Raumzeit Kontinuum – Eine ästhetische Irritation

Worauf man sich als Betrachter von Patrick Kaufmanns Bildern einlässt.

Es sind Ölbil­der, die in ihrem abs­trak­ten Farb­ver­lauf beein­dru­cken. Erschöpft sich die Fas­zi­na­ti­on aber in der blo­ßen Ästhe­tik ihrer Far­ben­pracht? Wird man damit Patrick Kauf­manns letz­tem Bil­der­zy­klus mit dem Titel „Raum­zeit Kon­ti­nu­um“ gerecht? Um Kauf­manns künst­le­risch-phi­lo­so­phi­schen Ansatz nach­zu­voll­zie­hen, lohnt sich eine kur­so­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den Begrif­fen Raum und Zeit.

Den Raum kön­nen wir gut wahr­neh­men. Wir haben mit Augen, Ohren und dem Ves­ti­bu­lar­ap­pa­rat im Ohr die ent­spre­chen­den Orga­ne der sinn­li­chen Wahr­neh­mung. Wir kön­nen nach oben, nach unten, nach links und nach rechts schau­en. Wir haben die Fähig­keit, unse­re Umwelt drei­di­men­sio­nal zu sehen. Wir kön­nen Schall im Raum ver­or­ten. Wir haben ein Gleichgewichtsgefühl.

Mit der Zeit ist es viel schwie­ri­ger, denn wir haben kei­ne eige­nen Sin­nes­or­ga­ne dafür. Ein­zig das lim­bi­sche Sys­tem im Gehirn lei­tet aus dem Tem­po der Atmung ab, wie die Zeit ver­streicht. Atmen wir schnell, dann ent­steht das Gefühl, die Zeit ver­geht rasch. Wir kön­nen daher nur von einem – höchst indi­vi­du­el­lem und situa­ti­vem – Zeit­emp­fin­den spre­chen. Und der Vek­tor der Zeit ist nicht umkehr­bar. – Zeit ver­läuft in eine Rich­tung. Zeit ist irrever­si­bel. Wir wer­den älter und nicht jünger.

Der Phi­lo­soph Augus­ti­nus brach­te unser Pro­blem mit der Zeit bereits im 4. Jahr­hun­dert nach Chris­tus auf den Punkt: „Was ist also die Zeit? Wenn mich nie­mand dar­über fragt, so weiß ich es. Wenn ich es aber jeman­dem auf sei­ne Fra­ge erklä­ren möch­te, so weiß ich es nicht. […] Gin­ge nichts vor­über, gäbe es kei­ne ver­gan­ge­ne Zeit; käme nichts auf uns zu, gäbe es kei­ne zukünf­ti­ge Zeit, wäre über­haupt nichts, gäbe es kei­ne gegen­wär­ti­ge Zeit.“ Also gibt es nur die­ses win­zi­ge Zeit­fens­ter „jetzt“ der Gegen­wart. Augus­ti­nus’ Gedan­ken füh­ren zu einer erstaun­lich befrei­en­den Kon­se­quenz, denn wenn wir tat­säch­lich rea­li­siert und inter­na­li­siert haben, dass jede Ver­gan­gen­heit nur eine ehe­ma­li­ge Zukunft ist und dass das, was vor uns liegt und vor dem wir uns fürch­ten, nur als eine zukünf­ti­ge Ver­gan­gen­heit ver­stan­den wer­den kann, dann kön­nen wir sor­gen­frei in der Gegen­wart leben und über­win­den unse­re Zukunfts- und Veränderungsängste.

Por­trait im Ate­lier in Murg

Imma­nu­el Kant nann­te die Kate­go­rien Raum und Zeit als die Grund­la­ge für jeg­li­che For­mu­lie­rung von Wis­sen, denn Raum und Zeit sind Din­ge, die uns a prio­ri, also vor jeder Erfah­rung, gege­ben sind. Alle Erfah­run­gen ord­nen wir in die­se Kate­go­rien ein. Wir bewe­gen uns nicht in Raum und Zeit, son­dern Raum und Zeit sit­zen in uns. Jede Erfah­rung, die wir im Raum machen, ist mit der Zeit ver­bun­den. Und wenn man in den Ster­nen­him­mel schaut, dann schaut man in den Raum und zugleich in die Zeit, denn man sieht die Ster­ne nicht, wie sie waren, als sie jenes Licht aus­ge­sen­det haben, das man jetzt sieht. Sind sich die roman­tisch gestimm­ten Betrach­te­rin­nen oder Betrach­ter bewusst, dass es viel­leicht den Stern, des­sen Licht man jetzt wahr­nimmt, gar nicht mehr gibt?

