Cartier trägt als traditionsreicher Juwelier schon seit seiner Entstehung aktiv zur Förderung und Erhaltung traditioneller Handwerkstechniken bei, von denen einige mittlerweile vom Aussterben bedroht sind. Im kürzlich eröffneten und vollumfänglich renovierten 13 Rue de la Paix haben wir uns umgesehen, außergewöhnliche Kreationen entdeckt und durften uns mit Pierre Rainero, dem Direktor für »Image, Stil und Erbe« der Marke, unterhalten.
Für die Dekoration der neuen Räume der traditionellen Boutique wurden fast vierzig Kunsthandwerker:innen eingebunden: Lack‑, Holz‑, Stein‑, Leder- oder Stroheinlegearbeiten, Mosaike, Feinmetallarbeiten, Teppiche, Glas, Tapeten oder Stäbchenarbeiten, maßgefertigte Möbel, Patinas usw. Die talentiertesten und raffiniertesten Kunsthandwerker:innen arbeiteten zusammen, um der zeitgenössischen Interpretation der ursprünglichen Boutique künstlerisch Leben einzuhauchen. Beispielsweise sammelten Laetitia Baqué und Victor Molinié Lederreste, die Cartier für seine Kreationen verwendet, um zwei Intarsien Paneele für das Atrium zu gestalten, die von der Menagerie und dem Blumenrepertoire des Hauses inspiriert wurden. Im aufwändigen Siebdruckverfahren entstanden im Atelier von GOHARD die von Panther, Zebras und Vögeln inspirierten Tapeten mit gestickten Details von Lucie Touré. Die Mosaikkünstlerin Sika Viagbo ließ sich für eine Wandarbeit im Salon von einer Manschettenuhr aus der High Jewellery Kollektion 2018 inspirieren, die ein Tigermotiv aus Gelbgold, Diamanten und schwarzem Lack enthält. Sie abstrahierte das gestreifte Fell, indem sie goldene Mosaiksteine mit solchen aus braunem und schwarzem Glasemail kombinierte.
Auch die Reliefs von Étienne Rayssac, bestehend aus einem handgefertigten Gipsvogel, der von den berühmten Broschen von Jeanne Toussaint inspiriert wurde, sind allerhöchste Handwerkskunst und zieren die Wand in den sogenannten High Jewellery Workshops. Die Gipsreproduktion des Abgusses einer Miederfront aus dem Jahr 1909, vergrößert auf eine 184 Zentimeter große Tafel, ist Teil der Archivabteilung. Pierre Rainero ist seit fast vier Jahrzehnten bei Cartier tätig und somit Teil des institutionellen Gedächtnisses des 1847 gegründeten Juweliers. Mit ihm durften wir uns unter anderem über die Relevanz von Kunst und Kunsthandwerk, die Metamorphose der ältesten Adresse, den Begriff der Schönheit in der Gegenwart und die Intimität eines Schmuckstücks unterhalten.

stayinart: Sie sind der Mann, der Cartiers DNA kuratiert. Können Sie bitte die wesentlichen Erbinformationen der Marke beschreiben?
PIERRE RAINERO: Wenn wir die Mission seit den Anfängen des Hauses Cartier beschreiben, dann besteht unser Erfahrungsbereich darin, schöne Objekte zu kreieren und die verschiedenen Formen zu ergründen, die Schönheit haben kann. Dafür nutzen wir viele Inspirationsquellen, von der Natur bis zur Kultur, von unserer eigenen bis zu vielen anderen Kulturen, immer auf der Suche nach neuen Formen, als Teil unserer eigenen Vision. Diese Vision kann man als den Stil von Cartier bezeichnen.
Welche Aspekte dieses bedeutenden Erbguts verkörpert nun die neue Boutique 13 Rue de la Paix?
