Umberto Boccioni, ein Prä-Futurist

 Eine Familie: eine Sammlung und ein wenig Geschichte

Das Gemäl­de gehört zu den „Land­schafts­ein­drü­cken“ aus der frü­hen Mai­län­der Zeit Umber­to Boc­cio­nis  und stammt zusam­men mit ande­ren klei­nen Gemäl­den von Ecken und Win­keln Mai­län­der Parks aus einem  Ver­kauf des Tes­ta­ments­voll­stre­ckers der 2001 noch im Haus von Giu­sep­pi­na Pia Chiat­to­ne (1906 – 2001),  der letz­ten Erbin und Toch­ter von Gabrie­le ver­blie­be­nen Güter.  Die drei Brü­der der Fami­lie Chiat­to­ne der ers­ten Gene­ra­ti­on, Gabrie­le (1853 – 1934), Grün­der der  Offi­ci­ne d‘Arti Gra­fi­che Chiat­to­ne (Abb. 1), Anto­nio (1856–1949) und Giu­sep­pe (1863–1954), alle Künst­ler,  kamen dank Gabrie­les Unter­neh­men in Kon­takt mit zahl­rei­chen ande­ren Künst­lern ihrer Zeit, wobei ins­be­son­de­re  Gabrie­le in der Lage war, eine Samm­lung von Wer­ken auf­zu­bau­en, die er sei­nen drei Kin­dern Mario  (1891 – 1957), Anto­nio jr. (1904 – 1957) und Giu­sep­pi­na Pia (1906 – 2001) ver­erb­te.  Gabrie­le Chiat­to­ne war der Arbeit­ge­ber von Umber­to Boc­cio­ni, der in den frü­hen Tagen sei­nes Auf­ent­halts  in Mai­land nach sei­ner Abrei­se aus Rom und kur­zen Auf­ent­hal­ten in Paris, Padua und Vene­dig sei­nen  Lebens­un­ter­halt damit ver­dien­te, Skiz­zen und Gra­fi­ken für die Ver­öf­fent­li­chung vor­zu­be­rei­ten, um sich sei­ner  wah­ren Lei­den­schaft wid­men kön­nen: der Male­rei. Doch schon bald ver­wan­del­te sich der klu­ge Unter­neh­mer  vom Arbeit­ge­ber in einen Mäzen und finan­zier­te des­sen Mal­übun­gen mit klei­nen Käufen.

 In Wirk­lich­keit war das Malen für Boc­cio­ni zu die­ser Zeit vor allem Expe­ri­men­tie­ren und male­ri­sche  Erfor­schung der Farb­tech­nik, die dem Aus­druck der Idee dien­te. Tat­säch­lich schrieb er am 31. März 1908  in sei­ne Tage­bü­cher: „Ich bin zuneh­mend davon über­zeugt, dass nur ein gesun­des und fai­res Gleich­ge­wicht  zwi­schen der tech­ni­schen Aus­füh­rung und der Idee das wah­re Kunst­werk bil­den kann. Von die­sen bei­den Ten­den­zen  bevor­zu­ge ich vor­erst ers­te­re.“ Und spä­ter „die Linie, die Ver­schmel­zung, das Geheim­nis des Impas­to,  das Hell-Dun­kel, das ist es, was die Din­ge im Bild zum Spre­chen bringt. Hier liegt die ewi­ge Idee. Das The­ma  kommt danach.“ Dies ist der Schlüs­sel zum Lesen und Ver­ste­hen aller prä-futu­ris­ti­schen Wer­ke von Umber­to  Boc­cio­ni: die Suche nach der Tech­nik, die erfor­der­lich ist, um die Idee aus­zu­drü­cken. Sei­ne Wor­te beschrei­ben  genau die Stim­mung der Mal­stu­di­en der prä-futu­ris­ti­schen Zeit, die er selbst nicht umsonst als Land­schafts­ein­drü­cke  bezeich­net. Gemalt in der Natur, wie er es bei Seve­ri­ni in Rom gelernt hat­te, an den frei­en, aber vor  allem krea­ti­ven Mor­gen oder Nach­mit­ta­gen, wenn er sich von der unbän­di­gen Sehn­sucht zu malen getrie­ben fühl­te. Er erforsch­te aus­drucks­star­ke Bild­mit­tel im Spiel  mit Kom­bi­na­tio­nen und Dekom­po­si­ti­on farb­li­cher Effek­te  (Gia­co­mo Bal­la in Rom hat­te ihn in den Divi­sio­nis­mus  eingeführt(1)), und wid­me­te sich dem Stu­di­um  der wis­sen­schaft­li­chen Theo­rien von Pre­via­ti (2). Und  tat­säch­lich sind die ver­schie­de­nen Pha­sen für einen  auf­merk­sa­men Beob­ach­ter in jedem der klei­nen Gemäl­de  der ehe­ma­li­gen Samm­lung Chiat­to­ne deut­lich  sicht­bar. Sol­che Mal­übun­gen sind nicht in der Lis­te  des für die Stadt Luga­no bestimm­ten Erbes ent­hal­ten  und sind gera­de des­halb so wich­tig, weil sie eine  wert­vol­le Doku­men­ta­ti­on sind.

