VestAndPage: Corpo Vita

VERENA STENKE / ANDREA PAGNES

Die Künst­ler Vere­na Sten­ke (Bad Fried­richs­hall, 1981) und Andrea Pagnes (Vene­dig, 1962) arbei­ten seit 2006 als Ves­tAnd­Pa­ge zusam­men. Sie sind haupt­säch­lich in den Berei­chen Per­for­mance-Kunst, Per­for­mance-basier­te Kine­ma­to­gra­fie (Video­kunst) und theo­re­tisch-krea­ti­ves Schrei­ben tätig. Ihre Tex­te wur­den in meh­re­re Spra­chen über­setzt und in Büchern, Kunst­ma­ga­zi­nen und renom­mier­ten wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrif­ten ver­öf­fent­licht. Sie befas­sen sich mit unab­hän­gi­gen Pro­jek­ten zur Schaf­fung tem­po­rä­rer künst­le­ri­scher Gemein­schaf­ten und sind im Ver­lags­we­sen tätig. Sie koope­rie­ren mit Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen, Thea­ter­grup­pen, huma­ni­tä­ren Orga­ni­sa­tio­nen im Bil­dungs­be­reich, mit theo­re­ti­schen Semi­na­ren und inten­si­ven Metho­den­work­shops. Seit jeher getrie­ben von dem Wunsch, Mikro­kos­men der Koexis­tenz zu schaf­fen, kon­zi­pier­ten und star­te­ten sie 2012 das Pro­jekt der Venice Inter-natio­nal Per­for­mance Art Week und haben bis­her über 120 inter­na­tio­na­le Künst­le­rin­nen und Künst­ler vor­ge­stellt und ein Ver­mitt­lungs­pro­gramm kon­zi­piert, das seit 2017 im neu­en For­mat Co-Crea­ti­on Live Fac­to­ry prä­sen­tiert wird, einer inter­na­tio­na­len Wohn- und Kollaborationsplattform.

© Ves­tAnd­Pa­ge, 1 9 In Vacui, Ende­ca­me­ron 21, Cas­tel­lo di Roc­ca Sini­bal­da, Ph. Loren­za Cini

Ich gehe dort­hin, wo es wehtut.
Ich gehe mit Dir, wohin Du willst.
Ich gehe wei­ter dem Leben nach.
Ich gehe aus, ich weiß nicht, wohin. Ich gehe hin­ein, ich weiß nicht, wohin. Ich gehe weg, mei­ne Schu­he sind kaputt. Ich gehe vorbei.
Ich gehe in Dei­ner See­le ein und aus. Ich gehe in die Geschich­te ein.
Ich gehe wei­ter und wei­ter und wei­ter und wei­ter… Ich muss gehen.
und weiter… 

Mono­log 1 9 by Vere­na Sten­ke / VestAndPage

Ves­tAnd­Pa­ge erforscht mit ihrer Spra­che vol­ler Rei­ze, in der bil­den­de Kunst, Per­for­mance­kunst, Gesell­schafts­thea­ter, zeit­ge­nös­si­scher Tanz, Schrei­ben, Poe­sie, Phi­lo­so­phie und nicht zuletzt didak­ti­sches Han­deln zusam­men­lau­fen, die Gala­xis künst­le­ri­scher Ver­fah­ren, die den Kör­per mit ein­be­zie­hen und auf dem Kör­per bestehen. Aber ihre Aus­füh­rung, abwechs­lungs­reich und viel­ge­stal­tig, ver­nach­läs­sigt nicht ein­mal die Aspek­te der Bezie­hung und der Mit­wir­kung, die ihre Arbeit sowohl in ethi­scher als auch in ästhe­ti­scher Hin­sicht definieren.

Aus dem Thea­ter, aus dem Wahn­sinn des Thea­ters, haben wir bei­de viel gelernt, spe­zi­ell im Hin­blick auf die Zusam­men­ar­beit. Vor allem haben wir gelernt, dass der Künst­ler allein nichts ist. Man muss sich mit ande­ren Fach­leu­ten ver­net­zen, sei­en es Künst­ler, Wis­sen­schaft­ler, For­scher, Hand­wer­ker und so wei­ter. Denn nur ver­eint geleis­te­te Arbeit ist in der Lage, das Kunst­werk als voll­stän­di­gen und zugleich offe­nen Aus­druck zu generieren.“

