Ihre Kunst ist pure Innovation – nur Wenigen gelingt es einen derart neuen Weg zu gehen.
Vanessa Beecrofts Arbeiten werden seit 1993 international gezeigt und häufig als provokante soziale Kritik wahrgenommen. Laut dem Kurator und Galleristen Jeffrey Deitch ist „Vanessa Beecroft eine der seltenen Künstlerinnen, die einen neuen Weg erfunden haben, ein Kunstwerk zu erschaffen. Neunundneunzig Prozent der Künstler schlagen Wege ein, die bereits geebnet sind, sie fügen lediglich geringe Innovationen hinzu, es gibt sehr wenige Künstler, die ein völlig neues Konzept entwickeln ein Kunstwerk zu kreieren und dadurch unseren Horizont, wie ein Kunstwerk sein kann, erweitern. Vanessa Beecroft hat das gemacht.“ Seit 1994 stellt die auf Long Island lebende italienische Performance-Künstlerin, die Architektur und Bühnengestaltung studierte, weltweit Rauminszenierungen mit teilweise nackten, stilisierten weiblichen und auch männlichen Models als szenisches Bild vor. Im Unterschied zur klassischen Performance ist die Künstlerin dabei nicht direkt beteiligt, sondern agiert als Regisseurin im Hintergrund.
Eine ihrer ersten größeren Performances fand 1995 in der Galerie von Jeffrey Deitch statt. Es war das erste Mal, dass Beecroft ein komplettes Rollengefüge für eine Performance entwickelte und klare Regieanweisungen gab: „Sprecht nicht, bewegt euch nicht zu langsam oder zu schnell, nicht schauspielern, nicht lachen, nicht alle gleichzeitig zusammen fallen, die Ausgangsposition so lange beibehalten wie ihr könnt, bewegt euch nach Belieben im Raum und kehrt schließlich in eure Ausgangsposition zurück. Ihr seid ein Bild, euer Verhalten spiegelt sich in den anderen wider…”
Bekannt für ihre konzeptuelle Performancekunst, die sich auf historische, politische oder soziale Aspekte an dem Ort, an dem die Installation stattfindet, bezieht, fasziniert ihre Arbeit das Publikum und sie ermutigt es dazu, den Ereignissen beizuwohnen und ihr eigenes Bild vom Leben darin zu gestalten.
1998 wurde eine ursprünglich von Yvonne Force in Auftrag gegebene als Zusammenarbeit mit einem Modedesigner konzipierte Performance im Guggenheim Museum New York gezeigt. Beecroft hat sich dabei ein Aktstück speziell für das Guggenheim-Gebäude ausgedacht. Die Nacktheit, die sie zeigte, war eine städtische Nacktheit, weder naturalistisch noch anthropologisch. Es war eine andere Art von Outfit, eine Aussage, eine Art Uniform. Sie machte die High Heels zu Podesten, um die Mädchen am Boden zu halten, damit sie unnatürliche Posen einnahmen. Am Ende musste sie sich dem Plan des Kurators unterwerfen, und durfte nur fünf nackte Frauen zeigen. Die Tatsache, dass einige Frauen nackt waren und andere nicht, führte laut der Künstlerin zu einer Hierarchie und einem Gefühl der Ungerechtigkeit: „Wenn wir die Mädchen anstarren, fühlen wir uns aufgrund ihres Aussehens unwohl. Wir stehen unserem Verlangen und unserer Angst gleichzeitig gegenüber – das Mädchen ist unbekannt, versteckt in einer undurchsichtigen Welt, unnahbar, von uns getrennt, fremd, einsam“, resümiert die Künstlerin.
Wie vielfältig die Inhalte ihrer Performances sind, zeigt sich beispielsweise in jener, die 2003 im Castello di Rivoli in Turin stattfand. An einem Glastisch vereinte sie eine Gruppe von 30 Frauen, Aktmodelle, Frauen, die mit dem Schloss im Zusammenhang standen und örtliche Aristokratinnen. Die Frauen aßen nach Beecrofts Ernärhungsplan an drei aufeinanderfolgenden Tagen Speisen, die nach Farben getrennt wurden: Gelb, Orange, Rot, Lila, Braun, Weiß, Grün, Braun und Bunt. Auch Beecrofts Mutter war Teil dieser Performance und es gab mehrere Mutter-Tochter-Beziehungen am Tisch. Das Publikum, das nicht essen durfte, beobachtete die Gruppe und ihre Interaktion mit dem Essen: „Diese Performance ist eine Anspielung auf mein Buch, ein Ernährungstagebuch, das ich von 1983 bis 2003 führte, in dem ich alles, was ich aß, als Beweis dafür ansah, dass ich kein Verbrechen begangen hatte, und trotzdem nicht in Frieden in meinem Körper leben konnte“, erklärt Beecroft.