 Die male­ri­sche und  expres­si­ve Leis­tung ist nicht immer über­wäl­ti­gend,  aber die „Schwä­che“, die jemand in ihnen fest­stel­len  könn­te (Cal­ve­si 2012(3)), ist ihr Reich­tum: Die Kraft  der For­schung, die Mani­fes­ta­ti­on des rela­ti­ven Ver­sa­gens,  das sich dem Drang zuwen­det, mehr zu tun,  „ich suche, suche, suche und fin­de nicht. Wer­de ich  was finden?“(4) Und spä­ter „In die­sen Tagen habe ich  viel gear­bei­tet, aber immer in der Suche nach einer  gewis­sen­haf­ten und auch expres­si­ven Fähig­keit, aber  nur Fähig­keit. Auch hier füh­le ich mich schwach.“(5)  Die außer­or­dent­li­che Bedeu­tung die­ser  klei­nen ehe­ma­li­gen Samm­lung Chiat­to­ne der Wer­ke  Boc­cio­nis liegt gera­de dar­in, dass sie die Doku­men­ta­ti­on  der Wege und Bild­tech­ni­ken sind, mit denen  sich der Künst­ler von Zeit zu Zeit kon­fron­tiert sieht.  Expres­si­ve For­schung im Ein­klang oder in Dis­so­nanz,  um unter­schied­li­che Licht­ef­fek­te in der­sel­ben Kom­po­si­ti­on  zu erzie­len. Dekom­po­nier­te und neu zusam­men­ge­setz­te  Far­ben­spie­le. Nicht nur ver­schie­de­ne  Far­ben, um Lich­ter und Wir­kun­gen in ver­schie­de­nen  Situa­tio­nen und Stim­mun­gen ein­zu­fan­gen, son­dern  ein­mal lan­ge und flie­ßen­de, ein ander­mal kur­ze und  kräf­ti­ge Pin­sel­stri­che, als ob der Maler sei­ne Hand  gelen­kig machen woll­te, so wie es der Pia­nist tut, um  das rich­ti­ge Tas­ten­ge­fühl zu erreichen.

1 Laghet­to nel Par­co, ca. 1908/09, Öl auf Lein­wand cm 42,3 x 52 – Her­kunft Col­le­zio­ne Chiat­to­ne Lugano

Am 13. Mai 1908 schrieb er in sei­ne Tage­bü­cher:  „Ich habe Herrn Chiat­to­ne ein Land­schafts­bild  gege­ben, das an die­sen Mor­gen ent­stan­den  ist. Ich erhielt 20 Lire…, ich war recht zufrie­den. Ein  ziem­lich fri­sches Land­schafts­bild und in vie­len Din­gen  ver­ständ­lich – viel mehr Pin­sel­be­herr­schung und  ich habe es erst­mals genos­sen, den Vor­der­grund zu  model­lie­ren, den ich vor­her immer übrig gelas­sen  hat­te.“ Obwohl wir nicht wis­sen, auf wel­ches Gemäl­de  sich die­ser Ver­kauf an Chiat­to­ne bezieht, ist  jedoch die Erwäh­nung inter­es­sant, mit dem Pin­sel  ver­traut gewor­den zu sein. Ich gehe daher ein­mal  davon aus, dass es sich um das hier erst­mals publi­zier­te  Gemäl­de han­delt, da fest­zu­stel­len ist, dass  der Vor­der­grund sorg­fäl­tig gemalt wur­de, der in  unse­rem Gemäl­de durch die lan­gen, flie­ßen­den Pin­sel­stri­che  der Büsche auf der lin­ken Sei­te sehr gut  gelun­gen ist, die durch die typi­schen kobalt­blau­en  Pin­sel­stri­che (die RFA-Ana­ly­sen bestä­tig­ten dies) und  die Genau­ig­keit der Refle­xio­nen auf dem Was­ser  des Tei­ches mit herbst­li­chen Far­ben, die aber immer  noch reich an som­mer­li­cher Hel­lig­keit sind.

