The Point of Return(ing)

Pro Jahr werden allein in Deutschland 110 Millionen online bestellter Kleidungstücke zurückgeschickt.

Von rund einer Mil­li­ar­de ins­ge­samt online bestell­ter Klei­dungs­stü­cke und Mode­ar­ti­kel. 30 Pro­zent davon kom­men nicht mehr in den pri­mä­ren Waren­kreis­lauf, ein beträcht­li­cher Teil lan­det schlicht­weg im Müll. In einer Stadt wie Ber­lin, wo ich lebe und arbei­te, fal­len jedes Jahr 80.000 Ton­nen Alt­tex­ti­li­en an, von denen mehr als die Hälf­te nur noch zum Ver­bren­nen taugt. Die ande­ren nicht mehr als A‑Ware ver­wert­ba­ren Arti­kel wer­den größ­ten­teils von soge­nann­ten Retou­ren­auf­käu­fern ins außer­eu­ro­päi­sche Aus­land ver­kauft, um die inlän­di­schen Prei­se nicht zu verderben.

Beco­me A‑Ware”, das Pro­jekt, das mich aktu­ell beschäf­tigt, unter­nimmt den Ver­such, eini­ge die­ser mit jeder Rück­sen­dung wert­lo­ser wer­den­den Klei­dungs­stü­cke nicht nur zu ret­ten, son­dern auf­zu­wer­ten. Den fata­len Lauf der Din­ge, den eine ste­tig wach­sen­de Pro­duk­ti­on immer kurz­le­bi­ge­rer und lang­wei­li­ge­rer Mode­ar­ti­kel nach sich zieht, zu wen­den. Mit einem Team aus Schauspieler*innen, Designer*innen und Handwerker*innen akqui­rie­ren wir Retou­ren und also poten­zi­el­len Müll ent­we­der direkt von den Konsument*innen auf der Stra­ße oder aus den Über­hän­gen von Unter­neh­men und Auf­käu­fern und ver­su­chen, dar­aus wie­der A‑Waren zu machen. Idea­ler­wei­se Tri­ple-A-Waren. Stü­cke, die mit Design und Bewusst­sein glän­zen und das Poten­zi­al haben, zum Lieb­lings­stück zu wer­den. Und sei es nur, weil sie mit dem „Beco­me A‑Ware”-Label ver­se­hen sind.

Beco­me A‑Ware” geht aber auch der Fra­ge nach den Funk­ti­ons­wei­sen, den Rei­zen und Trieb­kräf­ten die­ses gan­zen Mecha­nis­mus nach. War­um kom­men Han­del und Indus­trie der Lust zum Retour­nie­ren so bereit­wil­lig ent­ge­gen, ja för­dern sie sogar? Wie gehen sie de fac­to damit um, und wie spre­chen sie dar­über? War­um nut­zen Konsument*innen das Recht zu retour­nie­ren so gna­den­los aus, und war­um ver­tei­di­gen es ihre Schutz­ver­bän­de mit sol­cher Ver­ve? War­um kla­gen Vertreter*innen der Zivil­ge­sell­schaft zwar fort­wäh­rend über die damit ver­bun­de­ne Res­sour­cen­ver­geu­dung und Umwelt­be­las­tung, errei­chen aber trotz aller Zustim­mung weder bei Konsument*innen, noch bei Unter­neh­men, noch in der Poli­tik ein nen­nens­wer­tes Umsteu­ern? Ist die Lust zu retour­nie­ren nur ein Kenn­zei­chen unse­rer Zeit und ihrer spe­zi­el­len Öko­no­mie oder lie­gen ihre Wur­zeln tie­fer? Ist sie nur eine Fra­ge des Kon­sums oder erstreckt sie sich auch auf ande­re Gebie­te? Erfüllt sie viel­leicht sogar ein tief sit­zen­des Bedürf­nis? Oder ver­ur­sacht zumin­dest einen gewis­sen Kick?

„Beco­me A‑Ware” ver­sucht eine Ant­wort auf die Fra­ge, ob das nicht auch spie­le­ri­scher, umwelt­scho­nen­der und men­schen­freund­li­cher geht. 

