Wir schreiben das Jahr 1759. Giandomenico Tiepolo ist ein berühmter Mann, Sohn des schon legendären Vaters Giambattista, vor allem auch ein guter Lehrmeister – und zumindest einer der bekanntesten Maler unter den vielen lebende Künstlern seiner Zeit. Man achtet ihn, den gebürtigen Venezianer, auch im Ausland, und er schuf neben zahlreichen Sakralaufträgen in diversen Kirchen Venedigs und Umgebung vor allem in Würzburg auf dem mit insgesamt 677 Quadratmetern umspannenden Gewölbe des von dem damals noch jungen und unbekannten Baumeister Balthasar Neumann errichteten bombastischen Stiegenhauses die flächenmäßig größte freskierte Decke in einem „Profanbau“, der Würzburger Residenz, das als ein Wunder zur damaligen Zeit galt.
DIE VILLA IN ZIANIGO
Um das fürstliche Entgelt erwirbt er ein Landhaus in Zianigo, baut es um und gestaltet die Decken und Wände nach seinem ganz persönlichen Geschmack. Er malt dort vor allem die für seine Spätzeit typischen Puncinelli (im Italienischen Pulcinella) von der Figur aus der Commedia dell’ arte kommender Charakter, die ein berühmter Maskenbildner, Antonio Fava, schuf. Einem Vogelschnabel ähnlich, ist sie entweder aus schwarzem oder dunkelbraunem Leder, mit gefurchten Augenbrauen und meist einer Warze auf der Stirn. Ihr Outfit besteht aus einem weißen Gewand, das an das Kostüm von Athleten erinnert. Dazu trägt auch die meist längliche, schlanke Gestalt bei, mit langärmeliger Bluse, mit einer Art Gürtel zusammengehalten, die ihr, zumindest äußerlich bei Tiepolo, eine gewisse Grazilität verleiht, und die sie von den tölpelhaften Vorbildern aus der Commedia dell’ arte unterscheidet, wo diese Figur eher gedrungen, mit einem unförmig hervorstehenden Bauch und einem Buckel dargestellt wird. Vor allem der lange, zuckerhutartige, weiße, mehr oder weniger steife und hohe Hut, der nur eine Spur schlipprig wirkt – eine Erfindung Tiepolos in dieser Form – macht sie von weitem schon auffällig und zu etwas Besonderem und verleiht zugleich eine gewisse Würde, deren bewunderndem Anblick man sich kaum entziehen kann, denn selbst wenn sich die Pulcinella „privat“ und unbeobachtet sozusagen wie zufällig von einem sie ausspioniert habenden Auge „frei“ fühlen, legen sie die Maske niemals ab, die wie angewachsen mit ihrem Gesicht verbunden scheint. Und auch den Hut werden sie niemals ablegen, nicht einmal, wenn sie von Tiepolo schlafend, sich vom Essen erholend oder der akrobatischen Späße müde, dargestellt werden.
Der Bauchansatz und die Lust darauf, es sich mit sinnlichen Genüssen jedweder Art gut gehen zu lassen, vor allem nicht, auf die geliebten Gnocchi zu verzichten, die zu ihrer Leibspeise zählen, spiegelt sie die typische Lebensweise aus Kampanien angepasster Italiener. Auch den Buckel hat sie noch, wie ihn seine Vorbilder haben, aber er stört nicht, gehört irgendwie dazu, wenn man sich in die Psyche der Pulcinella hineindenkt. Denn er stellt für sie keine Beschwerlichkeit sondern eher eine Art von Stigma dar, zu einer Gruppe Gleichgesinnter zu gehören, welche das Schicksal geformt und zu dem gemacht hat, was und wie sie sind: Spassmacher, charismatische Unterhalter einer undefinierbaren Masse Gleichgeschalteter, welche den Rest eines anders Gearteten, vielleicht des „normalen“ Volkes darstellt, das sich durch Gesetze und Vorschriften lenken lässt. Nicht so die Pulcinella. Sie treten immer in Gruppen auf und erregen schon damit eine gewisse Aufmerksamkeit. Denn sie engagieren sich mit gemeinsamen Aktionen, so oft es geht, in der Öffentlichkeit, um Missstände der Obrigkeit, vor allem die Unterdrückung durch die disziplinierende Justiz anzuprangern, oft witzig und geistreich, manchmal derb und plump, die darauf folgende Strafe nicht fürchtend, denn sie wissen eines: der Triumph der Anerkennung dafür wird ihnen gewiss sein, denn unter dem Schutz der Maske und in Anonymität können sie Dinge äußern und tun, welche andere nicht können, und genau darauf kommt es ihnen an. Sie repräsentieren somit die Stimme des Gewissens, als Aufwiegler gegen Unterdrückung von Polizei- und Staatsgewalt, ein Anliegen, welches niemals schlecht sein kann, und wenn die Angriffe subtil genug verpackt sind, Wahrheiten im Scherz ausgesprochen und spontane Slapstick-Komödien, die sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufführen, zu einer Art bitterer Humor werden, den jeder versteht, der sich davon betroffen wähnt, auch die Ungebildeten, und das macht sie von Grunde auf sympathisch.
Die Pulcinella-Figur wurde in Neapel, im Süden Italiens, in der zweiten Hälfte des XVI Jahrhunderts geboren. Sie ist fester Bestandteil der Commedia dell‘ Arte. Diese Maske wurzelt jedoch in einer noch ferneren Vergangenheit. Aber Tiepolo wandelte die Figur deutlich ab und entwickelte sie in seinem typischen Stil weiter.
