Wandelnde Gemälde

Tattoo Kunst

Täto­wie­run­gen üben eine voy­eu­ris­ti­sche Fas­zi­na­ti­on aus. Für die ame­ri­ka­ni­sche Foto­gra­fin Dia­ne Arbus gehör­ten Täto­wier­te zu ihren Lieb­lings­mo­ti­ven. „Das gehei­me Ritu­al fas­zi­nier­te sie, da es eine Mischung aus tra­di­tio­nel­ler Kunst, phy­si­schem Schmerz und Sinn­lich­keit war“, schrieb ihre Bio­gra­fin Patri­cia Bos­worth. Ver­schie­de­ne Kul­tu­ren und Epo­chen zeu­gen von einer schil­lern­den Ambi­va­lenz der Tat­too Kunst.

1774 kam der Ent­de­cker James Cook von einer Rei­se in die Süd­see zurück und brach­te einen täto­wier­ten Ein­hei­mi­schen namens Omai mit nach Lon­don, um ihn öffent­lich zur Schau zu stel­len. Er führ­te auch ein Wort ein, das sei­ne selt­sa­men Haut­zeich­nun­gen benann­te: „Tatau“. Zusam­men­ge­setzt aus den poly­ne­si­schen Wör­tern „ta“ für „schla­gen“ und „tau“ für „Zei­chen, Mus­ter, Bil­der“. Die Begeg­nung von Poly­ne­si­ern und Euro­pä­ern war beson­ders auf Tahi­ti von wech­sel­sei­ti­ger Neu­gier und einer Idea­li­sie­rung des Exo­ti­schen geprägt. Wäh­rend die Poly­ne­si­er schlan­ge stan­den, um sich an Deck der Schif­fe rasie­ren zu las­sen, lie­ßen sich Cap­tain Cooks Matro­sen von den Ein­hei­mi­schen täto­wie­ren. Sie lern­ten dort, neben der alten Tat­too-Tra­di­ti­on unter medi­ter­ra­nen Matro­sen, die den Haut­schnitt durch das Ver­bren­nen von Schieß­pul­ver imprä­gnier­ten, eine neue Tech­nik ken­nen. Die­se expor­tier­ten sie mit ihren Tat­too- Sou­ve­nirs in ande­re Hafenstädte.

Vom Duft der Rei­se­be­rich­te aus dem fer­nen Gar­ten Eden eupho­ri­siert, konn­te man durch eine Täto­wie­rung am Süd­see-Boom teil­ha­ben. Qua­si eine „Aktie auf das irdi­sche Para­dies“ erwer­ben. Zwi­schen 1850 und 1910 erfass­te die „Täto­wie­rungs­wut“ auch den euro­päi­schen Adel. Kai­se­rin „Sisi“ ließ sich 1888 in einer Hafen­knei­pe einen Anker auf die Schul­ter täto­wie­ren. Köni­gin Vic­to­ria von Eng­land soll an inti­men Stel­len ihres Kör­pers einen Tiger und eine Python getra­gen haben. Ande­rer­seits ver­brei­te­ten sich die Tat­toos im zwie­lich­ti­gen Hafen­mi­lieu unter Matro­sen, Pro­sti­tu­ier­ten, Schau­stel­lern und Kri­mi­nel­len. Die­se Unbe­haus­ten besa­ßen kaum mehr, als ihren eige­nen Kör­per. Den aber konn­ten sie durch Tat­toos mit Sehn­süch­ten deko­rie­ren und mit Erin­ne­run­gen adeln.

In sei­nem 1876 erschie­ne­nen „L´Uomo delin­quen­te“ ver­trat der ita­lie­ni­sche Kri­mi­nal­an­thro­plo­ge Cesa­re Lom­bro­so die The­se, dass der „gebo­re­ne Ver­bre­cher“ einen Hang zum Pri­mi­ti­ven hät­te. Und weil nur Pri­mi­ti­ve täto­wiert sei­en, sei­en Täto­wier­te die gebo­re­nen Ver­bre­cher. In sei­ner Hier­ar­chie stan­den die zivi­li­sier­ten Bür­ger mit wei­ßer, untä­to­wier­ter Haut ganz oben, Far­bi­ge, „Wil­de“ und Täto­wier­te ganz unten. Ähn­lich urteil­te der öster­rei­chi­sche Archi­tekt und Kunst­theo­re­ti­ker Adolf Loos mit sei­nem radi­ka­len ästhe­ti­schen Puris­mus in „Orna­ment und Ver­bre­chen“ (1910): „Der moder­ne Mensch, der sich täto­wiert, ist ein Ver­bre­cher oder ein Dege­ne­rier­ter.“ Als Fol­ge die­ser Stig­ma­ti­sie­rung setz­ten die Out­laws ihrer sozia­len Exklu­si­on eine eige­ne Exklu­si­vi­tät ent­ge­gen. In den Gefäng­nis­sen wur­de Täto­wie­rung zum sub­ver­si­ven Akt, die nack­te Haut ein Ort des Wider­stands. „Der Schmerz beim Täto­wie­ren, der reißt einen aus der Mono­to­nie und dem Trott. Man spürt sich selbst wie­der und emp­fin­det etwas Inten­si­ves … Dadurch merkt man, das man noch lebt“, erklärt ein Ex-Häft­ling. Das Tat­too als Beweis eines frei­en Geis­tes in einem gefan­ge­nen Körper.

