»SCHON DAS FAHRZEUG, DIE SCHWARZE, LEICHTE, SCHLANKE GONDEL, UND DIE LAUTLOS SANFTE ART DER BEWEGUNG HAT ETWAS FREMDARTIGES, TRÄUMERISCH SCHÖNES UND GEHÖRT ALS WESENTLICHER FAKTOR IN DIE STADT DES MÜSSIGGANGES, DER LIEBE UND DER MUSIK.« Hermann Hesse in »Lagunenzauber – Aufzeichnungen aus Venedig«
Hermann Hesse bringt die Essenz Venedigs in einem Satz auf den Punkt, seinen Worten lässt sich nur noch eines hinzufügen – »die Stadt des Müßigganges, der Liebe, der Musik und der Kunst«. Als Ausgangspunkt, um Venedig zu erleben und zu erkunden, gibt es seit diesem Herbst einen neuen geschichtsträchtigen Ort. Mit seiner Lage direkt am Eingang zum Arsenale, also dem Viertel für zeitgenössische Kunst, ist das Ca‘ di Dio ein eleganter venezianischer Rückzugsort, der den Geist der Stadt ein-fängt und ihre Geschichte mit der Moderne verbindet. In der Antike waren »Case di Dio« (Häuser Gottes) – abgekürzt Ca‘ di Dio – Orte, die Pilger beherbergten, die darauf warteten, auf dem Seeweg das Heilige Grab im Heiligen Land zu erreichen oder auf dem Landweg Ablässe in Rom zu gewinnen. Heute finden sich in Venedig auch viele »Pilger«, Menschen, die zu Fuß »in die Fremde ziehen«, um »etwas Fremdartiges, träumerisch Schönes« zu entdecken. Weniger deshalb, um einen Ablass zu gewinnen, sondern viel mehr, um der Kunst und der Architektur in all ihren vertrauten und verblüffenden Facetten zu begegnen.
Das Gehen und die meditative Auseinandersetzung damit ist auch Thema in der aktuellen Ausstellung von Bruce Nauman, die unter dem Titel »Contrapposto Studies« in der Punta della Dogana zu sehen ist. Es hätte sich für diese Ausstellung wohl kein geeigneter Ort finden können. Gezeigt werden eine Reihe von Videoinstallationen, die Nauman in den letzten Jahren entwickelt hat, ausgehend vom Einkanal-Video von 1968 mit dem Titel »Walk with Contrapposto«. Es zeigt, wie der Künstler mit erhobenen und hinter dem Kopf verschränkten Armen in einem engen Holzkorridor in seinem Atelier hin und her geht, wobei er seine Hüfte bei jedem Schritt in einem übertriebenen Kontrapost schrägstellt. Es ist das erste Mal, dass Nauman explizit auf ein früheres Werk zurückgreift, um es als Ausgangspunkt für seine Praxis zu nutzen. Ursprünglich wollte er die Grenzen überschreiten, die ihm die Ende der 1960er Jahre verfügbare Technologie auferlegte, als er den ersten »Walk with Contrapposto« produzierte. Die Ausstellung umfasst auch vier Werke aus jüngerer Zeit. Zu diesen Werken gehören eine Neuinterpretation von einer früheren Installation, Acoustic Wedge (Sound Wedge-Double Wedge), 1969–70, mit dem Titel Acoustic Wedge (Mirrored), 2020; zwei neuere Contrapposto-Arbeiten, die Nauman mit Hilfe der 3D-Technologie entwickelt hat (Contrapposto Split, 2017 und Walking a Line, 2019), und ein interaktives Mapping seines Ateliers, Nature Morte (2020). Jede Projektion ist draht-los mit einem iPad verbunden, mit dem sich der Betrachter »virtuell« im Atelier bewegen kann. Die Ausstellung lädt die Besucher zu einer immersiven Erfahrung durch ihre Sinneswahrnehmung ein, ihren Kör-per und Geist zu erleben. Das ist ein grundlegender Prozess zum Verständnis Naumans künstlerischer Forschung.
Von der Punta della Dogana aus kann man auf das Markusbecken und die gegenüberliegende Seite des Kanals blicken. Schwenkt man den Blick Richtung Arsenale, erkennt man die schlichte und dennoch elegante Fassade des Ca‘ di Dio. Die Geschichte dieses Gebäudes begann im Jahr 1272 und hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Leben gelebt, ohne jemals seine wahre Seele zu verlieren. Es wurde von einer Unterkunft für Pilger auf der Durchreise ins Heilige Land zu einem Ort, der arme, alleinstehende Frauen aufnahm. Im Jahr 1544 begannen die Prokuratoren von San Marco de Supra mit einer vollständigen Renovierung des Gebäudes, wofür sie den berühmten Jacopo Sansovino beauftragten.
