Fragmente eines Gesprächs mit dem Künstler Dirk Hessel
Das Subjekt als erster und grundlegender Ort der Kunst ist ein leiblich vermitteltes. Der Leib ist eine große Vernunft, schreibt Nietzsche in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ in dem Kapitel: „Von den Verächtern des Leibes“. Das Gemeinsame einer interpersonell organisierten Gemeinschaft, braucht etwas, das sie authentisch zu einer solchen macht. Werte, die in gelebter prozessualer Form gerade das Gemeinsamsein einer Gemeinschaft ausmachen. Ein gemeinsamer sinnstiftender Entwurf, Arbeit an einem gemeinsamen Werk.
Es ist der Stoff, das Wesen oder auch das dionysisch unhaltbar drängende und treiben-de Werdende, das in Bewegung Seiende. Der lebhafte, leibhafte Stoff des leibenden Lebens ist existenzieller Schöpfungsmächtiger jeglicher künstlerischen Form. Ein Zusammenspiel Dionysos‘ und Apollons, die einander erzeugend und sich gegenseitig zu immer neuen Geburten drängend Kunstschaffende sind, die Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, seinem philosophischen Erstlingswerk, als die Grundsäulen von Kultur überhaupt beschreibt. Rauschhafte ekstatische Wirbelstürme, die zerstörerisch und das Neue und Hoffnungstragende des menschlichen Daseins gleichermaßen sind. Eine Balance zwischen beiden, eine momenthafte Aussöhnung im Schaffensprozess der Zeugung in Schönheit. Das ist die Aufgabe und Pflicht des Künstlers, der die Balance zu halten und zu garantieren hat. Jeden Tag aufs Neue. Dirk Hessel ist Künstler und er lebt samt Patchwork-Familie am Rande Dresdens auf seinem abgelegenen Grundstück direkt am Waldrand in einem kleinen Schloss, dem „Trommelschloß“. Im Künstlerhaus arbeitet er, allein und auch mit anderen Künstlern, die teilweise dort auf dem Grundstück mit wohnen und ist auch gern für sich. Vielleicht für Momente der Freiheit? Er sagt: Freiheit im Sinne eines freien Willens gebe es nicht, er sei Determinist und das sei seine Art, so etwas wie sich selbst zu finden. Im Einlassen auf das ihn Umgebende, ohne Abhängigkeiten, ohne so fixe Punkte, dass er in seiner Lebensart eingeengt würde. Auch eine Form, frei für sich sein oder bleiben zu wollen, unterstelle ich jetzt einmal. Sich selbst per künstlerischer Einlassung in das eigene Werk – das selbst gar nicht so wichtig sei und auch anders hätte sein können – ergründend, passiv anderem gegenüber, sich aber bewusst und damit aktiv in eine Art unabwendbare Notwendigkeit gebend. Eine Suche, eine Sehnsucht. Sehnsucht nach Sinn … Wo ist Sinn? Wo ist er zu suchen? Nicht im Jetzt, denn dann wäre er ja da und müsste nicht gesucht werden. Also in dem, das noch kommt, auf ihn zukommt – auf dem Weg der Zukunft entgegen, sich auf sie „willenlos“ einlassend. Zukunft muss man auf sich zukommen lassen, sie nicht mit dem eigenen Willen bedrängen, beeinflussen und so vielleicht verdrängen. Es gibt etwas Stärkeres, Größeres, Mächtiges als uns. Davon ist der Künstler überzeugt und er experimentiert mit seiner Kunst der Zukunft als völlig Unbekannte entgegen. Nicht aber gegen den Strom, nein: mit ihm. Hessel sagt, künstlerisches Arbeiten ist etwas, das kommt als Ereignishaftes – oder es kommt nicht. Je mehr man etwas will, desto wahrscheinlicher sei es, genau das zu verhindern: das Eintreten des Ereignisses. Wer angeln ginge, sei schließlich auch abhängig von der Schwimmlust der Fische. Es ist nicht ein Gott oder DER Gott, der mit Rauschebart im Himmel sitzt und Menschen nach seinem Gutdünken erschafft und ihre Lebensaufgabe, den Sinn des Lebens des Menschen überhaupt bestimmt. Aber ebenso wenig ist es, laut Dirk, der rational sich erkennen wollende und damit immer wesentlich überschätzende Einzelne, der fest an seinen freien Willen glaubt. Diesen Glauben aber gibt er nicht einmal zu, denn er „weiß“, dass er sich über den „Rest“ der Natur erhaben und fühlen darf und sie nach eigenem Gutdünken beherrschen.