Auf­ge­la­den mit dem Image des anti­bür­ger­li­chen Pro­tests, der Koket­te­rie mit der Ver­rucht­heit, fei­ern Tat­toos seit den 1970er Jah­ren in den USA und ab den 1980ern in Euro­pa durch die jugend­li­che Sub­kul­tur ein Come­back. Wäh­rend bis etwa 1900 haupt­säch­lich in Knei­pen, Her­ber­gen, auf Jahr­märk­ten, zu Hau­se oder auf See täto­wiert wur­de, mar­kier­ten Lom­bro­sos The­sen den Beginn einer Tra­di­ti­on eigen­stän­di­ger Gefängnistätowierungen.

Rus­si­sche Gefan­ge­nen-Tat­toos sind ein beson­de­res Phä­no­men. Arka­dy Bron­ni­kov hat als lei­ten­der Foren­si­ker des UdSSR-Innen­mi­nis­te­ri­ums vie­le Arbeits­la­ger im Ural und in Sibi­ri­en besucht. Mit­te der 1960er bis Mit­te der 1980er Jah­re mach­te er Tau­sen­de Fotos und Inter­views mit täto­wier­ten Gefan­ge­nen. Mit sei­nem rie­si­gen Archiv half er, Kri­mi­nal­fäl­le zu lösen und Täter und Lei­chen zu iden­ti­fi­zie­ren. Als Russ­lands füh­ren­der Exper­te für Tat­too-Iko­no­gra­fie kann er die Geschich­te eines Gefan­ge­nen allein aus sei­nen Tat­toos able­sen. In die Haut geritzt und ein­ge­färbt mit dem Gum­mi ver­brann­ter Schuh­ab­sät­ze und Urin, ent­hiel­ten die Tat­toos eine Rei­he codier­ter Bot­schaf­ten gegen das Soviet­re­gime und über die indi­vi­du­el­len Ver­bre­chen des Gefan­ge­nen. Tra­di­tio­nel­le Moti­ve beka­men im Bild­re­per­toire der kri­mi­nel­len Unter­welt neue Bedeu­tun­gen. Der dop­pel­köp­fi­ge Adler als rus­si­sches Wap­pen­tier wur­de wäh­rend des Kom­mu­nis­mus durch Ham­mer und Sichel ersetzt. In Arka­dy Bron­ni­kovs Fotos liest er sich, in der Soviet­zeit quer über die Brust täto­wiert, als Zei­chen des Has­ses auf die UdSSR, oder als natio­na­lis­ti­sches, ras­sis­ti­sches Sym­bol im Sin­ne von „Russ­land den Rus­sen“. Die Anzahl der Kir­chen­kup­peln und Kreu­ze steht für die in Haft ver­brach­ten Jah­re. Zeit­wei­se waren Sta­lin und Lenin in Mode, mit und ohne Hör­ner. Oder sie wur­den auf die Brust täto­wiert, in der Hoff­nung, dass es den Erschie­ßungs­kom­man­dos ver­bo­ten sei, auf ihre Grün­der­vä­ter zu schie­ßen. So genann­te „Ring“-Tätowierungen um die Fin­ger sind ein kom­ple­xes Zei­chen­sys­tem über die Bio­gra­fie des Täters.

