Der Triumph einer Kunst, die die Wahrheit erzählt
Am 8. März 2020 besuchte ich Sue Williams in ihrem Atelier. Das heißt, dass sie (abgesehen von meiner Frau) eine der letzten Personen war, die ich von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, bevor die Covid-19-Pandemie unser Arbeits- und Sozialleben massiv verändert und solche Treffen unmöglich gemacht hat. Ihre Gemälde waren (abgesehen von denen, die bei mir zu Hause hängen) die letzten, die ich gesehen habe. Ich bin froh, dass es Sue war, die ich gesehen habe, und noch froher, dass es ihre Gemälde waren, mit denen ich Zeit verbringen konnte, die in meiner Erinnerung immer wiederkehren und mir dabei helfen, das bisschen Ausgeglichenheit zu erhalten, das ich seitdem aufbringen konnte. Diese Gemälde, oder auch nur die Erinnerungen an sie, erweisen sich in der Katastrophe als gute Gesellschaft. Sie wissen, wie ich mich in einem Leben fühle, das auf den Kopf gestellt wurde, ein Leben, in dem es schwer ist, nicht wahrzunehmen, dass die gegenwärtige Misere sich durch unzählige Fälle von Machtmissbrauch angekündigt hat, sei ihr Schauplatz ein intimer, von Geschlecht und Familie, oder der geopolitische Bereich, in dem Regierungen weiter hinter verschlossenen Vorhängen arbeiten, um sicherzustellen, dass keine gute Krise jemals umsonst ist.
Sue ist natürlich nicht die einzige Künstlerin, die derartige Fakten in unserem kollektiven Gedächtnis heraufbeschwört. Aber die Art und Weise, wie sie es tut, ist einzigartig. Denn sie hat keinerlei Interesse daran, uns von der Ernsthaftigkeit ihrer Anliegen oder von der Wichtigkeit ihres Zugangs zu überzeugen. Ihr Stil war nie von Strenge, Verbissenheit oder Schwermut geprägt, nicht einmal in den unverblümtesten Arbeiten ihres Frühwerks. Der Ton ihrer Arbeit ist weder traurig noch apokalyptisch. Ihre Arbeit war immer von Humor durchtränkt, aber ist mit der Zeit von instinktiv zu elegant gewandelt. Es ist schwer, gegenwärtig eine Malerin oder einen Maler zu finden, dessen Werk so übermütig ist, so freimütig, so lebhaft. Mit ihren hellen durchscheinenden Farben, ihren scharfsinnig virtuosen und unvorhersehbaren Linien und der Leichtigkeit ihres Strichs – ihrem schwerelosen Sinn für Komposition, in dem es keinen Unterschied macht, ob etwas oben, unten, links oder rechts ist. Sues Ästhetik könnte als Rokoko der Bedrängnis definiert werden oder als eine Form von Protestkunst, sofern es eine gäbe, zu deren Tradition sowohl Florine Stettheimer als auch Cy Twombly gehörten.
Ich habe oft über Sues Vorliebe gesprochen, selbst die Ästhetik ihrer obszönsten Gemälde als „freundlich“ oder sogar „fröhlich“ zu beschreiben. Ich glaube, ich weiß, was sie meint, wenn sie sagt, dass ein Gemälde sich nicht zum Vorbild nehmen sollte, was sein Gegenstand sein könnte: den Willen zu beherrschen. Es soll sich nicht über den Betrachter erheben, soll ihn nicht in Unterwerfung zwingen. Das Gemälde sollte dem Betrachter die Last, die er trägt, stattdessen leichter machen. Und zwar nicht, indem es uns von unseren Sorgen ablenkt, sondern indem es uns zeigt, wie das, was uns unterdrückt, kleiner gemacht werden kann: Durch den Geist, der die Unterdrückung kennt und Zeugnis von ihr ablegt. Ich glaube, deshalb sind es so wenige unterschiedliche Bilder, die in Sues aktuellen Arbeiten umeinander schweben: Weil sie die Absurditäten und Übel, die sie aufzeichnet, nicht vergessen kann (und nicht will, dass irgendjemand anders sie vergisst), ihr dabei aber klar ist, dass diese Übel mit steigendem Grad an Bewusstsein mickrig klein werden können. „Freundlich“ ist in Sues Arbeiten nicht das, was in der Kunst normalerweise freundlich ist, nämlich die Lüge, die gefälliger ist als die Wahrheit, sondern der Triumph einer Kunst, die die Wahrheit erzählt (und welche Wahrheit könnte es ohne Kunst geben?), über die Bitterkeit, die im Kern der Wirklichkeit liegt.
Für mich ist es diese Form von Freundlichkeit – diese Freude – die einem den Mut zum Weitermachen gibt.