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Interview mit Judith Bernstein

Judith Bern­stein geht sehr offen mit Ihren Gedan­ken um, sowohl in Ihrem Werk als auch im Gespräch mit uns. Seit über 50 Jah­ren lässt sich Bern­stein nicht von ihrem Weg abbrin­gen: kon­se­quent, radi­kal und aggres­siv. Sie muss­te schrei­en, um gehört zu wer­den. Als revo­lu­tio­nä­re Künst­le­rin ist sie eine, die mit ihrem Werk schon heu­te Kunst­ge­schich­te schreibt. Mit stay­in­art spricht Judith Bern­stein exklu­siv über die Wut der Frau­en, den Macht­miss­brauch, die Tabus, und zen­sier­ten The­men im Kunst­be­trieb, die Waf­fen­lob­by, Trumpen­sch­long und die Schwar­zen Löcher.

Judith Bern­stein at Natio­nal Aca­de­my NY with „Death Uni­ver­se”, 2018. 

Alles schrei­tet vor­an. Roman­ti­siert nicht die Ver­gan­gen­heit. Ihr könnt nie mehr zurückgehen. 

Sie haben sich den Ruf erwor­ben, eine der pro­vo­kan­tes­ten bil­den­den Künst­le­rin­nen Ihrer Gene­ra­ti­on zu sein. Wür­den Sie sich selbst auch so beschrei­ben oder haben Sie eine ande­re Sichtweise?

Ja, ich bin viel­leicht eine der pro­vo­kan­tes­ten bil­den­den Künst­le­rin­nen mei­ner Gene­ra­ti­on. Oder viel­leicht DIE pro­vo­kan­tes­te! Wenn ich Arbei­ten schaf­fe, sage ich ein­fach, was ich will, mit einem „Take-no-pri­soners-Ansatz.“ Ich kom­me aus einem Umfeld, in dem es viel Wut und Auf­ruhr gab. Ich muss­te schrei­en, um gehört zu wer­den. Und ich über­setz­te die­se Empö­rung auf die ein­drucks­volls­te visu­el­le und ver­ba­le Wei­se, die ich nur konn­te. Mein Vater schätz­te mei­nen Sinn für Humor, der auch heu­te noch mei­ne Arbeit aus­macht. Mei­ne Kar­rie­re war eine außer­ge­wöhn­li­che Rei­se. Das Werk ist auto­bio­gra­phisch. In den letz­ten mehr als 50 Jah­ren ging es um die Ver­bin­dung zwi­schen dem Poli­ti­schen und dem Sexu­el­len. Es ist mei­ne Wut, sich der Unge­rech­tig­keit zu stellen!

Lassen Sie uns kurz über Ihre Anfän­ge spre­chen. Wie haben Sie Ihre Zeit an der Yale School of Art ver­bracht? Wer und was hat Sie in die­ser Zeit beson­ders beeinflusst?

Ich wur­de nicht direkt von ande­ren beein­flusst. Ich erin­ne­re mich an Jack Twor­kov, den Lei­ter der Yale School of Art, der mir sag­te, dass jeder begin­nen­de Künst­ler stark von ande­ren Künst­lern beein­flusst wird – sie neh­men es und lau­fen. Im Gegen­satz dazu sag­te er zu mir: „Du gehst ein­fach dei­nen eige­nen Weg.” Er mein­te das abwer­tend, aber ich wei­ger­te mich, es so zu sehen. Wäh­rend mei­ner Zeit in Yale 1966 las ich einen Arti­kel in der New York Times, in dem stand, dass der Titel „Who’s Afraid of Vir­gi­nia Woolf”, Edward Albees Stück, von „Bath­room Graf­fi­ti“ über­nom­men wur­de. Spä­ter wur­de mir klar, dass ein Graf­fi­ti tie­fer ist, als es scheint. Es stammt aus dem Unter­be­wusst­sein. Und das war mein Ein­stieg in das skato­lo­gi­sche Graf­fi­ti, was zu mei­ner Anti-Kriegs-FUCK VIET­NAM-Serie führ­te. Die Schrift­stel­ler John Gua­re, Ken Brown, Ron Whyte und der Schau­spie­ler Ron Leib­man hal­fen mir, mein Voka­bu­lar zu erwei­tern mit Aus­drü­cken wie „cock“, „dick“, „prick“, „John­son“…

Sie wur­den künst­le­risch und sprach­lich von „Bath­room Graf­fi­ti“ inspi­riert. Warum?