Das Patho­lo­gi­sche Muse­um der Uni­ver­si­tät Tokio hat eine bizar­re Samm­lung von etwa 100 täto­wier­ten Men­schen­häu­ten, vie­le davon so genann­te „full body suits“. Die­se ur- sprüng­li­che Form tra­di­tio­nel­ler japa­ni­scher Ganz­kör­per-Täto­wie­run­gen – Ire­zu­mi genannt wur­de von einem Arbeits­ge­wand abge­lei­tet, das Feu­er­wehr­leu­te und Arbei­ter wäh­rend der Edo-Zeit haut­eng unter dem Kimo­no tru­gen. Ganz­kör­per­tä­to­wie­run­gen wur­den damals gro­ße Mode durch die Illus­tra­tio­nen zu dem popu­lä­ren chi­ne­si­schen Aben­teu­er­ro­man „Sui­ko­den“. Denn in den belieb­ten japa­ni­schen Farb­holz­schnit­ten von Utag­awa Kuni­yo­shi waren die 108 Robin-Hood arti­gen Rebel­len erst­ma­lig mit nack­ten täto­wier­ten Kör­pern dar­ge­stellt. Man woll­te ihrem Hel­den­tum nach­ei­fern und sich davon beschüt­zen las­sen. Der heroi­sche Prot­ago­nist trug neun ein­tä­to­wier­te Dra­chen – ein Sym­bol für Männ­lich­keit, Glück und den Regen, bei Feu­er­wehr­män­nern bis heu­te beliebt. Far­bi­ge Tiger, Göt­ter, Karp­fen, Gold­fi­sche und Chry­san­the­men mach­ten den Trä­ger zum wan­deln­den Gemäl­de. Ein reich ver­zier­ter Kör­per war für die spär­lich beklei­de­ten Rik­scha-Fah­rer geschäfts­för­dernd. Ande­rer­seits haf­te­te ihnen das Image von Rauf­bol­den an. Als Erken­nungs­zei­chen von Out­laws fun­gier­ten Tat­toos auch im Ver­bre­cher­mi­lieu der Yaku­za. 1868 bis 1945 wur­den sie von der Regie­rung ver­bo­ten. Ihre bis heu­te anhal­ten­de gesell­schaft­li­che Äch­tung wur­de teil­wei­se durch die Wert­schät­zung der ame­ri­ka­ni­schen Tat­too-Sze­ne der 1960er und 1970er Jah­re revidiert.

Die sakra­len Täto­wie­run­gen in Thai­land, Sak Yant genannt, set­zen sich aus Schrift­zei­chen der alten Khmer und aus Tier­sym­bo­len zusam­men. Sie wer­den durch ein Man­tra akti­viert und ver­bin­den den Täto­wier­ten ein Leben lang mit sei­nem Tat­too Mas­ter oder Mönch. Die­ser macht aus dem Kör­per ein hei­li­ges Bild, dem sich der Trä­ger durch kor­rek­tes Ver­hal­ten wür­dig erwei­sen muss, damit es sei­ne kon­zen­trier­te Kraft und magi­sche Schutz­funk­ti­on ent­fal­ten kann. Der Tin­te kann die Gal­len­flüs­sig­keit eines Fein­des oder die zer­mah­le­ne Haut eines Mön­ches bei­gemischt sein, um die Funk­ti­on des Tat­toos zu beein­flus­sen. Bei Fischern ist ein Kro­ko­dil-Tat­too beliebt. Es soll sie vor Alko­hol war­nen, um nicht ins Was­ser zu fal­len und zu ertrinken.

Häu­fig mar­kie­ren Täto­wie­run­gen wich­ti­ge Pas­sa­gen im Lebens­zy­klus. Vom samoani­schen Tat­too-Pries­ter täto­wiert zu wer­den, war ein gesell­schaft­lich vor­ge­schrie­be­ner Akt der Unter­wer­fung gegen­über der Auto­ri­tät der Älte­ren. Gleich­zei­tig war es ein heroi­scher Akt, der die Jun­gen zu mehr Teil­ha­be ermächtigte.

Als James Cook die Tat­toos aus Tahi­ti mit­brach­te, ver­stand man noch nicht deren Bedeu­tung. In der poly­ne­si­schen Kul­tur gab es eine wirk­mäch­ti­ge binä­re Gegen­über­stel­lung die­ser Welt der Leben­den und des Lichts, „ao“ genannt, und einer ande­ren Welt der Dun­kel­heit und des Vor- und Nach­le­bens, „po“ genannt. „Po“ war das Reich ursprüng­li­cher, not­wen­di­ger Lebens­en­er­gie. Es war aber auch gefähr­lich, da es Krank­heit und Tod brin­gen konn­te. Wenn das Neu­ge­bo­re­ne direkt aus die­sem Reich zu den Leben­den kam, war es höchst anste­ckend und gefähr­lich. Die gewal­ti­ge Inten­si­tät sei­ner Hei­lig­keit muss­te durch eine Rei­he zere­mo­ni­el­ler Ader­läs­se im Lau­fe der Kind­heit abge­schwächt wer­den, um es gesell­schafts­fä­hig zu machen. Nach der ritu­ell-medi­zi­ni­schen Ope­ra­ti­on häm­mer­te der Tat­too-Pries­ter Pflan­zen­far­be in die Haut und ver­sie­gel­te den Kör­per mit geo­me­tri­schen Mus­tern. Es waren sol­che Tat­too-Ope­ra­tio­nen der Ent­wei­hung, die James Cooks Matro­sen damals gese­hen haben.

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Sabine Matthes ist Fotografin und Journalistin. Zwischen 1986 und 1996 lebte und arbeitete sie in New York, dann Reisen und Ausstellungen zu Häfen, Matrosen und der Fremdenlegion. Seit 2001 Reisen, Engagement und Artikel zum Israel/Palästina-Konflikt und Afrika, Film und Kultur.

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