Ganz anders wiederum ihre 74ste Performance. Diese fand in einem kubischen Raum mit verspiegelten Wänden im MAXXI Museum in Rom statt. In diesen Würfel mit den Maßen 6 x 6 x 3 m stellte sie eine Gruppe von 30 Frauen, die eine transparente Burka trugen. Unter der Burka waren die meisten Frauen nackt oder von einem zusätzlichen Schleier derselben Farbe bedeckt. Die Frauengruppe wurde in drei Gruppen unterteilt: die Models, die Frauen der Allgemeinheit und die Aristokraten. Die Models waren nackt, die Frauen der Allgemeinheit entweder nackt oder von dem zusätzlichen Schleier bedeckt, und die Aristokratinnen waren vollständig bedeckt, es sei denn, sie wollten nackt sein. Die Spiegel reflektierten und zerlegten die Gruppe in noch mehr Teile und erzeugten einen überflüssigen Vouyerismus. Das Bild wurde rosa, ein Rose, das als „Rosa pelle d‘angelo“ (Engelshaut) bezeichnet wird, und lediglich eine schwarze Figur, die sich optisch wie ein Phantom verhält. Die Gruppe erscheint wie vom Schleier bedeckt, unter denen man Körper auf verschiedenen Transparenzniveaus sehen kann. Der Körper von Frauen, Madonnen, Heiligen und Models. Sie stehen alle unter einem Schleier, der ihre Körperlichkeit nicht verdeckt, sondern als nahezu heilig aussehende Form und Aura schützt.
Im Raum der Niobe der Uffizien in Florenz setzte Beecroft eine ihrer jüngsten Performances im September 2017 um. Hier ordnete sie eine Gruppe von Frauen – nackt und in derselben Farbe wie die Marmorskulpturen – mit einem hautfarbenen Schleier bedeckt – innerhalb der Skulpturengruppe an. Die Frauen trugen die Haare wie Botticellis Venus unter dem Schleier. Sie waren in einer klaren Formation aufgestellt, dabei durften sie nicht sprechen und sich nicht in Echtzeit bewegen, sondern die Formation nur brechen, um Positionen einzunehmen, die an die Skulpturengruppe erinnern. Dabei machten sie Geräusche mit tiefer Stimme, wie Seufzer, manchmal wahrnehmbar, manchmal sehr leise, wie schwerer Atmen oder Stöhnen. Die Aufführung dauerte drei Stunden vor einem Live-Publikum und wurde fotografiert und gefilmt. In diesem Kontext diente vor allem der mythologische Aspekt als inhaltliche Grundlage, nämlich der Mythos von Ovid über Niobe. Sie gebar als Gemahlin des thebanischen Königs Amphion sieben Söhne und sieben Töchter. Stolz auf ihre zahlreiche Nachkommenschaft vermaß sie sich, sich über die Titane Leto zu stellen, welche nur zwei Kinder, Apollon und Artemis, geboren hatte, und hinderte das Volk an deren Verehrung. Die gekränkte Titanin wandte sich an ihre Kinder. Daraufhin streckten Apollon und Artemis an einem Tage erst alle Söhne und dann alle Töchter mit Pfeil und Bogen nieder. Die Eltern konnten diesen Jammer nicht überleben: Amphion tötete sich mit einem Schwert, und Niobe erstarrte vom ungeheuren Schmerz über den Verlust. Anschließend wurde sie durch einen Wind nach Phrygien auf die Spitze des Berges Sipylos versetzt. Doch auch der Stein hörte nicht auf, Tränen zu vergießen.
Vanessa Beecroft benennt alle ihre Performances mit ihren Initialen, ihre erste Performance fand 1993 in Mailand statt. Mittlerweile sind 84 ihrer Performances bekannt. Die daraus entstandenen limitierten Fotografien sind Kunstwerke, die international Anerkennung erfahren.