Es war das größte Fest der Menschheitsgeschichte. Die Kumbh Mela, die rituelle Waschung der Hindus im Ganges, ließ rund 140 Millionen Besucher nach Allahabad strömen. Nur 130 Kilometer weiter liegt Varanasi, Indiens mythischste Stadt.
Der Naga Baba sitzt bewegungslos vor dem Zelt auf der Erde und blickt, ohne zu fokussieren, in die Leere. Sein nackter Körper ist über und über mit weißer Asche eingerieben, nur auf dem Kopf trägt er einen Blütenkranz. Ein paar Münzen klimpern in der Schale vor ihm, eine junge Frau im Sari berührt ihn vorsichtig am Knie, zieht ihren Arm rasch zurück, verneigt sich tief mit gefalteten Händen vor ihrem Gesicht. „Namaste!“ Die unter den Hindu vor allem in Indien gebräuchliche Grußformel bedeutet so viel wie „ich beuge mich vor dem Göttlichen in dir“. „Es bringt Glück, einen Heiligen zu berühren“, erklärt Hemant Singh Rathore, Direktor des Royal Heritage Camps, der uns persönlich auf der Kumbh Mela begleitet.
Die Naga Babas, einst Kriegermönche, sind für Europäer wohl die schrägste Erscheinung im bunten Getümmel der Menschenmassen. Sie zählen zu den Sadhus, wie heilige Menschen im Hinduismus allgemein bezeichnet werden. „Ein Sadhu entsagt völlig der Welt“, erzählt Hemant weiter. Oft seien es Männer über fünfzig, die sich urplötzlich von Familie, Beruf und Zivilisation zurückziehen und sich dann im Wald, in Höhlen oder in unzugänglichen Klöstern ganz der Spiritualität hingeben und auf den Übergang ins Nirvana vorbereiten. So soll der Kreislauf von Wiedergeburt und Tod unterbrochen werden. Das Einreiben mit Asche desinfiziert und schützt vor Kälte. Um der Spiritualität noch ein wenig nachzuhelfen, paffen die meisten Naga Babas unverhohlen Cannabis. „So lässt sich mitten in der Wildnis auch den Entbehrungen jeglichen Komforts leichter begegnen“, grinst Hemant.
In einem komplizierten Rhythmus aus drei, sechs, zwölf bzw. 144 Jahren kommen die Sadhus jedoch alle zusammen, zur Kumbh Mela, dem heiligen Fest des Kruges. In der hinduistischen Entstehungsmythologie bildete sich einst die mittlere Ebene des Kosmos aus runden, konzentrischen Kontinenten, die von riesigen Ozeanen aus verschiedenen Flüssigkeiten getrennt waren. Der äußerste Ozean „Ksl-ra-bdhi“ bestand aus Milch. In einem einzigartigen Bündnis beschlossen Götter und Dämonen, diesen Ozean zu quirlen. Dazu ringelten sie die heilige Schlange „Vasku“ um den Berg Mandara. Nun zogen Götter und Dämonen abwechselnd an Kopf bzw. am Ende der Schlange und versetzten den Berg – einem riesigen Standmixer gleich – in Drehung. Die für Europäer doch etwas abstrus wirkende Geschichte ist einer der zentralen Schöpfungsmythen des Hinduismus. Dem Milchozean entstiegen in der Folge alle möglichen Tiere und Götter, aber auch Sonne und Mond. Zu guter Letzt gebar die gestrudelte Milchsuppe den Arzt und Schöpfer der ayurvedischen Heilkunst Dhanvantari. Im Mythos wird er als schöner, reich geschmückter Jüngling beschrieben. Er trug einen Krug („Kumbh“) mit Amrita bei sich, dem Nektar des Ewigen Lebens, dem am meisten ersehnten Produkt des großen Quirlens.