Ent­schei­dend, um die Leit­li­ni­en ihrer Poe­tik nach­zu­zeich­nen und zu einer tie­fen Erfor­schung ihrer selbst bei­zu­tra­gen, die es ihnen ermög­licht, sich auf Dimen­sio­nen und vor­ge­fass­te Per­spek­ti­ven zu kon­zen­trie­ren, wie die Begeg­nun­gen mit Yoko Ono und Jon Hendricks, sowie auch die Ana­ly­se des armen Thea­ter von Jer­zy Gro­tow­sky und das Thea­ter der Grau­sam­keit von Anto­nin Artaud. Artaud sag­te Grau­sam­keit, wie er Leben oder Not­wen­dig­keit sagen wür­de. Und der Kör­per, wie Ves­tand­Pa­ge es inter­pre­tiert, im Sin­ne einer kon­ti­nu­ier­li­chen Schöp­fung gehorcht die­sem Bedürf­nis. Gäbe es die­sen Wil­len, die­se Sehn­sucht nach blin­dem Leben nicht, – d. h. ent­schlos­sen, alles zu über­ge­hen, sicht­bar in jeder Ges­te und in jeder Hand­lung, sogar im tran­szen­den­ta­len Wert der Hand­lung – wäre alles auf eine unfrucht­ba­re, nutz­lo­se und ver­säum­te Übung reduziert.

Dring­lich­keit lässt Sie Din­ge tun und die Kunst ist für die­se Dring­lich­keit gemacht. Es ist nicht nur das inne­re Feu­er der Dich­ter des 20. Jahr­hun­derts, son­dern auch die Tat­sa­che, die Ver­zer­run­gen der Rea­li­tät, in der wir leben, zu sehen und den Wil­len, sich ihnen mit den uns zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln zu stel­len. Unser Mit­tel ist der Kör­per, ein Kör­per, der immer poli­tisch ist, denn selbst unser pri­va­ter Sek­tor wird poli­tisch, wenn wir uns bloß­stel­len. Es ist das Wie und War­um, das wir in unse­rer Arbeit erfor­schen wol­len, und hier­aus ergibt sich die gesam­te theo­re­ti­sche Natur unse­rer For­schung. Die Poe­sie der Bezie­hun­gen ist ein The­ma, das oft wie­der­kehrt und unse­re ver­schie­de­nen Akti­vi­tä­ten ver­bin­det. In sei­nem schö­nen Text »Poe­tik der Bezie­hun­gen« schreibt Édouard Glis­sant: »We cry out our cry for poet­ry« (Wir schrei­en unse­ren Schrei nach Poe­sie). Wie kommt die­ser Schrei her­aus? Wel­che Form nimmt er an? Was uns inter­es­siert ist zu ver­ste­hen, war­um, zu den Fun­da­men­ten zu gehen, zum Ursprung die­ses Schreis.“

Legt man den Schwer­punkt auf die Akti­on von Kör­pern, so wei­tet sich die Gram­ma­tik auch auf die fil­mi­sche Kon­struk­ti­on aus: ein Hybrid, der Per­for­mance und Film­pro­duk­ti­on ver­bin­det und einen Bruch in der Kom­ple­xi­tät der seman­ti­schen Schich­tung öff­net, auf der ihre Arbeit basiert. Nach meh­re­ren preis­ge­krön­ten Titeln befin­det sich nun »STRATA« (Per­for­mance-based Film, 2021) in der Her­stel­lungs­pha­se: Ves­tAnd­Pa­ges fünf­tes per­for­ma­ti­ves Film­pro­jekt, das sich auf die The­men Deep Time und Erin­ne­rungs­schich­ten in der Mensch­heits- und Erd­ge­schich­te kon­zen­triert. Gedreht in den Grot­ten und Höh­len der Schwä­bi­schen Alb im Süd­wes­ten Deutsch­lands, die zum Teil von Nean­der-talern und Eis­zeit­men­schen als Unter­schlupf genutzt wur­den, bringt das Pro­jekt Künst­ler und For­scher aus den Geistes‑, Sozi­al­wis­sen­schaft und Geo­lo­gen zusam­men mit dem Ziel, den mensch­li­chen Kör­per in sei­ner Dimen­si­on des Kon­ti­nu­ums mit der Erde zu unter­su­chen. Die Bil­der des Kör­pers – poe­tisch und poli­tisch zugleich – wer­den aus Frag­men­ten von Doku­men­tar­fil­men gene­riert, in denen sich Spe­zia­lis­ten der Archäo­lo­gie, Geo­lo­gie, Höh­len­for­schung, Kunst­ge­schich­te, Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie der Zeit zu die­sen The­men aus­tau­schen. Hier wird der Fort­schritt durch kul­tu­rel­len Aus­tausch und Koope­ra­ti­on ima­gi­niert. Die zuneh­men­de Kom­ple­xi­tät ist eine evo­lu­tio­nä­re Kon­se­quenz und die Plu­ra­li­tät, nicht-binä­re und sozia­le Inklu­si­on von Viel­falt wer­den als not­wen­di­ge und funk­tio­na­le Vor­aus­set­zun­gen für das Ver­ständ­nis und die Wei­ter­ent­wick­lung des Lebens gesehen.