Albert Ein­steins Quint­essenz sei­ner Über­le­gun­gen zur Raum­zeit war, daß Raum und Zeit nicht von­ein­an­der unab­hän­gi­ge Grö­ßen, son­dern untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Raum ist da, wo sich Licht bewegt, und die Zeit gibt an, wie lan­ge sich das Licht bewegt. Wäh­rend Ein­stein 1905 auf die Fra­ge nach der Gleich­zei­tig­keit die Ant­wort mit der Rela­ti­vi­täts­theo­rie gab, lös­te Picas­so 1907 mit sei­nem Werk „Les Demoi­sel­les d’Avignon“ Raum und Zeit im Kubis­mus auf.

Prin­zi­pi­en 2013, 70 x 270 cm

Was uns zu den­ken geben soll­te, ist, dass sich ein Künst­ler zur glei­chen Zeit wie ein Natur­wis­sen­schaf­ter mit der glei­chen Fra­ge­stel­lung aus­ein­an­der­ge­setzt hat und in sei­ner Spra­che der Kunst eine Ant­wort gege­ben hat. „Man braucht eine Traum­welt, um die Eigen­schaf­ten der wirk­li­chen Welt zu erken­ma­nen, in der wir zu leben glau­ben (und die in Wirk­lich­keit viel­leicht nur eine ande­re Traum­welt ist). […] Wir müs­sen ein neu­es Begriffs­sys­tem erfin­den, das den bes­ten Beob­ach­tungs­er­geb­nis­sen wider­spricht, die ein­leu­chends­ten theo­re­ti­schen Grund­sät­ze außer Kraft setzt und Wahr­neh­mun­gen ein­führt, die nicht in die bestehen­de Wahr­neh­mungs­welt pas­sen“, sag­te Paul Feyer­abend, der anar­chis­ti­sche Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker, der den Aus­spruch „Any­thing goes“ geprägt hat. „Alles geht“ heißt aber nicht wahl­lo­se Belie­big­keit, son­dern for­dert von einem die Akzep­tanz, dass eine ganz ande­re Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gie mög­lich sein könn­te. Wenn Wis­sen­schaft­ler und Künst­ler ihre Berüh­rungs­ängs­te ver­lie­ren und den Aus­tausch suchen und pfle­gen, ler­ne man aus der Welt­sicht des anderen.

Gut, dass sich mit der Fra­ge nach Raum und Zeit nicht nur Phi­lo­so­phen, Mathe­ma­ti­ker und Phy­si­ker beschäf­ti­gen, son­dern dass sich auch Künst­ler mit die­ser The­ma­tik aus­ein­an­der­set­zen. In die­se Tra­di­ti­on reiht sich nun auch der Liech­ten­stei­ner Maler und Bild­hau­er Patrick Kauf­mann ein, der sich selbst auch als Dich­ter und Phi­lo­soph bezeich­net. Er sagt von sich: „Solan­ge ich male, bin ich ein Phi­lo­soph. […] Ich bin kein Wis­sen­schaft­ler – ich bin Künst­ler. […] Wenn ich male, bin ich voll­kom­men bei mir, in mei­ner Herz­fre­quenz. […] In mei­ner Kunst ver­ei­ne ich das Jetzt und die Gegen­wart, die Zeit und den Raum. […] Ich male, also bin ich; Kör­per und See­le sind im Ein­klang. […] Wir alle sind Teil eines Teils eines Teils, alle gehö­ren zu einem leben­di­gen, viel­fäl­ti­gen Orga­nis­mus. Alles ist in Schwin­gung, und Still­stand gibt es nicht.“