In der Folge zerbrach das Bündnis zwischen Göttern und Dämonen, und ein Streit um das Amrita entbrannte. Mit einer List konnten die Götter diesen Streit schließlich für sich entscheiden. Bei der Rangelei aber fielen vier Tropfen des heiligen Tranks auf die Erde herab, dorthin, wo heute die Städte Allahabad, Haridwar und Ujjain jeweils am Ganges sowie die Stadt Nashik am Fluss Godavari liegen. Findet eine Kumbh Mela statt, so wäscht das Baden im heiligen Fluss von nahezu allen Sünden rein, da – so der Glaube – sich die Kraft des Amritas für kurze Zeit im Wasser des Flusses manifestiert. Zumindest einmal im Leben sollte sich jeder Hindu dieser spirituellen Generalamnestie unterziehen. Wann und wo genau das Fest des Kruges gefeiert werden darf, berechnen Astronomen in einer überaus komplexen Prozedur aus der Position von Jupiter, Sonne und Mond zueinander.
Allahabad im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, wo 2019 von 15. Jänner bis 4. März eine Kumbh Mela stattfand, gilt wiederum als besonders heilige Stätte, weil hier im „Triveni Sangam“ die Flüsse Ganges, Jamuna und Sarasvati zusammenfließen. Letzterer ist mythologisch und unsichtbar. Er ist die Verkörperung der gleichnamigen Göttin der Wissenschaft, der Künste, der Weisheit, der Musik, des Tanzes und der Sprache. Sarasvati, die Fließende, zählt als „Herrin der Welt“ und „Mutter der Veden“ zu den meistverehrten Gottheiten im Hinduismus.
Allahabad wurde im Herbst 2018 wieder offiziell in „Prayagraj“ (Sanskrit: „Ort der Opfergabe“) zurückbenannt. Die Stadt liegt verkehrstechnisch günstig und beherbergt ca. 1,2 Millionen Einwohner. Neben den bestehenden Auto- und Eisenbahnen wurde für die Kumbh Mela eigens ein neuer Flughafen gebaut. Die günstige Lage und der wachsende Wohlstand der indischen Mittelschicht sorgten für einen schier unglaublichen Besucherrekord: Während des 49 Tage dauernden Festes kamen geschätzte 140 Millionen Menschen nach Allahabad. Um diese Menschenmassen zu bewältigen, errichteten die Veranstalter im breiten, sonst landwirtschaftlich genutzten Ganges-Tal eine 75 Kilometer lange Heilige Städte Indiens. Rund 120.000 mobile Toilettenhäuschen sorgten für eine Basishygiene, 40.000 Polizisten und Militärs für Sicherheit. Neben 250 Kilometer mit Eisenplatten ausgelegten Verkehrswegen wurden 28 Ponton-Brücken, jede mehrere Kilometer lang, über den Ganges errichtet. „Zur heiligen Kumbh ist Allahabad die größte Stadt der Welt“, erzählt uns der sichtlich stolze Hemant. Tatsächlich sorgten KI-Systeme für eine ausgeklügelte Besucherstromlenkung und einen nahezu reibungslosen Ablauf des größten Festes der Geschichte der Menschheit.
Das Royal Heritage Camp liegt zwar außerhalb des eigentlichen Festgeländes, aber trotzdem ganz nahe am Triveni Sangam, dem Zusammenfluss. Auf diesem Gebiet stehen keine Wohnzelte, sondern hunderte temporäre Klöster, sogenannte Ashrams. Praktisch jeder hinduistischer Meister oder Lehrer betreibt während der Kumbh je nach Größe seiner Anhängerschaft sein lokales Meditationszentrum. Die bunten potemkinschen Tempelfronten mit ihren Kuppeln und Türmchen reichen gerne 20, 30 Meter in die Höhe. Dahinter schließen sich Versammlungszelte an, die das Münchner Oktoberfest blass aussehen lassen. In ihnen beten die Meister mit ihren Jüngern. Die hypnotisch monotonen Mantras werden über riesige Lautsprecher verstärkt, vermischen sich mit organisatorischen Durchsagen zu einem wummernder Klangteppich. Praktisch 24 Stunden rund um die Uhr reicht der Lärm hart an die Schmerzgrenze heran.