Die Einsicht aber, dass wir im Grunde als Individuen gar nichts wissen über unsere eigene Entstehung, nur dass wir uns nicht ganz aus eigener Kraft geboren oder irgendwie erzeugt haben können, ist Argument gegen die Hybris eines anthropozentrischen Rationalismus. Der Künstler geschieht wie der Blitz, sein Wurf ist Ereignis. Das würde bedeuten, man könnte gerade im Freilassen des Willens, im Loslassen von selbstgewollten Zielen, in der Hingabe an das Größere, als man selbst, die Macht, die allein nicht wahrnehmbar wäre, erahnen. Freiwilliges Dienen einer Gewalt, der man angehören will, empraktisch seiner großen Sehnsucht folgend und unwiderruflich schön im Streifen derselben. Die Berührung ist gleich Ekstase, die in ihrer Unermesslichkeit jeden Ver-gleich hinter sich lässt und maßfindend an sich selbst eigene Grenzen überwindet. Was tut der Ekstatiker? Er transzendiert Grenzen, indem er sie aufbricht und sich entschieden ins Offene wendet – und damit zu sich selbst. Was dann kommt, ist das Offene und der Expraktiker, der Ekstatiker seines Daseins, stellt sich dem Unbekannten und sucht die Bekanntschaft mit ihm. Wenn er überlebt, dann hat er in das bislang Unmögliche ein Möglichkeitsfeld gebracht und einen Weg geebnet, der aufbricht, was erstarrt war und damit sei-ne Grenzsetzung bewegt. Der Künstler hat, folgt man diesem Gedanken, gerade in der freiwilligen Kontrolllosigkeit über sich doch die größtmögliche (Über-)Sicht, denn die Überschreitung der ehemaligen endzielsetzenden Grenze ermöglicht den Rückblick auf das ehemals letzte Ziel. Mit der Verschiebung einer Grenze wir das Feld des Möglichen erweitert und damit Erkenntnis durch Erinnerung ermöglicht. In der Aufgabe der Kontrolle durch Grenzüberschreitung die Sehnsucht und Erfüllungsmöglichkeit weiterer Ermächtigungsfelder. Durch Hergeben von Selbstmacht mehr Selbstherrschaft gewinnen.

Ein Theaterstück, das entsteht, ist zum einen die Entstehung selbst, der Prozess. Wenn es fertig ist, dann ist es ein Objekt, das da ist, das man sich gegenüberstellt und das nun für sich ist. Dann erst kann eigentlich der Künstler erkennen, was es geworden ist.
Der Philosoph Pirmin Stekeler schreibt in dem Kapitel 9 „Ich und (Selbst)Bewußtsein“ in seinem Buch „Philosophie des Selbstbewußtseins“ in seiner selbstphilosophisch erweiterten Hegelinterpretation: „Freiheit [sei] nur als Effekt humaner Praxisformen im Spannungsfeld zur Eigenerfahrung des Individuums, nicht als Eigenschaft des einzelnen Ich oder Subjekts in einem unmittelbar auf sich selbst bezogenen Selbstbewusstsein. Die Wirklichkeit des freien Willens und die Wirklichkeit von Praxisformen“, innerhalb derer der Einzelne zwischen Möglichkeiten wählen kann, sind dasselbe. Die Endlichkeit des Wissens sei letztgültiges Argument gegen sowohl die theologische Gottesannahme, als auch ein Glaube an das Absolute. Stekeler reduziert aber dann das menschliche Wissen überhaupt auf rationales wissenschaftliches Wissen. Wohl spricht er von der Möglichkeit der Auflösung kausaler Zeitverhältnisse im Moment und der Unfähigkeit des Menschen, darin zu leben, vergisst aber, dass es ein Moment sein kann, der als künstlerisches Moment das eigene Leben zum Kunstwerk transzendiert und für diesem Moment sein gesamtes Leben als Lebenskunstwerk konstituiert, auch wenn die Kausalität weiter alltäglich gelebt werden muss, um zu leben. Freiheit wäre das Leben im Absoluten, die Auflösung der kausalen und raum-zeitlichen Verhältnisse und damit die Auflösung der leiblichen Existenz. Freiheit ist dann mit dem Tod gleichzusetzen, mit der Vereinigung mit dem Absoluten. Insofern gibt es im Leben keine Freiheit. Determiniert ist der Mensch metabolisch, als Organismus und in der Notwendigkeit, sich an Äußeres anpassen zu können, mit zu leben. Das gelingt, wenn intrapersonell eine einheitliche Haltung des Individuums Tag für Tag erkämpft und an sich gearbeitet wird. Formen schaffen, dem innersten Erlebnis Form geben – das ist die Arbeit des Künstlers an sich selbst, empraktisch-leibvermittelt sein Leben zum Lebenskunstwerk zu gestalten, ihm Stil zu geben.

