Gemeinsamkeiten. Schon verrückt! Auf der Suche nach unserer Kultur, haben wir herausgefunden, dass wir nichts Neues erfunden haben, im Gegenteil, wir sind auf der Suche nach Vergessenem und Altbewährten.
Unsere Gerichte sollen Geschichten erzählen, wir wollen unsere Bräuche aufrechterhalten, in Vergessenheit geratene Gemüse- und Getreidesorten küchentauglich machen, Bauern aus und Produzenten unserer Heimat ein gesichertes Einkommen ermöglichen und wir haben uns die Restriktion auferlegt, nur jene Produkte zu verwenden, die in unserer direkten Umgebung wachsen. Keine leichte Aufgabe. Dennwie in meinem Fall – ohne Olivenöl und Zitrusfrüchte zu kochen ist eine Herausforderung. Doch heute weiß ich, dass es geht. Mit Virgilio Martínez ein Four Hands Dinner im Foodspace & Restaurant AlpiNN zu veranstalten, war ein Traum, den ich in die Tat umgesetzt habe. Zwei Köche aus den Bergen, die auf 2275 Meter in einem, mit Südtiroler Materialien von Martino Gamper designtem Restaurant ein 8‑gängiges Menü mit Südtiroler Weinbegleitung kochen, wobei die Gäste dank der offenen Küche das Gefühl haben sie sind mittendrin und nicht nur dabei.
Genau so war es: ein unvergessliches Erlebnis! Ein Highlight folgte dem anderen, eine Reise der Gefühle und am Schluss nahm sich Virgilio Martínez Zeit für ein Gespräch mit uns. Er ist mittlerweile einer der wichtigsten Botschafter Perus, bereist die Welt und bringt den Menschen durch seine außergewöhnlichen Kochkünste die Vielfalt und einmalige Kultur Perus näher. Dabei ist er am Boden geblieben und bringt eine demütige Gelassenheit und positive Ausstrahlung mit, die alle am Tisch fesselt.
Immer dann, wenn du diese Balance findest, also anders zu sein, aber doch irgendwie „normal“, dann erreichst du etwas Großes und nur ganz besondere Menschen können das wertschätzen und sich darüber freuen.
Wann wussten Sie, dass Sie Chef werden wollen? Wie früh konnten Sie Ihr Talent für diesen Beruf spüren, gab es einen bestimmten Moment? Bei unseren Recherchen haben wir herausgefunden, dass Sie eigentlich Anwalt werden sollten. Stimmt das?
Mit 17 Jahren zu entscheiden, was man den Rest seines Lebens machen möchte, ist nicht einfach. Damals war die Stimmung in Lima und in meinem Umfeld jene, dass ich jedenfalls die Universität besuchen sollte, um anschließend einen ordentlichen Beruf zu haben. In dieser Zeit war es in Peru noch ziemlich chaotisch, alles was mit Kunst zu tun hatte, wurde ohnehin als riskant angesehen. Es gab auch keine Gastronomie-Szene.
Ich wollte etwas Kreatives mit meinen Händen machen. In meiner Familie waren alle Anwälte, also war es logisch, dass ich Rechtswissenschaften studierte. Nach einem dreijährigen Studium reiste ich durch die Welt. Während dieser Reise entdeckte ich das Kochen, da ich, um mir die Reise zu finanzieren, immer wieder in Küchen arbeitete. Danach erlernte ich das Kochen professionell, absolvierte die Ausbildung und ging in die besten Restaurants, um von sehr guten Mentoren zu lernen. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich besonders talentiert war, aber nach einigen Jahren in diversen Küchen spürte ich, dass etwas Besonders an mir war, eben einfach, dass in meinem Inneren etwas ist, das mir Zuspruch gibt. Als ich dann zurück nach Peru ging, gab es dort einen regelrechten Gastronomie-Boom und ich konnte mein eigenes Restaurantkonzept verwirklichen, das mehr beinhaltet als Gäste zu verwöhnen, sondern sehr viele relevante Inhalte vernetzt.
In Ihren frühen Jahren sind Sie viel gereist, um Erfahrungen bei renommierten Chefs und Mentoren zu sammeln. Welcher Ort hat Sie am meisten geprägt?