Endecameron21Incubatio-ph.LorenzaCini

Das Künst­ler­duo trat kürz­lich in Ita­li­en auf und prä­sen­tier­te eine abso­lu­te Vor­schau bei Ende­ca­me­ron 21, die künst­le­ri­sche Resi­denz im Schloss Roc­ca Sini­bal­da (Rie­ti), die in die­sem Jahr vom 31. Juli bis 7. August 2021 statt­fand, ihren neu­en Per­for­man­ce­zy­klus »1 9 Mono­log« mit der Eröff­nungs­in­stal­la­ti­on »1 9 In vacui«.
Das von Enri­co Poz­zi und Cris­ti­na Cen­ci kon­zi­pier­te Ende­ca­me­ron-Pro­jekt, zu dem auch Ves­tAnd­Pa­ge im Lab-Team gehört, ent­stand 2018 aus der Wahr­neh­mung einer Kri­se und einer weit ver­brei­te­ten Angst, die ver­su­chen, sich aus­zu­drü­cken, um sich selbst zu erken­nen. Wäh­rend der Zehn Tage des Deka­me­rons hiel­ten die Erzäh­lun­gen die Pest von der Vil­la fern, in der Boc­c­ac­ci­os zehn jun­ge Geschich­ten­er­zäh­ler leben. Der elf­te Tag ist der Tag danach. Die Geschich­ten sind weg. Das Böse tritt ein. Was pas­siert in der Vil­la? Gibt es neue Geschich­ten und For­men, die es blo­ckie­ren kön­nen? Wie wer­den sie sein? Was wer­den sie sagen? Wie wer­den sie es sagen? Was ändert sich, wenn die Vil­la ein tau­send­jäh­ri­ges Schloss von gro­ßer Schön­heit und ein Natio­nal­denk­mal ist? Aber Ende­ca­me­ron ist kei­ne ein­fa­che künst­le­ri­sche Resi­denz. Es ist ein acht­tä­gi­ger Work­shop der gemein­sa­men Arbeit und Refle­xi­on. Künst­ler spie­len dabei eine ent­schei­den­de Rol­le als Erfor­scher neu­er For­men, Inter­pre­ten und Über­set­zer der Schat­ten des Cha­os. Sie sind nicht allein. Sie tref­fen sich täg­lich mit Anthro­po­lo­gen, Psy­cho­ana­ly­ti­kern, Kom­mu­ni­ka­to­ren und ande­ren Per­sön­lich­kei­ten, die die Resi­denz orga­ni­sie­ren. Ziel ist es, Künst­ler und Sozi­al­wis­sen­schaft­ler zusam­men­zu­brin­gen, um zu reflek­tie­ren, zu ver­ste­hen, zu über­set­zen und den elf­ten Tag als unsi­che­ren Schwe­be­be­reich zwi­schen Cha­os und Kos­mos aus­zu­drü­cken. In die­sem Jahr war der Elf­te Tag der Tag der Inku­ba­ti­on, einem sehr alten und zeit­ge­nös­si­schen Ritus. Man schlief auf dem Boden an einem hei­li­gen Ort. Ein von Gott gesand­ter Traum konn­te eine Ant­wort auf den Grund geben, der uns dort­hin getrie­ben hat­te, indem er uns eine Hei­lung anzeig­te, unse­re Zukunft vor­her­sag­te und uns eine Lösung für ein erns­tes Pro­blem mit­teil­te. Roc­ca Sini­bal­da Cast­le als »hei­li­ger« Ort, um Träu­me von Ant­wor­ten auf die Ver­brei­tung von Alb­träu­men aus der Tie­fe zu verwirklichen.