Die Fresken der Villa Tiepolo sind von einer besonderen Einzigartigkeit und heute noch beispiellosen Frische im Pinselstrich, welche Jahrhunderte Maltradition überspringt. Die unbestritten hohe Qualität dieser Werke, die eine der herausragenden Beispiele der venezianischen Bildkultur der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts darstellt, haben ihre Bleibe nach abenteuerlicher Reise des bereits abrissgefährdeten Hauses und sorgfältiger Restaurierung und einem neuen, genialen Verfahren der Ablösung von Fresken – dem sogenannten „Riss“…
Zu den absoluten Highlights der Fresken der Tiepolo-Villa gehören die Pulcinella-Schaukel, Il Mondo Novo oder I Saltimbanchi. Sie zeigen das, oder zumindest einen Großteil dessen, was Tiepolos Pulcinella begrifflich verkörpern und die Bezeichnung Akrobaten deckt nur einen Teil dieser Fülle ab. Sie sind ebenso Gaukler, aber nicht in dem Sinne, um den Betrachter irrezuführen, etwas vorzumachen, denn sie bewirken mit ihrer Akrobatik etwas mit, das auch eine andere Bewegung auslöst – nämlich die des Geistes. Tiepolo stellt sie gerne in diesen kurzen Momenten des Glücks dar, in denen sie schwelgen, in diesem kurzen Moment der Schwerelosigkeit, im galanten Werbungstanz mit jungen schönen Damen, ebenfalls maskiert, in akklamierten Handstandnummern mit Salto, vor Publikum, seiltänzerisch in luftiger Höhe auf einem Seil, offenbar zwischen zwei Bäumen gespannt, schaukelnd, dem Himmel nah, auf einem Bergesgipfel in einer sehr einprägsamen Privatheit, wo man nach mühsamen Aufstieg angelangt, das Tal betrachtet, einander dies oder das dort unten zeigt, sich Geschichten erzählt, das Herz ausschüttet, vielleicht sogar tröstet, während ein anderer im Vordergrund offenbar gerade einen Krug Wein geleert hat und in Tiefschlaf fallend umgekippt ist.
Die Masken scheinen hier wie mit ihnen gealtert, verstärken zumindest symbolisch noch den greisen Gesichtsausdruck. Wir lernen hier eine andere Seite, die des Alters kennen, das im Geist und in der Erinnerung noch jung gebliebenen ist. Eines Alters, dem der Gaukler vielleicht eher begegnen kann, auch wenn er nicht mehr sein Publikum braucht, weil er es nicht nötig hat, sich zu betrügen, nicht mehr in der ersten Reihe stehen muss, vorausgesetzt, er wird von den Seinigen unterstützt und endet nicht in der Verelendung, sondern kann in Würde altern.
Nach der Erzählung in den braunen Bisterzeichnungen der Divertimeto per li regazzi entstammt Pulcinello ursprünglich einem riesigen Truthahn-Ei. Für Tiepolos Akrobaten mit Hakennasenmaske scheint eines zuzutreffen: „Alles, was von seinen Figuren ausgeht, ist ein Gefühl tiefer Entfremdung, ein leichtes und fast unfühlbares Unbehagen, das die Augen derjenigen trifft, die zu beobachten wissen. Die grotesken Figuren, obwohl lang gestreckt sind proportioniert, verzaubern den Betrachter, der sich vor dem Antlitz einer neuen Menschheit wiederfindet; einer Menschheit, die verwildert, unordentlich, unbeholfen, aber dennoch die einzige Alternative ist.“
Als Giandomenico siebzig ist, beginnt er sein letztes großes Werk, das mit ihm enden wird, seine 104 Blätter der Divertimento per li regazzi welche unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Republik entstanden sind. Es ist der Werdegang Pulcinella’s, der hier dargestellt wird, von seinem Ursprung im Jahr 1797 an.
Schon einmal taucht diese Neue Welt in seinen Fresken auf, in einer jener Landvillen, die er in Valmarana kennengelernt und nach dem Geschmack der Auftraggeber gestaltet hatte, nun in seinem eigenen Landhaus (1757) eine neue Dimension mit bombastischer Breitenwirkung von fast lebensgroßen Figuren eine neue Form verlieh, welche diesen Geschmack seiner Auftraggeber persiflierte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Malerei wird eine Personengruppe a tergo, in kompletter Rückenansicht dargestellt. Er prangert hier die Torheit einer mit Hingabe auf ein seltsames Ereignis wartenden anonymen Menge an, durch ein Fernrohr zu blicken (das man im Übrigen als solches gar nicht sieht) um einen näheren Blick auf die „Neue Welt“ zu machen, einer heruntergekommenen Gesellschaft, der selbst schon die Zerstreuung fade geworden ist. Denn man setzt zumindest Erwartungen in etwas, was man noch nicht kennt. Andererseits, indem er Pulcinella ein Leben einhauchte, und genau auch diesen tragischen Verfall einer ganzen Epoche verkörperte wie auch zugleich verspottete, malt er hier das Zerrbild einer Gesellschaft, die von ihren akrobatischen Verrenkungen müde geworden auf eine Vergangenheit zurückblickt, die einst ihre Jugend war, und mit der sie jetzt im Alter nichts mehr anzufangen weiß.