Als hellhäutige Touristen fühlen wir uns im Kumbh-Gelände sehr einsam, werden aber kaum beachtet und nur gelegentlich von Parias, den „Unberührbaren“, angebettelt. Sie stehen außerhalb des Kastensystems und damit am untersten Ende der indischen Gesellschaftsordnung. „Heute ist Vollmondnacht“, belehrt uns Hemant, „der fünftheiligste Badetag bei einer Kumbh. Die Polizei spricht von 15 Millionen Besuchern.“ Die Vorstellung, dass zwei Mal ganz Österreich hier auf den Beinen ist, um mindestens drei Mal im Wasser des Ganges unterzutauchen, schafft Unbehagen. Aber der Menschenstrom, der sich von den frühen Morgen- bis in die Abendstunden ohne Unterlass zum Sangam hin- und wieder wegbewegt, fließt ruhig, fast stoisch, vergleichbar mit dem Wasser der beiden breiten Flüsse. Der gelassen marschierenden Masse bieten fliegende Händler allerlei Speisen und Getränke an. Aber auch Farben, um sich bunt zu bemalen, Gehstöcke, Fahnen und unterschiedlicher Andenkenkrimskrams wechseln den Besitzer. Dazwischen versorgen Tankwägen die Menschen mit Trinkwasser. Es entsteht ein wenig der Eindruck eines gigantischen Jahrmarktes, aber ohne Hektik, Aggressionen oder Betrunkene. Rasch fühlen wir uns sicher und wohl.
Höhepunkt des Besuchs der Kumbh wäre natürlich das Bad im Ganges, der sich dank vieler Wasserreinigungs-Schiffe erstaunlich sauber und voll Millionen geopferter Blütenblätter auch einladend präsentiert. Außerdem sind die seichten Uferbereiche des Flusses über Kilometer mit Plastikabsperrungen markiert. Dahinter achten in hunderten kleinen Booten aufmerksame Rettungsschwimmer über die Sicherheit der Badenden. Doch die Tücke schlummert im mikrobiologischen Bereich, wie andere europäische Gäste des Heritage Camps erfahren müssen. Aus einer esoterisch angehauchten italienischen Reisegruppe büßen einige Badenixen ihren Tauchgang mit einer Nacht auf der Camping-Toilette.
Im gigantischen Rummel rund um die Kumbh Mela gehen andere Sehenswürdigkeiten Allahabads fast unter. Neben dem alten Fort, der Universität, der deplatziert wirkenden, neugotischen Kathedrale und einigen Mausoleen zählt dazu vor allem das Anand Bhavan, der frühere Wohnsitz der Familie Nehru. Die prächtige Villa liegt in einem wunderschönen Garten, der allein für seine Ruhe rund um das hektische Treiben der Großstadt erlebenswert ist. Auf den beiden Stockwerken des Kolonialstilbauwerks erhält der Besucher einen fundierten Einblick in die jüngere Geschichte Indiens. Die Nehrus kämpften gemeinsam mit Mahatma Gandhi für die Unabhängigkeit von Großbritannien und stellten in der Folge drei Mal den Ministerpräsidenten. Jawaharal Nehru galt insbesondere als der politische Kopf des Loslösungsprozesses. Jawarahals Tochter Indira, sie hieß verheiratet Gandhi – ohne mit Mahatma verwandt zu sein –, überließ das Familienanwesen 1970 dem Staat. Das Museum erzählt die aufregende wie tragische Geschichte der Familie Nehru-Gandhi und erlaubt einen Eindruck, mit welcher – nach westlichen Maßstäben – Bescheidenheit die Nehrus die größte Demokratie der Welt mitbegründeten.
Uttar Pradesh ist der bevölkerungsreichste Bundesstaat des indischen Subkontinents. Eine Reise in die spannende Region beginnt meistens in Indiens Hauptstadt Delhi, die aber zusammen mit Neu-Delhi als autonomes Unionsterritorium zählt. Mit der uralten Stadt Varanasi – rund 130 Kilometer Ganges abwärts von Allahabad bzw. Prayagraj – befindet sich in Uttar Pradesh dafür die heiligste Stadt der Hindus. Nirgendwo sei Indien indischer, versprechen viele Reiseführer. Nach Varanasi kommen die Gläubigen ebenfalls zum spirituellen Bad im Fluss, aber auch zum Sterben und Verbrannt-Werden. Rund 300 Kremierungen werden täglich in Varanasi vollzogen. An vielen Plätzen am Ufer des Ganges finden diese offen statt, rund um die Uhr lodern hier die Scheiterhaufen. Die in Tüchern gehüllten Leichen benötigen zwei bis drei Stunden, bis sie zu Asche zerfallen, die dann in den Fluss gestreut wird. Frauen dürfen sich den Feuern übrigens nicht nähern. Zu oft kam es vor, dass eine Witwe aus Verzweiflung zu ihrem toten Mann ins Feuer sprang. „Manche Gläubige sparen ihr ganzes Leben für das verhältnismäßig teure benötigte Holz“, erzählt unser lokaler Fremdenführer. Reicht dann das Geld dennoch nicht aus, könne es vorkommen, dass eine Leiche unvollständig verbrannt im Ganges entsorgt wird. Allerdings achtet die Stadt zunehmend darauf, dass dieser bedenklichen Praktik Einhalt geboten wird. Außer der offenen Verbrennung am Fluss stehen auch moderne, gasbetriebene Krematorien im Einsatz.
