Jonathan Meese
Jonathan Meese war bereits vor einigen Jahren zu Gast bei dem internationalen Nietzsche-Kongress „Nietzsche – macht – Grösse“ in Naumburg an der Saale. Er hatte im Naumburghaus auf dem Podium mit den philosophen Volker Caysa, Konstanze Schwarzwald, Udo Tietz und dem Dichter Durs Grünbein über die Kunst „diskutiert“.
Er stellte seine Thesen vor und ließ sich kaum unterbrechen. Manchem erschien er wie ein kulturkritischer Prediger, der er aber nicht sein will. Aber er will wohl eine Revolution, eine Umkehr: Die Kunst soll an die Macht! Der Gral von Parzifal-Meese ist die Diktatur der Kunst. Der Auftritt war sehr beeindruckend, was allerdings einige Gäste und auch einige Mitglieder des Vorstands der Nietzsche-Gesellschaft nicht so sehr erfreute. Sie empörte, dass ihr Nietzsche-Interpretationswerk, das für viele von ihnen ein Lebenswerk ist, durch Meeses Thesen grundlegend in Frage gestellt wurde. Der Mann war nicht nur Künstler, Narr, nein, er hatte auch noch eine eigene Philosophie – die des Metabolismus. Meeses Philosophie ist der Metabolismus als souveräner Metatropismus – metaphysischer Metabolismus. Meese verkündete seinen Über-Nietzscheanismus im Mekka des Nietzscheanismus. Das war der Skandal.
Das Wesen der Kunst ist ihre metatropische Souveränität.
Nicht nur Gott, sondern Nietzsche schien tot zu sein. Das Heiligste wurde am heiligen Ort entheiligt. Nun war also auch der andere Gott für die Nietzsche-Forscher gestorben. Wieder standen sie in der Wüste. Sollte nun Meese ihr Prophet sein? Diese Rolle steht Meese fern. Trotz Hitler-Gruß will er keine neue militante Priesterkaste begründen. Nietzsches Diktum: „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst … Denn es gibt nichts Verlogeneres bisher als Heiliges“ nimmt Meese ernst. Meese, der die Diktatur der Kunst verkündet, spielt mit Metaphern, die überhaupt nicht politisch korrekt sind, weil sie in der Tradition des nationalsozialistischen Arbeitersoldaten stehen. Es geht aber nicht darum, vor dem Führer „stramm“ zu stehen, sondern vor der Kunst, ihr zu dienen. Nicht „Diktatur des Arbeiters“ ist seine Parole, sondern „Diktatur der Kunst“. Er betrachtet sich selbst als „Ameise der Kunst“, als Diener der Kunst.
Er will nichts von der Kunst, sondern er fragt sich: Was will die Kunst von uns? Er will der Kunst als Künstler dienen. Er sieht die Kunst als eine Art höhere Macht, als Souverän, die der Mensch selbst als Künstler so nicht haben kann, sondern der er dienen muss. Die Kunst ist das Umgreifende. Die Sache ist das Entscheidende, nicht der Mensch. Der Künstler ist als Mensch ein metabolisches Wesen, er ist dem Metabolismus unterlegen. Die Kunst dagegen ist über den Metabolismus des Einzelnen erhaben, sie ist der Souverän des metabolischen Wesens Mensch. Die Frage ist nun aber, ob es so etwas wie ein höheres Wesen der Kunst gibt, das den Metabolismus des Menschen, den Stoffwechsel, übersteigt? Gibt es eine Wesenheit, die es rechtfertigt, dass der Künstler Jonathan Meese ihr „nur“ als metabolisches Wesen dienen will? Ich meine: Ja!
Die Kunst ist ein dämonisches Medium, ein Zwischen-Reich, das vermittelt zwischen der Göttlichkeit des einzelnen Künstlers als Expraktiker, der aus sich selbst heraus Neues zu erschaffen im Stande ist und dem Künstler als stoffwechselabhängiges Wesen Mensch. Letzterer ist aber durch seinen gekonnten Umgang mit seiner alltäglich leiblichen empraktischen Abhängigkeit wiederum in der Lage – anders als die Masse – über sich hinauszuwachsen. Durch die Möglichkeit des expraktischen Über-sich-hinaus-wachsens ist er im Stande dem Leben Neues zu gebären, indem er seine Kinder, seine Bilder, rauschhaft ekstatisch in die Welt wirft. Das macht ihn zum Expraktiker. Dementsprechend gebiert Jonathan Meese im präzis-ekstatischen Geschwindigkeitsrausch seine Werke. Indem Meese sich expraktisch der Kunst weiht, ist auch Meeses Forderung nach Demut gegenüber der Kunst zu verstehen. Er steht vor der Kunst „stramm“, er dient ihr, weil sie ihn ergreift. Die Kunst ist für ihn etwas Erhebendes, etwas Erhabenes, das größer ist als der Einzelne, der sich in seiner metabolischen Determiniertheit verliert. Im künstlerischen Zwischenreich, in der Metatropie das Über-sich-Hinaus zu ergründen, sucht Meese den Grund und das Ziel seiner großen Sehnsucht: DIE DIKTATUR DER KUNST – den Gral des Ritters der Kunst Jonathan Meese.
Aber diese sehnende Suche erfüllt sich nicht im Formlosen, sondern in präzisem Formwillen, in der Disziplinierung, im „Stramm stehen“! Kunst ist erst da, wo sie dem Metabolismus eine präzise Form gibt. Sie entleert sich nicht in die Welt. Sie erfüllt die Welt. Die Kunst ist das über die Demokratie Erhabene, sie erhebt uns über unser demokratisiertes Glück. Sie zieht uns hinaus aus dem Sumpf der Durchschnittlichkeit. Sie kehrt die Werte um. Sie ist revolutionär. Ein großer radikaler Philosoph verkündete einst: „Ich hab‘ Mein‘ Sach‘ auf Nichts gestellt“; Jonathan Meese stellt seine Sache auf die Kunst. Die Herrschaft der Kunst ist durch den Metatropisten, den echten Künstlerphilosophen für Meese bereits an der Macht. Der echte Künstlerphilosoph erlebt die Sache der Kunst im expraktischen Ausbruch, im Ereignis. In Gestalt des Mediums Meese regiert die Kunst bereits und zwar im metatropischen Reich des metabolischen Künstlerphilosophen.