„Ich hatte kaum Eigenantrieb“, sagt Dirk Hessel und weiter sagt er, es habe sich in seinem Leben bisher alles so ergeben, wie es war. Er spricht von einem Leben, das er bejaht – sei-ne Wege passierten ihm. Ein Theaterstück, das entsteht, ist zum einen die Entstehung selbst, der Prozess. Wenn es fertig ist, dann ist es ein Objekt, das da ist, das man sich gegenüberstellt und das nun für sich ist. Dann erst kann eigentlich der Künstler erkennen, was es geworden ist. Während der Arbeit daran, hat man im Gefühl, wann es stimmt, stimmig ist, fertig. Ob das Gefühl sich bestätigt, das zeigt sich später. So beschreibt Dirk Hessel den Prozess der Entstehung eines Theaterstückes, das er als Beispiel für seine vielseitige Arbeit anführt. Künstler sei, so Hessel, wer kreativ wird, Schaffen ist der künstlerische Prozess. Was genau es ist, das geschaffen wird von dem Einzelnen, sei nicht wichtig, sondern einzig, dass es geschaffen wird. Hessel selbst probierte in seinem Leben schon vieles aus, das seine kreativen Möglichkeiten forderte. Orte, an denen sich Sehnsucht für einige Zeit manifestieren kann und dann doch weiter strebt. Was sich an den Orten, an denen er innehielt und eine Weile blieb oder auch mal länger, immer erwies, betrachte man es im Nachhinein, war, dass es Orte der Kunst waren. Magische Orte, die sich mit dem inneren Magischen des Ankommenden empraktischer Gewissheit eigen verbinden. Sie sind Herausforderung, weil sie selbst nach Herausforderungen suchen. Waren, die er annahm. Berufung, nicht Jobsuche, ist Triebstoff des Weges, den Hessel betritt.
Künstler zu sein, ist etwas, das man nicht wählt, das einen vielleicht quält und aufgrund der letztendlichen Unerreichbarkeit eines fixen Zieles verzweifelt sein lässt. Aber endet nicht das Leben in einer dieser Verzweiflungen, so ist mit gleicher Notwendigkeit ein nächster und herausfordernderer Ort des Schaffens im nächsten Moment einfach da und für Momente auch Heimat. Das Selbstbewusstsein als Künstler habe er v.a. auch durch viele schmerzhafte Erfahrungen, wenn bspw. kaum oder kein Publikum zu Auftritten da war, eingeübt. Eine dicke Haut, die jetzt ermöglicht, sich tatsächlich auf die eigenen Hervorbringungen, auf das eigentliche, auf die Kunstschöpfung, auf sich als Kunstmachenden, auf die Kunst zu konzentrieren und so klar und unabgelenkt bspw. die Komposition per Mikrotechnologie aufnehmen und eine CD daraus produzieren oder mit anderen Künstlerfreunden, Seelenverwandten eigentlich, die ein Gespräch auf höherer Ebene mit ihm führen. Das sei genug, dann seien es ja sogar noch mehr Leute/Künstler als nur er allein, die diese Erlebnisse teilen. Nicht gegen den Strom, sondern mit dem Strom schwimmen, sich mitreißen lassen, weil man nach Selbsterkenntnis strebt. Sich einlassen in die Notwendigkeit, seinen Ort zu finden, bar der aktiven Suche, nicht provozierend und – seiner Ansicht nach verfälschend – sondern sich Provokationen ausliefernd, sich ausliefern und vertrau-en, dass das Richtige geschieht, dass man seinen Platz nicht per Wettkampf erobert und einnehmen muss im Vergleich mit anderen, die auch höchstens Suchende sein können, sondern sich von der Gewalt, die notwendig ist, weisen zu lassen. Das ist ein Mut, der nicht Autonomie im selbstgesetzgebenden Willen des Individuums aktiv wird, sondern eine Souveränität, das Dienen einer Herrschaft gegenüber, die unergründlich und mehr als man selbst ist, lernen – aufzuhören, unwissend das „Wissen“ erzwingen Wollende zu zappeln. Das Zappeln macht kraftlos und mürbe und ist letztlich niemandes Gewinn.