1 9 In vacui“ ist inspi­riert von einer per­sön­li­chen Geschich­te – die Iso­la­ti­on, in die die Künst­le­rin Vere­na Sten­ke im August 2019 nach einer Tuber­ku­lo­se-Erkran­kung gezwun­gen wur­de – um über die Krank­heit und ihre Fol­gen nach­zu­den­ken, mit dem Ziel, eine Brü­cke zwi­schen einer genau­en Selbst­be­ob­ach­tung und einer oft von Aber­glau­ben durch­drun­ge­nen lite­ra­ri­schen Pro­duk­ti­on zu schla­gen. Weit ent­fernt von einer roman­ti­schen Behand­lung des The­mas spie­gelt die Auf­füh­rung unter ande­rem das Kon­zept des Kon­sump­ti­on wider – der Name, mit dem die­se Krank­heit all­ge­mein bezeich­net wur­de – gera­de, weil der Orga­nis­mus wäh­rend sei­nes Ver­laufs kon­su­miert wird und einem lang­sa­men, aber fort­schrei­ten­den Ver­fall unter­liegt. Die Erfah­run­gen eines Krank­heits­er­re­gers flie­ßen in den dich­ten auto­bio­gra­fi­schen Per­for­mance-Text ein, der am Abschluss­abend von Ende­ca­me­ron 21 erst­mals auf Ita­lie­nisch prä­sen­tiert wird. Zusam­men mit Ves­tAnd­Pa­ge aus die­sem Anlass auch der Klang­künst­ler Aldo Ali­pran­di und die auf Ver­ti­k­al­tanz spe­zia­li­sier­te Per­for­me­rin Mari­an­na And­ri­go. Der ers­te, der die Aktio­nen mit dem Klang sei­nes ganz beson­de­ren, von ihm selbst geschaf­fe­nen Sai­ten­in­stru­ments beglei­tet. Die zwei­te greift ein frü­he­res Werk von ihm mit dem Titel »Vacu­um« auf, um mit sei­nen Bewe­gun­gen einen gemein­sa­men Faden zwi­schen dem The­ma des Vaku­ums und dem der Inku­ba­ti­on zu ziehen.

Auf der Büh­ne der Kör­per mit sei­ner Belas­tung, sei­ner ero­ti­schen und lei­den­schaft­li­chen Prä­senz, aber auch der Gefahr eines unsicht­ba­ren und bedroh­li­chen Wesens, eines unent­zif­fer­ba­ren und unbe­kann­ten Zustands: dem der Krank­heit. Eine Osmo­se zwi­schen Kör­per­lich­keit und Spi­ri­tua­li­tät, ein gegen­sei­ti­ger Aus­tausch ver­schie­de­ner Sub­stan­zen: Das Papier und das Eisen der Klei­der, die zer­brech­li­che Was­ser­ober­flä­che und der har­te Stein des Schlos­ses, die phy­si­schen und meta­phy­si­schen Dimen­sio­nen des Daseins. Über­lap­pen­de und über­la­ger­te Lese­ebe­nen auf einem dra­ma­tur­gi­schen Tep­pich aus Wor­ten, ein schmerz­li­ches und zugleich lie­be­vol­les Zeug­nis des Lebens.

Lie­be ist ein Pro­jekt. Alles soll­te aus einer Tat der Lie­be gebo­ren wer­den. Das Pro­jekt schafft Lie­be und Lie­be schafft das Pro­jekt. Und aus der kon­ti­nu­ier­li­chen Über­tra­gung des einen ins ande­re ent­steht das Kunst­werk. Aber dies hat nur dann einen Wert, wenn wir es tei­len, wenn wir nicht mit jeman­dem tei­len, was wir tun, kön­nen wir sei­ne Schön­heit nicht sehen. Jede Auf­füh­rung stellt für uns eine Begeg­nung dar, aber es ist nicht nur die Begeg­nung zwi­schen Andrea und Vere­na. Es ist viel­mehr die Begeg­nung zwi­schen zwei Men­schen, zwei Wesen­hei­ten, zwi­schen dem Ich und dem Selbst, zwi­schen dem Männ­li­chen und dem Weib­li­chen, auf einem Weg, den wir vor sech­zehn Jah­ren ein­ge­schla­gen haben und der uns zu pri­vi­le­gier­ten Beob­ach­tern der Ver­än­de­run­gen unse­rer Zeit­ge­nos­sen­schaft gemacht hat.“

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geschrieben von

ist Autorin, unabhängige Kuratorin und Performerin. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, kuratiert Kunstbücher, Ausstellungskataloge, Ausstellungen der Fotografie und der zeitgenössischen Kunst und verfasst Videokunstkritiken. Seit 2016 ist sie als Performerin tätig. Sie hat an mehreren Videoperformances teilgenommen und öffentliche Performances realisiert, an Kurzfilmen und Filmen mit experimentellem Charakter mitgewirkt, die auf internationalen Festivals präsentiert wurden.

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