Das aktuelle Projekt für die Neugestaltung des Palazzos wurde von Architektin Patricia Urquiola umgesetzt mit dem Ziel, ein originelles und unverwechselbares Konzept für ein venezianisches »Haus« zu schaffen, ein Hotel, das eng mit dem Gefüge der Stadt verbunden ist, was sich in Materialien, Farben und Ausstattungen zeigt. Jedes dekorative, architektonische oder beleuchtungstechnische Element ist das Ergebnis der geschickten Hände lokaler Handwerker, die ihre Leidenschaft für ihre Arbeit mit den Geheimnissen und Techniken der venezianischen Tradition verbinden. Das Konzept wurde auf der Grundlage der Dichotomie der beiden Seelen Venedigs entwickelt; zwei Seiten, die scheinbar gegensätzlich sind, aus denen jedoch eine interessante Begegnung und ein unverwechselbares »Zuhause« entstanden ist: auf der einen Seite die Strenge des Gebäudes und die Strenge der ursprünglichen Struktur, auf der anderen Seite die Raffinesse und Eleganz, die traditionell für venezianische Paläste stehen. Es ist kein kanonischer und expliziter Luxus, den die Gäste hier vorfinden, sondern einer, der aus Details, Aufmerksamkeit und Sorgfalt besteht. Im Ca‘ di Dio erwartet man sich mit Blick auf die 59. Biennale vor allem kunstsinnige Gäste.
The Milk of Dreams ist der Titel der 59. Internationalen Biennale von Venedig, dessen Hauptausstellung von Cecilia Alemani kuratiert wird. Der Titel ist nach einem Buch der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington (1917–2011) benannt. In den 1950er Jahren, als sie in Mexiko lebte, träumte und illustrierte Carrington geheimnisvolle Geschichten. Zu den verblüffenden Visionen hybrider, mutierter Kreaturen, die ihre phantasievollen Universen bevölkern, gehören Kinder, die ihren Kopf verlieren, in Gelatine gefangene Geier und fleischfressende Maschinen. Carringtons Geschichten beschreiben eine magische Welt, in der das Leben durch das Prisma der Fantasie immer wieder neu gesehen wird und in der sich jeder verändern, verwandeln, etwas oder jemand anderes werden kann. Es ist eine Welt, die frei ist und voller Möglichkeiten steckt. Die Leitfragen für diese Biennale beziehen sich laut Cecilia Alemani auf einen Moment, in dem das Überleben der Spezies bedroht ist und auf die Zweifel, die die Wissenschaften, Künste und Mythen unserer Zeit durchdringen. Wie verändert sich die Definition des Menschen? Was macht das Leben aus, und was unterscheidet Tiere, Pflanzen, Menschen und Nichtmenschen? Welche Verantwortung tragen wir gegenüber dem Planeten, anderen Menschen und den verschiedenen Organismen, mit denen wir zusammenleben? Und wie würde das Leben ohne uns aussehen? Es geht im Kern um die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen; die Beziehung zwischen Individuen und Technologien; die Verbindung zwischen Körpern und der Erde.
Aber auch die Zeit bis zur Biennale, die im April eröffnen wird, bietet spannende Ausstellungen, die ausgehend vom Ca‘ di Dio fußläufig erreicht werden können: Peggy Guggenheim hat als Mäzenin und Sammlerin Grenzen überwunden und ist für ihre bahnbrechende Sammlung moderner europäischer und amerikanischer Kunst bekannt. Die aktuelle Ausstellung im Museum in Venedig »Migrating Objects: Arts of Africa, Oceania, and the Americas in the Peggy Guggenheim Collection« konzentriert sich auf eine weniger bekannte, aber entscheidende Episode in Guggenheims Sammlertätigkeit: ihre Hinwendung zu Werken von Künstlern aus Afrika, Ozeanien und den indigenen Völkern Amerikas in den 1950er und 60er Jahren. Lohnenswert ist auch ein Besuch in der Internationalen Galerie für Moderne Kunst in Ca‘ Pesaro, die bedeutende Sammlungen von Gemälden und Skulpturen des 19. und 20. Jahrhunderts beherbergt, darunter Meisterwerke von Gustav Klimt und Auguste Rodin und bemerkenswerte Werke von Künstlern wie Medardo Rosso, Adolfo Wildt und Giacomo Balla. Die permanente Ausstellung wurde neu gestaltet und ergänzt um Leihgaben von Positionen wie Carrà, Sironi, Morandi, De Chirico, Severini. Das Museum bietet eine aufschlussreiche Einführung in eine entscheidende Periode der Kunstgeschichte. Es handelt sich um einen narrativen, aber auch anschaulichen Rundgang, der dem Museumspublikum eine dynamische und transversale Sicht auf die gesamte Sammlung bietet und Verbindungen, Dialoge und neue Sichtweisen fördert. Um die vielen Eindrücke moderner und zeitgenössischer Kunst am Abend Revue passieren zu lassen, bieten sich im Rückzugsort Ca‘ di Dio eine charmante Bar, eine gemütliche Bibliothek oder das Restaurant VE-RO an. Von dort aus blickt man auf die Lagune und die Insel San Giorgio und kann die von ihr inspirierten Gerichte genießen.
Die Begegnung mit dem Werk von Arnulf Rainer bietet stets Stoff für Überraschung. Seine Gemälde der 1990er Jahre überraschen und faszinieren durch die Buntheit des Farbauftrags, der Farbschleier. (Abb. 2 Geologica oder Schleier) Intensiv und heftig in den „Geologica“, farbiger, transparenter und leichter in den „Schleierbildern“ als die Übermalungen. Breite Farbspuren können sich über Bilder legen, stehen als große Malgesten souverän für sich. In ihnen scheint uns Rainer die Schichtungen seiner frühen Übermalungen transparent vorzuführen, als wolle er uns einen Blick in die Tiefe seiner Malerei erlauben.