Die Sammlung des Berliner Juristen Ulrich Seibert ist eine »Gesamtkomposition « aus Lowbrow und Pop Surrealism, wenn man den Versuch wagen will, diese sehr spezielle Kollektion einzuordnen. Lowbrow ist ein Stil der bildenden Kunst, der seine Ursprünge in der US-amerikanischen Kustom Kulture und Surfkultur der 1950er sowie der späteren Underground Comix hat. Der Begriff Pop Surrealism (»Pop-Surrealismus«) wird teils synonym gebraucht, teils als Unterform des Lowbrow betrachtet. Kennzeichnend ist die spielerisch-humoristische Verarbeitung und Vermischung von Objekten aus der Popkultur nach Art des Surrealismus und des phantastischen Realismus.
Mindestens genauso extravagant und schwer zuordenbar wie die Sammlung ist auch Seibert selbst. »Ein cooler bunter Typ«, würde man auf den ersten Blick meinen, aber der zweite verrät oft mehr. Deshalb treffen wir den »Professor« und »ehemaligen Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht im Bundesministerium der Justiz« in den offiziellen Räumlichkeiten der »Seibert Collection« in Berlin, ein Altbau in der Oranienburger Straße. Die klassische braune Wohnungstür lässt von außen noch nichts Besonderes vermuten, doch dahinter wird es pompös poppig, farben- und formenfroh, ästhetisch lebendig und humorvoll surreal. »Man darf hier drin Spaß haben, gemeinsam lachen und feiern. Ich hatte solches Glück, diesen Raum zu finden. Die Sammlung hier zugänglich zu machen, war eine geniale Idee. Ich habe mich früher nicht als Sammler betrachtet, sondern einfach nur gerne Kunst gekauft. Jetzt fühle ich mich dann doch mehr als Sammler.« Unsere Blicke schweifen durch den Raum und versuchen, zu begreifen. »Was da an der Wand hängt, ist alles züchtig und anständig. Bis auf hier oben, da blitzt ein nackter Busen raus. Das ist eine Ausnahme. Wenig Penisse, wenig Vulven.« Ein fulminanter Auftakt, das steht außer Frage; wohl ein Sammler, dessen persönliches Naturell die Kunstauswahl beeinflusst.
In der Seibert-Collection, so erfahren wir im Gespräch, ist der Mensch das Wichtigste. Die Kunst ist für Seibert ein Background, jedoch einer, der auf die Geschehnisse im Raum Einfluss hat. Die meisten Werke sind tatsächlich Porträts oder bilden Menschen ab und das ist wohl auch auf die Affinität des Sammlers zu Menschen zurückzuführen: »Diese Kunst ist ein Katalysator für die Zusammenkunft von Menschen «, erklärt er und fährt fort: »Ich möchte nicht alleine im Keller sitzen, einen gestohlenen Pierre-Auguste Renoir betrachten und ein Gläschen Wein dazu trinken. Das ist nicht mein Interesse, sondern ich möchte dieses Kunsterlebnis mit anderen Menschen teilen.« Belehrende Kunst ist für Seibert keine Kunst, sondern vielmehr ein politischer Poster. »Kunst muss rätselhaft sein, jedem Betrachter viele Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Manche finden meine Sammlung, im Internet betrachtet, schwierig, ein bisschen kitschig, aber wenn sie hier reinkommen, spüren sie die Gesamtkomposition und diese Good Vibrations. Dann verstehen sie, was ich meine.« Es geht dem Sammler um das Zusammenspiel und nicht unbedingt um das einzelne Werk. »Wenn das Bild spricht«, so Seibert, »dann darf der Maler schweigen. Ich erkläre auch meine Witze nicht.« Das Bild soll Rätsel aufgeben, Fantasie erzeugen und das ist laut Seibert bei figurativen Bildern einfacher als bei abstrakten. »Diese Bilder erzählen Geschichten und diese Geschichten sollte man nicht unbedingt beeinflussen, sondern man soll Möglichkeiten offen lassen«, argumentiert er und zitiert Umberto Eco: »Ein Kunstwerk ist eine Maschine zur Produktion von Interpretationen.«
Ulrich Seibert kommt aus einem Künstlerhaushalt und ist mit Kunst an den Wänden aufgewachsen. Seine Mutter war Malerin. Für ihn war Kunst etwas Selbstverständliches. Er hätte auch selbst Künstler werden können und war am Überlegen. »Aber dann habe ich gedacht, ich muss ein bisschen Geld verdienen und zwar seriöses Geld.« Also ließ er lieber andere malen und kaufte Kunst. »Hier ist jedes Bild von einem anderen Künstler. Es gibt also viele, viele Facetten und Variationen. Wäre ich Künstler geworden, hätte ich nur meine Werke hängen.« Seiberts Vater sagte stets: »Studiere nicht Jura.« Also hat der Sohn genau das Gegenteil und als Jurist Karriere gemacht. »Die Juristerei ist sehr kreativ, gerade in der Gesetzgebung und das war meine Rettung. Ich musste aus jedem einzelnen Satz extrapolieren, welche Millionen von Möglichkeiten, Interpretationen und Folgewirkungen daraus entstehen können. Also auch extrem präzise. Diese Kunst hingegen ist im Vergleich dazu regelrecht befreiend. Da kann ich ganz raus aus diesen Zwängen, aus diesen Ketten.«