Bath­room Graf­fi­ti“ ver­wen­det eine direk­te, unmit­tel­ba­re Spra­che. Es ist kom­ple­xer, als Sie sich vor­stel­len kön­nen, denn wenn man sich ent­leert, löst man sich auch von sei­nem Geist. Es ist eine pri­va­te Welt, die ins Unter­be­wusst­sein geht. Gra­fi­sche Dar­stel­lun­gen von Geni­ta­li­en ver­grö­ßern mei­ne poli­ti­schen Ansich­ten. Mein Femi­nis­mus begann mit der Beob­ach­tung des Ver­hal­tens von Män­nern, und jetzt bezie­he ich auch Frau­en in mei­ne Beob­ach­tun­gen ein.

Als Mit­be­grün­de­rin der A.I.R. (Artist in Resi­dence) Gal­lery, einer künst­le­ri­schen Koope­ra­ti­ve in New York, waren Sie eine Pio­nie­rin bei der Unter­stüt­zung von Frau­en in der Kunst. Wie beur­tei­len Sie die Rol­le der Frau in der Kunst heu­te? Haben Frau­en einen gleich­be­rech­tig­ten Zugang zum System?

Nein, Frau­en haben Zugang, aber kei­nen gleich­be­rech­tig­ten Zugang zum Sys­tem. Aber es ver­bes­sert sich. Frau­en von heu­te sind an einem viel bes­se­ren Ort. Schon vor der „Me Too“-Bewegung gab es eine Zunah­me von Frau­en an der Macht. Das ist ein gro­ßer Fort­schritt, seit ich mei­ne Arbeit vor mehr als fünf Jahr­zehn­ten begon­nen habe.

Gibt es noch Tabus im Kunst­be­trieb? Gibt es noch Gren­zen, die es zu durch­bre­chen gilt?

Sie wol­len mich wohl ver­ar­schen! Es gibt vie­le Tabus. Seit mei­ner Seri­en CABINET OF HORRORS und MONEY SHOT, die die Trump-Regie­rung visu­ell angrei­fen, wand­ten sich vie­le Gale­rien und Muse­en von mir ab. Vie­le Kunst­in­sti­tu­tio­nen haben Spon­so­ren, die Trump-Unter­stüt­zer sind. Gren­zen müs­sen unbe­dingt über­schrit­ten wer­den. Im All­ge­mei­nen kom­men Män­ner in ihrer Kar­rie­re viel wei­ter. Die Arbeit von Künst­le­rin­nen ist im Ver­gleich zu den heu­ti­gen männ­li­chen Künst­lern unter­be­wer­tet. Lei­der ist das Sam­meln von weib­li­chen Posi­tio­nen immer noch ein tol­les Schnäppchen.

Judith Bern­stein, „Gover­nor Geor­ge Wal­lace of Ala­ba­ma”, 1963, Cour­te­sy Judith Bernstein

Wie haben Sie sich gefühlt, als Ihre Arbeit „Hori­zon­tal“ aus der Aus­stel­lung im Phil­adel­phia Civic Cent­re Muse­um ent­fernt wur­de, weil sie mit Por­no­gra­fie ver­gli­chen wurde?

Ich war scho­ckiert. Ich war ver­blüfft und völ­lig ver­saut. Mein Kunst­werk exis­tiert in einem Kunst­kon­text. Es ist poli­tisch, und es ist nicht lüs­tern. Aber man kann eben nie wissen!

Nehmen Sie heu­te noch eine Art Zen­sur in den Insti­tu­tio­nen wahr?

Auf jeden Fall. Sexua­li­tät und Poli­tik stel­len defi­ni­tiv zen­sier­te The­men dar.

Ihre Ver­si­on des Femi­nis­mus beinhal­te­te die Beob­ach­tung der männ­li­chen Kul­tur und die Kom­men­tie­rung die­ser durch Ihre Kunst. Ist das noch ein The­ma für Sie, an dem Sie arbei­ten, oder hat sich Ihr Kern­the­ma im Zuge der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung verändert?

Der Kern ist der­sel­be, aber natür­lich hat sich mei­ne Arbeit ver­än­dert. Es ist bei­des gleich und hat sich erwei­tert. Ich begann mit FUCK VIETNAM in den 60er Jah­ren, als ich als Dok­to­ran­din in Yale war. In den 70er Jah­ren schuf ich groß­for­ma­ti­ge Schrau­ben­zeich­nun­gen in Holz­koh­le, die eine Ver­schmel­zung von Psy­cho­lo­gie, Anti­kriegs­kunst und Femi­nis­mus waren und bis zu 9 x 30 Fuß erreich­ten. 1986 war mein „Signa­tu­re Pie­ce“ eine gigan­ti­sche Instal­la­ti­on von „Judith Bern­stein” (14 x 45 Fuß) und stell­te Frau­en in den Mit­tel­punkt. Es ging um Ruhm, männ­li­che Hal­tung und mein eige­nes Ego. Ich las­se mich nicht vom Kon­zept abbringen!