Spon­ta­ne  gra­fi­sche Stri­che, die gut mit den schnel­len Pin­sel­stri­chen  der „Land­schaft mit Bäu­men und Bach“ har­mo­nie­ren,  die eben­falls nicht signiert sind und die aus  der Samm­lung des Cav. Minet­ti stam­men, wel­che  jetzt im Besitz der Ban­ca Inte­sa sind (Abbil­dung 4).  Nicht signiert, wie vie­le der Übun­gen in  der Samm­lung Chiattone6, aber auf der Rück­sei­te  des Rah­mens ist eine Anmer­kung „Chiat­to­ne“ ange­bracht  und sehr ver­blass­te Initia­len, viel­leicht „U  B“ in Blei­stift, die wie der Stem­pel der Samm­lung  Gabrie­le Chiat­to­nes die Her­kunft bezeu­gen (Abb.  4 – 5). Die male­ri­sche Hand­schrift, die Art der Farb­wahl  sowie der Ansatz der Frei­licht­ma­le­rei füh­ren  uns zurück zum Kor­pus von Land­schafts­bil­dern, die  eben aus dem Nach­lass Chiat­to­ne an die Stadt Luga­no  stammen.(7)

Wir ver­dan­ken es Gabrie­le Chiat­to­nes  Weit­sicht all dies im Bewusst­sein sei­ner Bedeu­tung  bewahrt und gesam­melt zu haben, und wir ver­dan­ken  es der Groß­zü­gig­keit sei­ner drei Kin­der durch die  Schen­kung der wich­tigs­ten Wer­ke an die Stadt Luga­no,  die jetzt im Museo Civico di Bel­le Arti aus­ge­stellt  sind. Sie haben die Kennt­nis und das Stu­di­um des  künst­le­ri­schen Wachs­tums Umber­to Boc­cio­nis mög­lich  gemacht: Eine Art Tage­buch mit Bil­dern, das eng  mit sei­nen schrift­li­chen Tage­bü­chern ver­bun­den ist.  Der ers­te Akt die­ser Schen­kung fin­det nach  dem letz­ten Wil­len von Mario Chiat­to­ne, dem ältes­ten  der drei Kin­der Gabrie­les am 9. Janu­ar 1957 statt.  Der Gemein­de Luga­no und damit der Cac­cia-Stif­tung  wer­den der ihm zuste­hen­de Teil der Kunst­wer­ke aus  der Samm­lung sei­nes Vaters Gabrie­le ver­macht, die  offen­bar bis zu die­sem Moment nicht unter die drei  Geschwis­ter auf­ge­teilt waren, und in dem­sel­ben Tes­ta­ment  wird auch fest­ge­legt, dass die Cac­cia-Stif­tung  die bes­ten Wer­ke der Öffent­lich­keit zugäng­lich machen  muss. Er drängt auch dar­auf, sei­ne bei­den Geschwis­ter  Anto­nio Jr. und Giu­sep­pi­na Pia zu sei­nen uni­ver­sel­len  Erben zu ernen­nen, mit dem aus­drück­li­chen  Aus­schluss eines ande­ren Ver­wand­ten und mit dem  Wunsch, dass jeder der bei­den Geschwis­ter über das  von ihm geerb­te Ver­mö­gen ver­fü­ge und im Fal­le des  Todes eines der bei­den einer zuguns­ten des ande­ren  und der letz­te Über­le­ben­de es der Stadt Luga­no ver­ma­che,  „um es in die Cac­cia-Stif­tung zu über­füh­ren,  damit die­se Kunst­wer­ke erwirbt oder es für die Finan­zie­rung  eines stän­di­gen Sit­zes eines Stadt­mu­se­ums  der schö­nen Küns­te vorsieht.“

Im glei­chen Wil­len ermahnt  er sei­ne Geschwis­ter, über ihre Besitz­tü­mer, die  von der Fami­lie Gabrie­le Chiat­to­ne stam­men, auf die  glei­che Wei­se zu ver­fü­gen.  Eini­ge Mona­te spä­ter stirbt der jüngs­te,  Anto­nio Jr., plötz­lich am 13. Juni 1957 (zu die­sem  Zeit­punkt waren höchst­wahr­schein­lich die Antei­le der  drei Geschwis­ter gebil­det wor­den, wie die Stem­pel  Rac­col­ta Mario Chiat­to­ne und Rac­col­ta Anto­nio  Chiat­to­ne zei­gen, die auf der Rück­sei­te eini­ger Gemäl­de  die­ser Grup­pe zusätz­lich zum his­to­ri­schen  Stem­pel von Gabrie­le sicht­bar sind, der die Erb­fol­ge  sei­nes Teils der Samm­lung zuguns­ten der bei­den Geschwis­ter  Mario und Pia bestimmt, aller­dings nur für  eini­ge Mona­te, da Mario am 21. August des­sel­ben  Jah­res starb und alles sei­ner Schwes­ter zur tes­ta­men­ta­ri­schen  Voll­stre­ckung hinterließ.