Die Häuserfront Varanasis erschließt sich am schönsten von einer Bootsfahrt aus. Die dunklen Ge-bäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert vermitteln einen unheimlichen Charme, für den der englische Begriff „Gothic“ perfekt geeignet scheint. Breite Gaths, steinerne Treppen, reichen hinunter zum Ganges, um den Badenden einen leichten Zugang zu verschaffen. Am zentralen Platz, dem Dasaswamedh Ghat, beginnen sich ab 17 Uhr hunderte Menschen auf den Stufen niederzulassen. Sie möchten möglichst nahe die „Ganga Aarti“ erleben, das tägliche, einer strengen Zeremonie folgende Feueropfer an die Flussgöttin Ganga. Auf sieben Plattformen bereiten Helfer Teppiche, Kerzen, Decken und rituelle Gerätschaften vor. Pünktlich um 19.00 Uhr betreten sieben in safrangelbe Roben gehüllte junge Priester, so genannte Pandits, die Plattformen. Zu Beginn blasen sie auf großen Meeresschneckengehäusen einen dumpfen schiffshornähnlichen Ton. Nach streng choreografierten, synchronen Bewegungsmustern schwenken sie anschließend Feuerschalen, Räucherkelche und Zimbeln in die vier Himmelsrichtungen. Rhythmische Klänge und Gesänge begleiten das mythische Schauspiel, das rund eineinhalb Stunden der lebensspendenden Göttin Ganges huldigt.
Von Klängen, Eindrücken und Sandelholzschwaden benebelt, versuchen wir, zu unserem Hotel zurückzufinden. Doch ohne Guide wäre dies schlichtweg unmöglich. Gleich hinter dem Gangesufer breitet sich Varanasi als ein gigantisches Labyrinth enger, verwundener Gassen aus. Die dunklen, verstopften Straßen quellen über vor Händlern, Schmutz, Sadhus, Pilgern und Kühen. Die Orientierung ist fast unmöglich, ebenso müssen wir uns streckenweise einfach dem Menschenstrom überlassen.
Varanasi und die Kumbh Mela sind jedenfalls nichts für schwache Nerven oder Klaustrophobiker. Unerschrockene Reisende werden dafür mit unvergesslichen Sinneseindrücken, berührend wie verstörenden Zeremonien, fremder sakraler Kunst und einer völlig anderen Geisteshaltung belohnt. Wen unsere Schilderung erschreckt, dem sei verraten, dass sich in Uttar Pradesh auch das schönste Gebäude Indiens, ja vielleicht sogar der ganzen Welt befindet: der Taj Mahal in der alten Mogul-Hauptstadt Agra.
Claudia Jörg-Brosche: Die Wienerin zählt zu den bekanntesten Reisejournalistinnen Österreichs. Sie publiziert regelmäßig in der Zeitschrift Gewinn, in den Tageszeitungen Kurier, Presse, Oberösterreichische Nachrichten, Salzburger Nachrichten, im Wiener Journal, in der „Freien Fahrt“, dem Clubmagazin des ARBÖ und dem Bordjournal der AUA.
Martin Duschek lebt als freier Journalist, Autor und Inhaber einer gleichnamigen Agentur in Innsbruck. Dazu betreibt er die Galerie am Claudiaplatz und schreibt für namhafte Medien Reise- und Wissenschaftsreportagen. Fragen beantwortet das meist gemeinsam reisende Paar gerne unter presse@duschek.info. Offizielle Informationen zu Reisen nach Indien finden sich auf: www.incredibleindia.com