Patrick Kauf­manns Ölbil­der und Radie­run­gen tru­gen bis zum neu­en Zyklus „Raum­zeit Kon­ti­nu­um“ ger­ne Titel wie Puls, Par­ti­kel, Zel­le, Pha­sen Kri­tik­fä­ver­schie­bung, Infi­ni­tum oder Osti­um. Bis vor einem Jahr ent­stan­den sie nach Skiz­zen, wur­den streng kon­stru­iert. Nun aber nimmt Kauf­mann die Natur rund um sein Ate­lier im Murg am Schwei­zer Walen­see als sei­ne Inspi­ra­ti­ons­quel­le inten­si­ver wahr. „In mei­ner Male­rei geht es nun nicht mehr dar­um, ein Kon­strukt von Gedan­ken zu bil­den, son­dern ein Bild des Nicht-Den­kens zu erschaf­fen. Um den Zustand des Nicht-Den­kens zu errei­chen, bevor­zu­ge ich die Stil­le in der Natur, die Abge­schie­den­heit des Wal­des, des Sees, jenes Rau­mes, in dem ich lebe.“ Nach stun­den­lan­gen, kon­tem­pla­ti­ven Wan­de­run­gen – manch­mal auch bar­fuß – gelingt es ihm, mit „weni­ger Kopf, mehr Herz“ zu malen. Ob er nun den kon­stru­iert intel­lek­tu­el­len oder den medi­ta­tiv intui­ti­ven Zugang zu sei­nen The­men wählt, es geht um das Ergeb­nis. Der Kunst­theo­re­ti­ker Bazon Brock pos­tu­lier­te ein­mal: „Künst­ler, hört auf, Kunst zu machen. Macht Pro­ble­me.“ Pro­ble­me machen heißt, etwas zum The­ma machen und dies in der Spra­che der Kunst umsetzen.

Was pro­ble­ma­ti­siert Kauf­mann? Wie setzt er nun im Zyklus „Raum­zeit Kon­ti­nu­um“ die Fra­ge nach der Raum­zeit­er­fah­rung um? Was pas­siert mit dem Betrach­ter, der Betrach­te­rin, wenn man län­ger vor einer sei­ner abs­trak­ten Farb­sym­pho­nien in Grün‑, Pur­pur- und Blau­tö­nen steht? Die Bil­der ent­wi­ckeln einen Sog, sie begin­nen sich bei län­ge­rer Betrach­tung zu bewe­gen. Zur Raum­wahr­neh­mung – Höhe, Brei­te und Tie­fe – kommt noch die Bewe­gung und damit die 4. Dimen­si­on der Zeit hin­zu. Wer aber evo­ziert die Bewe­gung? Nicht das Bild bewegt sich, nicht die auf­ge­tra­ge­nen Farb­par­ti­kel ver­än­dern sich, son­dern der Betrach­ter kon­stru­iert die­se Illu­si­on und wird damit Teil eines Tei­les eines Kunstwerks.

Kauf­mann betont immer wie­der den ästhe­ti­schen Aspekt sei­ner Arbei­ten. Es geht ihm aber nicht dar­um, ein­fach „schö­ne“, wohl­ge­fäl­li­ge Objek­te und Bil­der zu schaf­fen. Ästhe­tik kommt vom grie­chi­schen „ais­the­sis“ und bedeu­tet „Wahr­neh­mung“, „Emp­fin­dung“. Kauf­manns Bil­der for­dern auf sub­ti­le Art die Selbst­wahr­neh­mung des Betrach­ters. Sie sind eine – im wort­wört­li­chen wie im klas­si­schen Sinn höchst ästhe­ti­sche – Zumu­tung für die Wahr­neh­mung, denn als Betrach­ter gibt man sich lust­voll die­ser Täu­schung hin und übt sich in der Selbst­wahr­neh­mung, getäuscht zu wer­den. Dadurch schult man sei­nen Ver­stand und sei­ne Kri­tik­fä­ver­schie­bung hig­keit und bekennt sich dazu, dass alles ganz anders sein könn­te, wie es einem die Sin­ne oder die Erfah­rung vor­gau­keln. Unse­re Wahr­neh­mung ist begrenzt: Obwohl wir mei­nen, das Gan­ze zu sehen, neh­men wir in Wirk­lich­keit nur einen Bruch­teil von allem wahr. Des­sen soll­ten wir uns bewusst sein.

Wer sich Kauf­manns Bil­der an die Wand hängt, setzt sich damit – ganz im Brock­schen Sin­ne des Pro­ble­ma­ti­sie­rens – auseinander. 

Raum­zeit Kon­ti­nu­um 2018, 70 x 240 cm
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Sie hat Philosophie und Germanistik studiert, unterrichtete in Gymnasien und an der Universität Innsbruck, hat sich am Institut für Kulturwissenschaften als Kuratorin im Ausstellungs- und Museumswesen in Krems und Wien weitergebildet, war lange Jahre für die Pressearbeit des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum verantwortlich und ist Autorin und Herausgeberin.

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