Es wird Giu­sep­pi­na  Pia sein, die letz­te Erbin, die sich 1961 mit einer  Schen­kungs­ur­kun­de ver­pflich­tet, das Erbe von Gabrie­le  Chiat­to­ne der Stadt Luga­no zu über­las­sen, sich  dabei die Nutz­nie­ßung bis zu ihrem Tod vor­be­hält.  Aus die­sem Grund wur­de ein Inven­tar aller Wer­ke  erstellt (Lis­te der Kunst­wer­ke in der Woh­nung und  in den Gebäu­den der Signo­ri­na Pia, die der Stadt  Luga­no am 14. Juni 1968 mit 284 Raum für Raum  regis­trier­ten Wer­ken geschenkt wur­den). Der danach  ver­öf­fent­lich­te Kata­log Samm­lung Fami­lie Gabrie­le  Chiat­to­ne weist 83 aus­ge­stell­te und 278 nicht aus­ge­stell­te  Wer­ke nach. Auf den Gemäl­den wur­de ein  ova­ler Stem­pel mit der Inschrift: Eigen­tum der Stadt  Luga­no / Schen­kung Fami­lie Gabrie­le Chiat­to­ne angebracht.

Fußnoten

1 Gino Severini schreibt: Es war Giacomo Balla, der unser Lehrer wurde, der uns in die moderne Technik des Divisionismus einführte, ohne uns jedoch dessengrundlegende und wissenschaftliche Regeln beizubringen.  Balla war ein Mann absoluter Seriosität,  tiefgründig, nachdenklich und Maler im weitesten  Sinne des Wortes. [...] Es war ein großes Glück  für uns, einem solchen Mann zu begegnen, dessen  Entscheidung vielleicht unsere gesamte Karriere  bestimmt hat. Die Atmosphäre der italienischen  Malerei war in diesem Moment die schlammigste  und zerstörerischste, die man sich nur vorstellen  konnte; in einer solchen Umgebung wäre sogar  Raphael kaum zum Genrebild gekommen! (G.  Severini, Das ganze Leben eines Malers 1946). 

2 Umberto Boccioni, Die Tagebücher, 21. Dezember 1907; 8. Januar 1908, herausgegeben von Gabriella  Milia, Verlag Abscondita 2003; G. Previati,  Die Technikder Malerei, Turin, Bocca 1905, anastatischer  Nachdruck Kessinger Publishing, USA; G.  Previati, Wissenschaftliche Prinzipien:Die Technik  der Malerei, Turin, Bocca 1905, anastatischer  Nachdruck, Kessinger Publishing, USA 

3 Das Urteil von der “Schwäche” wurde mir persönlich  während einer Unterhaltung mit Prof. Calvesi  über eines der Gemälde der Gruppe mitgeteilt,  um die von ihm bereits zuvor anerkannte Urheberschaft  zu leugnen. In unserem Fall wird der Versuch  einer negativen Kritik zu einer Wertschätzung, denn  genau das hat Boccioni selbst empfunden. 

4 Umberto Boccioni, Op.cit., 14. März 1907 

5 Umberto Boccioni, op. cit., 18. März 1907 

6 Vgl. Ausstellungskatalog , Kunstwerke der Stadt Lugano,  Schenkung Chiattone, Lugano 2006 - 2007,  insbesondere Datenblätter der Seiten 98 und 100. 

7 Kunstwerke der Stadt Lugano Die Sammlung,  Gemälde und Skulpturen Abteilung für kulturelle  Aktivitäten Lugano 1998
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Kunsthistorikerin, Absolventin der Universität „La Sapienza“ in Rom, ist Autorin von Aufsätzen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Seit über fünfzehn Jahren widmet sie sich der Malerei des 16. und 17. Jhd. in Italien und kombiniert die archäologische Zuordnung mit der Kunstgeschichte. Die Methode der detaillierten Dokumentenrecherche zu den Quellen, selbst historisch, die aus der zwanzigjährigen Bekanntschaft mit Sir Denis Mahon, einem großen angelsächsischen Gelehrten des italienischen Barock, vermittelt wurden, wird von Paoletti mit der innovativen Anwendung von Technologien für die Kunst (X-RAY - XRF, NIR) kombiniert , (μ-FTIR usw.), um in antiken Gemälden auf die Suche nach für das menschliche Auge unsichtbaren physikalischen Eigenschaften zu gehen. Die für die klassische Malerei entwickelte Forschungsmethode erzeugt unterschiedliche Forschungspfade in der zeitgenössischen Malerei, die jedoch durch die in der Antike gesammelten Erfahrungen verfeinert werden. Sie lebt und arbeitet in Rom.

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