Die Adresse in der 13 Rue de la Paix steht historisch und physisch für viele Dinge des Hauses, sie kann als eine Art moderne Wiege von Cartier gesehen werden. Das heißt, es ist das älteste Geschäft, die älteste Adresse, die noch existiert. Und es ist der Ort, an dem die Grundsteine dessen, was Cartier heute ist, gelegt wurden: die Werte, die Philosophie, die Kreativität, der Stil. Es ist der Ort, an dem Louis Cartier und Jeanne Toussaint an ihren Visionen und Kreationen arbeiteten. 13 Paix ist deshalb so symbolträchtig, weil hier alles, was wir über Cartier wissen, erdacht und verwirklicht wurde. Und natürlich gehört dazu auch die Geschichte der Marke und ihrer Kunden. Alle berühmten Kunden, die die Geschichte von Cartier bereichert haben, kamen in die Rue de la Paix. Von der russischen Königsfamilie bis hin zu Santos-Dumont oder Jean Cocteau und viele andere. Der Ort ist ein Teil unserer Geschichte und unserer Identität und er zeigt in seiner heutigen Metamorphose auch die ständige Suche nach der Relevanz dessen, was Cartier für die Menschen in der Gegenwart darstellt.
Wie ist es Ihnen und dem Team an Gestaltern und Architekten im Planungsprozess gelungen, die Werte der Marke in der Neugestaltung mitzudenken?
Wir haben großen Respekt vor der Geschichte, sind zugleich aber darauf bedacht, sie richtig zu präsentieren. Cartier hat sich immer auf den Aspekt der Dienstleistung für seine Kund:innen konzentriert. Ein Schlüsselmotiv, das heute so wichtig ist wie damals. Die gesamte Entwicklung seit der Eröffnung der Rue de la Paix 13 im Jahr 1899 ist eine Geschichte des besten und raffiniertesten Services für den Kunden: Mehr Platz, mehr Komfort und individuellere Einkaufsmöglichkeiten. Diese Idee von Komfort und Service wurde von den Architekten und Designern nicht nur visuell, sondern auch strukturell interpretiert, denn die Art und Weise, wie die Architektur in diesem Gebäude umstrukturiert wurde, entspricht diesen Kriterien und Anliegen. Die Idee war es, lebendige Räume zu schaffen, in denen die Besucher:innen frei in der Präsentation der Kreationen stöbern können, aber auch das Vorhandensein vieler verschiedener privater Salons in unterschiedlichen Größen und mit vielfältigen Atmosphären. Der Bezug zur Geschichte wird in der neuen Boutique durch sehr subtile Elemente wie Farbgebung, Materialien und Zeichnungen hergestellt. Die gewählten Farben sind eine Anspielung auf die verschiedenen Steine, die Jeanne Touissaint zu mischen pflegte, wie Smaragd, Rubin und Saphir. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Bei der Gestaltung des Dekors haben wir auch mit vielen Kunsthandwerker: innen zusammengearbeitet, die herausragend sind.
Dazu kommen wir gleich, lassen Sie uns vorher noch eine andere Frage stellen: Wann in der Geschichte von Cartier haben Kunst und Schmuckherstellung begonnen, einander zu beeinflussen?
Die Beziehung zwischen der Maison und der Kunst besteht schon seit der Gründung des Cartier-Kreativstudios. Das bedeutet, dass man schon immer neugierig auf andere Kulturen war, bei allem, was man im Bereich der Kunst entworfen hat. Als Zeugnis dieses Interesses haben wir die Bibliothek von Louis Cartier. Tatsächlich nennen wir sie die Bibliothek von Louis Cartier, jedoch wurde sie bereits vom Gründer Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengetragen und besteht aus vielen, vielen Büchern, die sich auf die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen der unterschiedlichen Kulturen beziehen: sei es aus Japan, aus China, aus der islamischen Kunst, aus Persien oder aus Indien. Die Bücher waren ein Korpus von Informationen über Formen, die den Designer:innen, die an der Metamorphose von 13 paix arbeiteten, Inspiration boten. Das bedeutet, dass die Idee, sich von künstlerischen Elementen inspirieren zu lassen, in unserer eigenen Kultur sehr tief verankert ist. Außerdem weiß man als Juwelier, wie wichtig die Symbolik der Schmuckstücke ist, die man herstellt. Es gibt so viele Aspekte in unserer Geschichte, die die Verbindung zwischen künstlerischen Elementen und der Symbolik hinter dem Schmuck zeigen.