Dirk Hessels Herausforderungen kommen auf ihn zu, sind Ereignisse und stiften mit ihrem Eintreten Zukunft. Man muss sie kommen lassen, um offen zu sein zur Begegnung mit den Momenten, die Ereignisse sein können. Das Einlassen, das in gegenseitigem Freisein (also immer wieder auch einsam-sein-können und müssen) entstehen kann, führt zu eigentlicher Verbindung, die in einer Art existenzieller Dialektik ein drittes Gemeinsames und damit Neues gebären kann. Was der Künstler aus eigenem Schaffen erfährt, ist transzendierbar in gemeinsames und damit echte Gemeinschaft stiftendes Schaffen. Vielleicht die Form freien und gleichzeitig selbstbestimmten Zusammenlebens von Menschen überhaupt. Das Maß, die Werte des Gemeinsamen ergeben sich nicht aus dem schnellen Blick, der gegenseitig dem Gegenüber oder Benachbarten zugeworfen wird, um sich selbst beurteilen zu können, sondern das Maß ist der Einzelne selbst. Wer weiß, was er an sich selbst hat, wo er kritischen Blickes arbeiten sollte und was er gern könnte – selbstentschlossen aufrichtig – der wird niemanden anders verdächtigen, dass er anders urteile.
Selbstmaß ist der Maßstab des Künstlerlebens für sich und v.a. daraus resultierend mit ANDEREN: Selbst-„Wettkampf“ Tag für Tag schafft einzig Freiheit. Gemeinsames Arbeiten sei, so Hessel, immer wichtig gewesen für seine eigene Kunst. Entindividualisierung als Öffnung ins Besondere – das sei ein empraktisch vollzogener und noch im Nachhinein befriedigender Akt künstlerischen und dann eben auch gemeinsamen Schaffens. Das Besondere entsteht dann, wenn eine Arbeit, die allein begann, in der Öffnung besonders wird, weil sie eben interpersonell funktioniert und sinnstiftende Gemeinschaft bildet. Vielleicht eine Künstlerfreundschaft – eine Arbeit, die sich nicht erschöpft im augenblicklichen Projekt. Wenn man beieinanderbleibt, dann ist das etwas, das keiner wortreichen Begründung und Vergewisserung bedarf, sondern eine Art gegenseitige Gewissheit. Voraussetzung dafür ist aber auch immer wieder das in sich gehen, einsam, mit sich eins sein. Ein Rückzug, der für neue Begegnung und Offenheit, ja Interesse, wieder zusammenzukom-men, Voraussetzung ist. Verstehende Vernunft ist das Vermögen, zu vernehmen, das erweiterte Ein-Stimmung in den mystischen Einklang mit sich in Einheit, einsam jeweils den anderen einbezieht und ein gegenseitiges Eingestimmtsein, eine gemeinsame Stimmung entstehen lässt. Für Momente funktioniert Hermeneutik in der Empraxis gemeinsam erlebter Arbeit, gemeinsamen Schaffens in eine Offenheit hinein, die nicht zweckgebunden ist, sondern als Mittel selbst Erfüllung bringt. Hessel spricht von dem entstehenden Besonderen in der Entindividualisierung. Das Unteilbare, das In-Dividuum nicht in einem geteilten Zustand. Nein, es bleibt bei sich und der andere wird zum an-deren des Selbst, das eigene andere und erfährt Ganzheit, auf eine Art und Weise, die es auch in der mystischen Vereinigung in sich nicht so erfahren kann. Das Besondere ist Transformation des Individuellen als sich im gemeinsamen Werk, im künstlerischen Schaffen um ein fremdes Erweitern-des. Allein zweistimmig singen können, ist etwas anderes als gemeinsam mit einer zweiten Stimme dasselbe Lied zu singen. Man kann nur verstehen, durch Einverleibung und Mitvollzug des Erlebens des Anderen. Das ist immer ein ereignishaftes, kritisch-künstlerisches Moment, ein Begreifen durch Auf-greifen des Anderen, schließlich durch das Hineingreifen / sich-einbringen, für Momente symbiotisch wahrnehmende Notwendigkeit der Geburt eines Werkes. Dies geht über das, was im alltäglichen Wortgebrauch mit „Verstehen“ gemeint ist, hinaus. Es verbleibt nicht in der Analogie. Gilt in der Regel: „Verstehen ist das Missverständnis, verstanden zu haben“ – stellt sich in dem empraktischen Werkschöpfungsakt vereinende Praxis ein, ohne gegenseitige In-Fragestellung – als Machen, Können, TUN. Die Selbstverständlichkeit, allein zweistimmig zu singen, erfüllt alles: die Körper, die Seelen, den Geist – es bleibt für den Moment der Erfüllung keine schwarze Stelle, keine Spalte, keine Fuge, die zwischenfragen könnte. ES IST. Einfach. Unhinterfragt. Sich-Selbst-Genug. ES STIMMT.