Seibert sammelt nicht alles, was ihm gefällt, sondern er kauft eine recht kleine Nische, »eine winzige Nische«, wie er betont, die sonst seiner Meinung nach gar keiner sammelt. Deshalb hat er auch große Schwierigkeiten, überhaupt Werke zu finden. »Ich kann nicht sagen, ich kaufe, was mir gefällt oder was mich emotional anspricht. Dann hätte ich einen Gemischtwarenladen von den tollsten, schönsten Werken aller Zeiten. Nein, die Nische ist extrem, extrem eng.« Wenn man laut Seibert unbedingt einen Namen dafür finden will, dann würde man Lowbrow, Pop Surrealism, Pop Comic Surrealism sagen. All das, was man eher an der Westküste in den USA kennt, als in Europa. »Ich sammle gerne figurativ, colourful, surreal. Bisschen ‚weird‘, ein bisschen verrückt darf es auch sein. Auch mit leichten Bezügen zur Comic Welt. Insofern ist das auch innerhalb der Lowbrow Bewegung nur ein kleiner, kleiner Ausschnitt.« In seiner Sammlung gibt es keinen klassischen Kriterienkatalog, was Neuanschaffungen betrifft, aber eines ist ihm wichtig, dass nicht nur ein Werk des Künstlers von einer bestimmten Qualität ist, sondern das Gesamtwerk genauso. »Wenn das ein Ausreißer ist, also ich merke, dass alles andere nicht meine Welt ist, dann kaufe ich das nicht.«
Warum so wenige in Deutschland diese Kunstrichtung kennen oder gar sammeln, begründet Seibert recht pragmatisch: »Ein Grund ist, dass die Deutschen die Kunst äußerst ernst nehmen. Kunst ist etwas Ernstes. Was hier hängt, würde man in der Musikbranche wohl der Schlagermusik zuordnen. Es ist ein farbiger Rausch, der gute Stimmung verbreitet.« Kunst-Schlager also, auch eine neue Sichtweise. Aber Spaß beiseite, es ist nicht die ernste Mainstream-Kunst, die hier an der Wand hängt, es ist auf den ersten Blick vielleicht auch nicht immer ernste Kunst, aber dafür ist das Alleinstellungsmerkmal herausragend. Die Frage ist, bleibt das so, oder wird sich diese Kunst doch irgendwann in Europa durchsetzen? »Ich glaube, ja. Ich glaube, weil die Leute irgendwann die Nase voll haben von diesem anämischen, blutleeren, unverständlichen, erklärungsbedürftig wenig animierenden Zeug. Und deshalb, glaube ich, wird diese Art der Kunst irgendwann einen Durchbruch erleben. Aber möchte ich das? Dann verliere ich ja im Grunde mein Alleinstellungsmerkmal.«
Letztendlich spürt man im Gespräch, dass dieser »kreative Jurist« die Gabe hat, die Kunst eben Kunst sein zu lassen. Er verspürt keine Zweckmäßigkeit. Könnte das gar der wahre Wert der Kunst sein? »Das Einzige, was ich spüre, ist, dass sobald Menschen hier sind, sich deren Stimmung ändert. Ich könnte natürlich auch das Leid der Welt auf den Wänden haben: Szenen hungernder Kinder und vergewaltigter Frauen und Mütter. Das würde ein anderes Erlebnis erzeugen. Bei aller Traurigkeit, die es in der Welt gibt, und es ist nicht so, dass ich das Schicksal der Welt negiere – das ganz schrecklich ist –; die Menschheit hat einen breiten Blutstrom hinter sich gelassen, seit Jahrtausenden. Aber muss unbedingt die Kunst das replizieren und der Betrachter es rezipieren? Und ist die Kunst überhaupt dazu geeignet, politisch zu wirken? Ich bezweifle das.« Und dann ist da auch noch etwas anderes, das Seibert mit der Kunst und diesem Raum verbindet: »Jeder Mensch möchte geliebt werden und möchte Aufmerksamkeit, und diese Sammlung ist natürlich ein wunderbarer Ausgangspunkt. Hier kommen wirklich fabelhafte Menschen zusammen. In Berlin gibt es eine große Freiheit. Das sehen Sie auch an der Burlesque Szene, an der Clubszene. Und deshalb kann man so was hier machen, auch, wenn es nicht dem Mainstream der offiziellen Kunstszene entspricht.
Die Sammlungsgeschichte Seiberts nachzuvollziehen, gelingt uns im Gespräch nicht besonders gut, denn Seibert bremst sofort ein: »Ich hatte hier mal eine Journalistin sitzen, die hat als erstes gefragt: ‚Welches war Ihr erstes Kunstwerk? Wie lange sammeln Sie schon? Welches ist Ihr Lieblingskunstwerk, wie viel ist das wert?‘ Und dann habe ich das Gespräch abgebrochen und gesagt: ‚Ich glaube, wir kommen nicht zusammen. Wer so blöde Fragen stellt. Entschuldigung.« Wir bohren dann noch etwas nach und erfahren, dass es lange her ist, aber letztlich egal, weil sich Seiberts Geschmack seither nie geändert hat. Auf die Frage nach favorisierten Werken antwortet er ebenfalls humorvoll: »Ich liebe immer die Person am meisten, die mir als Letzte vorgestellt wurde.« In diesen Genuss kamen wir wohl auch für wenige Augenblicke und verabschieden uns mit der wertvollen Erkenntnis, dass es bei allem Respekt vor dem einzelnen Werk manchmal auch auf die »Gesamtkomposition« ankommt.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 4.22 AFFINITY erschienen.