Die Erfahrung im Lutèce in New York war sehr prägend. In diesem Restaurant mit rein klassischer französischer Fine Dining Küche, erlernte ich, was echte Profis machen, die Leute dort arbeiteten so ernsthaft in jedem Detail. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie eine Küche organisiert werden muss und wie die Handwerkskunst eines Chefs durch Disziplin und harte Arbeit zur Perfektion gebracht werden kann. Ich traf den peruanischen Chef Gastón Acurio und er inspirierte mich am meisten. Er machte mir bewusst, dass Peru viel zu bieten hat und der Ort ist, an dem ich viel bewirken kann. Er gab mir das Selbstbewusstsein peruanisch zu kochen und peruanisch zu fühlen.
War es für Sie von Anfang an klar, dass Sie irgendwann nach Peru zurückkehren würden, um Ihr eigenes Restaurant zu eröffnen?
Ich kam alle zwei Jahre einmal nach Peru zurück, um meine Familie zu sehen. Und da bemerkte ich, dann auf einmal, was sich dort entwickelte, vor allem im Kunst- und Kulturbereich. Die Menschen hatten plötzlich einen regelrechten Stolz auf ihre Kreativität und die Natur des Landes. Dann wurde mir sehr schnell klar, dass auch ich dort performen möchte.
Was ist das Besondere an der peruanischen Küche? Ihre Gerichte und Menüs lassen vermuten, dass es eine große biologische Vielfalt gibt – können Sie uns etwas mehr darüber erzählen?
Viele Aspekte machen Peru zu etwas Speziellem: die Natur, die Biodiversität, der Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen, die Geographie, der Respekt vor der Natur, die Kultur, die diesen Respekt auch über ihre Rituale lebt. Irgendwie hat jeder eine authentische Beziehung zu Nahrungsmitteln und das ist sehr wichtig, wenn nicht das Wichtigste, weil es eben auch mit einer Dankbarkeit für all diese wunderbaren Ressourcen verbunden ist.
Können Sie uns das Konzept und die Essenz Ihres Restaurants Central in Lima erklären?
Die Essenz unseres Konzepts liegt eigentlich darin diese wahnsinnige Vielfalt, die unser Territorium zu bieten hat, zu erforschen und zu ergründen und dadurch eine enge Verbindung mit
der Natur einzugehen. Das geht weit über klassische Schlagworte wie Saisonalität oder Ähnlichem hinaus. Wir haben eine viel philosophischere Herangehensweise, wir wollen herausfinden, wie wir die Zukunft besser gestalten können, indem wir das Volk besser kennen und verstehen lernen und unterschiedliche Gefühle und Bedürfnisse miteinander verknüpfen können. Wir denken eben weiter: Was kann ein Restaurant alles bieten und zwar auch unter dem Gesichtspunkt unterschiedliche Disziplinen miteinander zu vereinen.
Sie sind mit Ihrem Restaurant nach Barranco umgezogen. Es ist als Künstlerviertel bekannt, und in einigen Reiseberichten kann man lesen, dass es das glamouröseste Viertel von Lima ist. Beeinflusst dieses Umfeld Ihr Konzept?
Natürlich hat uns das beeinflusst. Die Kunst und das Handwerk, das wir nun in unserer unmittelbaren Nachbarschaft sehen, inspirieren uns sehr. Der Ort, wo wir jetzt sind, ist weit weg von
kommerziellen Vierteln. Hier können wir uns inmitten der Schönheit Limas und der Authentizität der Stadt wiederfinden. Gerade die Künstlerschaft um uns herum eröffnet neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit.
Wir unterstellen, dass jeder sehr gute Chef ein Künstler ist. Es erfordert ein gewisses Maß an Kreativität, Inspiration, Wissen, Forschung und positiver „Verrücktheit“. Was denken Sie darüber? Ist es wie eine künstlerische Darbietung?
Ich habe keine Zweifel, dass ihr da richtig liegt. Es ist ein künstlerischer Prozess. Wir müssen anders denken. Jeder Schritt fordert uns ständig mehr Weisheit und mehr Wissen ab. Es geht darum, dass wir jedes Mal versuchen zu wachsen, schöner zu werden, um unsere Kreationen noch besser auszudrücken. Unsere Arbeit ist mehr als Handwerk. Der Begriff „verrückt“ trifft es nicht ganz, es ist etwas Anderes, aber jedenfalls sind wir stets auf der Suche danach diese „Verrücktheit“ in Balance zu halten. Immer, wenn du diese Balance findest, also anders zu sein, aber doch „normal“, dann erreichst du etwas Großes und nur ganz besondere Menschen können das dann auch wertschätzen und sich darüber freuen. Ja, es ist wohl wie mit einem Kunstwerk!