Je mehr ich dar­über nach­den­ke, des­to öfter kommt mir das tri­um­pha­le Gesicht mei­nes Vaters in den Sinn, wenn er lan­ge vor Online-Han­dels­zei­ten nach erfolg­rei­chen Umtäu­schen nach Hau­se kam. Ich erin­ne­re mich an ein paar Leder­hand­schu­he, die ihm sage und schrei­be vier­mal die Chan­ce gaben, in einer wich­ti­gen Ange­le­gen­heit in die Stadt auf­zu­bre­chen und einem unend­lich über­le­ge­nen Han­dels­part­ner ein klei­nes Ent­ge­gen­kom­men abzu­rin­gen. Ganz abge­se­hen davon, dass er ver­mut­lich auch mit der Ver­käu­fe­rin flir­ten konn­te. Nun ja, zumin­dest letz­te­res ent­fällt im Online-Han­del. Aber wer weiß, viel­leicht flir­ten Algo­rith­men auch? Viel­leicht flir­ten sie sogar bes­ser? Mir fal­len sogleich Part­ner­ver­mitt­lungs­platt­for­men ein, wo das Retour­nie­ren ja sozu­sa­gen eben­falls ein Teil des Geschäfts­mo­dells ist. Wür­de jeder Part­ner und jede Part­ne­rin so per­fekt pas­sen, wie vom super­ge­nia­len Algo­rith­mus berech­net, blie­be die Platt­form nicht lan­ge im Geschäft.

Eine Freun­din, die eine recht gute Kun­din für eine sol­che Platt­form abge­ben wür­de, auch wenn sie mei­nes Wis­sens kei­ne benutzt, schickt fast jedes Mal, wenn ich mit ihr aus­ge­he, einen Teil ihrer Bestel­lung zurück, und das nicht ohne Auf­he­bens. Was mir so pein­lich ist, dass ich es mit extra Trink­geld kom­pen­sie­re, ist für sie eine Not­wen­dig­keit und eine Fra­ge einer aus­ge­gli­che­nen Han­dels­be­zie­hung. Das Macht­ge­fäl­le zwi­schen dem Gast und dem Ser­vier­per­so­nal zieht sie nicht in Betracht. Ja, ich hege den Ver­dacht, es ist genau das, was sie eigent­lich aus­kos­tet. Das Essen, das ihren Hun­ger stil­len, das Klei­dungs­stück, das ihre Blö­ßen ver­de­cken, den Part­ner, der sie für immer ver­voll­stän­di­gen könn­te, gibt es nicht. Sie sind nur Ersatz, ein schwa­cher Abglanz der fan­tas­ti­schen Erfül­lung, die sie ver­spre­chen. Und für die­sen uner­hör­ten Skan­dal muss jemand zur Rechen­schaft gezo­gen werden!

Ist das nicht letzt­lich unser aller Geschick, auch wenn es eini­ge von uns weni­ger dras­tisch aus­le­ben? Ist viel­leicht der Online-Han­del nichts ande­res als der bis­he­ri­ge Gip­fel einer seit Jahr­hun­der­ten immer wei­ter ver­fei­ner­ten, teuf­li­schen Metho­de, die­sen uner­hör­ten Skan­dal zugleich zu schü­ren und mit einer Satis­fak­ti­ons­mög­lich­keit aus­zu­stat­ten, bei der kei­ne Kellner*in und kei­ne Verkäufer*in mehr dar­an glau­ben muss, jeden­falls nicht per­sön­lich, weil sie von einer hoch­gra­dig auto­ma­ti­sier­ten Logis­tik­ma­schi­ne umge­setzt wird?

Beco­me A‑Ware” ver­sucht eine Ant­wort auf die Fra­ge, ob das nicht auch spie­le­ri­scher, umwelt­scho­nen­der und men­schen­freund­li­cher geht. Denn eines steht fest: Die­se Logis­tik­ma­schi­ne läuft nicht min­der auf Kos­ten ande­rer, selbst wenn sich anschei­nend nie­mand für die­se Kos­ten inter­es­siert, so lan­ge er oder sie „gefällt nicht“ sagen und immer neu auf Erfül­lung hof­fen darf.

Eine mög­li­che Ant­wort könn­te sein, weni­ger geschön­te Bil­der zu for­dern. Die Ver­füh­rung durch das Bild wur­de, wie ich kürz­lich bei Hil­la­ry Man­tel las, näm­lich schon für Hen­ry VIII., oder bes­ser gesagt: sei­ne vier­te Frau Anna von Kle­ve, zum Pro­blem. Die hat­te sich der noto­ri­sche Ehe­frau­en­ver­schleiß­er auf­grund einer Por­trät­mi­nia­tur erwählt, die Hans Hol­bein d. J. für ihn ver­fer­tig­te. Das Resul­tat: Die ers­te Begeg­nung mit der rea­len Dame war eine Ent­täu­schung und sie wur­de ins Luxus-Aus­ge­din­ge geschickt. Was in die­sem Fall ihr Glück war, denn die Vor­gän­ge­rin und die Nach­fol­ge­rin, die nach Gebrauch nicht mehr gefal­len hat­ten, wur­den geköpft.

geschrie­ben von Desi­gne­rin und Mode­ak­ti­vis­tin Lisa D

Das Pop-Up store „Beco­me A‑Ware“
im Kar­stadt Hermannplatz,
Berlin.
www.become-a-ware.com
Fb: @becomeawareberlin
insta­gram: @become_a_ware

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