Kommen wir zu einem der berühm­tes­ten Kunst­wer­ke, das in der Umge­bung von Wien in Nie­der­ös­ter­reich gefun­den wur­de: Die Venus von Wil­len­dorf. Hat die­ses Kunst­werk Ihre Arbeit beeinflusst?

Obwohl ich die­ses iko­ni­sche Bild lie­be, war die Venus von Wil­len­dorf kein direk­ter Ein­fluss. In den 80er Jah­ren habe ich eini­ge Venus­stü­cke geschaf­fen. Es waren Venus-Penis­se! Sie por­trä­tier­ten den Rücken einer Frau, wobei ihr Hin­tern und ihre Bei­ne zu einem Phal­lus wur­den. Ich war ent­täuscht, als ich für die „Gue­ril­la Girls“ nach Wien kam, und die Venus von Wil­len­dorf zum Schutz in einen Tre­sor­raum ver­wahrt und nur eine Repro­duk­ti­on zu sehen war.

Ihre Arbeit ist poli­tisch. In die­sem Sin­ne ver­wen­den Sie Sexua­li­tät und Bil­der von Geni­ta­li­en, um die mensch­li­che Psy­cho­lo­gie und Macht­struk­tu­ren zu erfor­schen. Wel­che Art von Macht hal­ten Sie der­zeit für die gefährlichste?

Es ist mir unmög­lich, hier nur eine Ant­wort zu geben. In den Staa­ten ist die Waf­fen­lob­by der gro­ße Ele­fant im Raum. Wir sind in der drin­gen­den Not­wen­dig­keit einer Waf­fen­re­form. Sturm­ge­weh­re sind ein Gräu­el. Ich dach­te, wenn die Zahl der Mas­sen­tö­tun­gen astro­no­misch steigt, wür­de es aus­rei­chen, die ver­ab­scheu­ungs­wür­di­ge Gesetz­ge­bung zu ändern. Aber das glau­be ich jetzt nicht mehr. Wenn Kin­der und Erwach­se­ne in Schu­len, Kir­chen, Syn­ago­gen, Kinos, Ein­kaufs­zen­tren und bei Fes­ti­vals nicht sicher sind, was sagt das dann über Ame­ri­ka aus? Eine der gefähr­lichs­ten Mäch­te sind der­zeit die Wei­ßen Supre­ma­zis­ten, extrem rech­te Grup­pie­run­gen, der natio­na­le und inter­na­tio­na­le Ter­ro­ris­mus, Donald Trump und ande­re reak­tio­nä­re rech­te Füh­rer welt­weit, von denen es genü­gend gibt.

Wie kön­nen wir dage­gen ankämpfen?

Mei­ne Arbeit ist fest­ge­schnallt und gela­den. Ich brau­che einen viel, viel, viel, viel, viel, grö­ße­ren Ver­an­stal­tungs­ort. Die Welt braucht eine aggres­si­ve Bewe­gung, um dem Schre­cken zu begegnen.

Woran arbei­ten Sie derzeit?

Wie bei allen mei­nen Seri­en geht es in mei­ner aktu­el­len Arbeit dar­um, in mein Unter­be­wusst­sein zu gehen, um die wir­kungs­volls­ten Wör­ter und Visua­li­sie­run­gen zu fin­den. Vor kur­zem habe ich an einer Serie DEATH UNIVERSE gear­bei­tet, die sich mit Schwar­zen Löchern, die sich gegen­sei­tig fres­sen, Aste­ro­iden­kol­li­sio­nen und natür­lich mit der Bedro­hung durch Donald Trumps nuklea­re Aus­lö­schung beschäf­tigt. Ich arbei­te auch an einer Serie namens BLUE BALLS. Die­se befasst sich mit der Sexua­li­tät auf einem Kon­ti­nu­um und zeigt die Ver­schmel­zung von männ­li­chen und weib­li­chen Geni­ta­li­en. Hier spre­che ich den Zeit­geist an, in dem Indi­vi­du­en nicht nur die Archi­tek­ten ihres Lebens sind, son­dern auch ihrer Sexualität.

Gibt es eine per­sön­li­che Nach­richt, die Sie an unse­re Leser*innen wei­ter­ge­ben möchten?

Alles schrei­tet vor­an. Roman­ti­siert nicht die Ver­gan­gen­heit. Ihr könnt nie mehr zurückgehen.

Judith Bern­stein, Artist’s Stu­dio, NY with „Hori­zon­tal Plus #3,” 1975. 
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