Wie lassen sich, gegenwärtig betrachtet, Kunst und Schönheit in der Vision von Cartier miteinander vereinen?
Das ist eine interessante Frage, denn im Unterschied zu vielen künstlerischen Ausdrucksformen von heute ist und bleibt unser Ziel bei Cartier das Erreichen einer bestimmten Form von Schönheit. Sie steht im Mittelpunkt unseres Interesses. Sie ist die Quelle der Freude und des Vergnügens. Sowohl für die Person, die das Objekt tatsächlich besitzt und trägt, als auch für jene Menschen, die das Objekt, das von jemandem getragen wird, sehen. Das steht im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Wir sind sehr sensibel für die Entwicklung dieser Wahrnehmung von Schönheit und zugleich davon überzeugt, dass sich deren Vorstellung ununterbrochen weiterentwickelt. Unsere Arbeit besteht im Kern darin, stets neue Ausdrucksfelder und neue Formen der Schönheit zu ergründen.
In unserer Betrachtung sind Kunst und Handwerk zwei essentielle Bereiche, die es uns auch zukünftig ermöglichen, bei all dem technologischen und transhumanistischen Fortschritt die einzigartige kreative Schaffenskraft des Menschen ins Zentrum zu stellen. Wie befruchten sich Kunst und Handwerk bei Cartier – haben Sie hier vielleicht ein konkretes Beispiel für uns?
Es ist sehr interessant, über Kunst und Handwerk bei Cartier zu sprechen. Denn die Arbeit einer Hand ist bei all dem, was wir kreieren, wesentlich. Ich denke, ein Teil der Emotion, die wir empfinden, wenn wir ein von Cartier geschaffenes Objekt betrachten, geht auf die unglaubliche Leistung unserer Kunsthandwerker:innen zurück – auch wenn die Technik und all ihre Anstrengungen am Ende fast unsichtbar sind. Das Einzige, was wir schätzen sollten, wenn wir ein Cartier-Objekt betrachten, ist seine Schönheit. Die Raffinesse, die Mühen, die unzähligen Arbeitsstunden sollten nicht vordergründig sein, sondern in der Wahrnehmung positiv mitschwingen. So denke ich, dass sich Kunst und Handwerk am besten miteinander vermischen, wenn dieses Ergebnis im Genuss der Schönheit erreicht wird.
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft wagen. An welchen Produkten arbeiten Sie derzeit? Wie wird Cartier dieses traditionelle Erbe in die Zukunft tragen und welche Rolle wird die Kunst dabei spielen?
Auch hier denke ich, dass wir selbst die künstlerische Dimension unserer Arbeit stets hervorheben, obwohl wir ein kommerzielles Haus sind. Die künstlerische Dimension ist uns sehr wichtig. Vergessen wir nicht, dass die Gebrüder Cartier in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen als »the artist merchants« bezeichnet wurden. Kunst ist also der Kern unserer Arbeit und es ist unsere Aufgabe, diese künstlerische Dimension in alles einzubringen, was wir unseren Kund:innen anbieten. Wir können uns Cartier ohne diese Dimension und diese ständige Beschäftigung unsererseits damit nicht vorstellen. Wo sich Kunst und die Arbeiten Cartiers überschneiden, ist sicherlich die Art von Emotion, die unsere Objekte hervorrufen können. Ich denke, es ist eine sehr spezifische Form der künstlerischen Dimension, weil die von uns geschaffenen Objekte mit einer intensiv menschlichen Dimension verbunden sind. Schmuck und Uhren werden oft nach außen hin getragen. Unsere Objekte hingegen sind sehr intim, auch in der Art und Weise, wie sie präsentiert und wahrgenommen werden. Sie haben insofern eine einzigartige Größe im Vergleich zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Das wird, denke ich, für immer so bleiben.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 4.22 AFFINITY erschienen.