MUSEUM TINGUELY
Das Museum Tinguely öffnet am 02. März 2021 wieder seine Tore. Es umfasst mit circa 120 kinetischen Skulpturen und 1500 Werken auf Papier die weltweit größte Sammlung an Werken des Schweizer Künstlers Jean Tinguely (1925–1991). Im Zentrum seines Schaffens stand die Beschäftigung mit der Maschine. Er interessierte sich für die Funktionen von Maschinen, ihre Bewegung, die von ihnen erzeugten Geräusche sowie für die der Maschine inhärente Poesie.
Wichtig für Tinguelys raschen Erfolg als Künstler, der zuvor seinen Lebensunterhalt als Schaufensterdekorateur verdiente, war seine Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen. Er war ein regelrechter Netzwerker. Bereits 1954 im Rahmen der Ausstellung in der Galerie Arnaud begann seine Freundschaft mit dem schwedischen Kunsthistoriker Pontus Hultén, der über das Werk des Künstlers Folgendes resümierte: „Die Maschinen von Tinguely sind Anti-Maschinen. Man will in den Maschinen Regelmäßigkeit und Präzision finden. Doch Tinguely erforscht die mechanische Unordnung. Die Getriebe seiner Bilder haben keine andere Präzision als die des Zufalls. Diese Kunst ruht auf der Idee des Rades, der Wiederholung und der immerwährenden Veränderung.“ Schnell knüpfte Tinguely auch international Kontakte. Bereits 1954 hatte er eine Ausstellung in Mailand, im Jahr darauf in einer Galerie in Stockholm. 1956 lernte er Niki de Saint Phalle und ihren Mann Harry Mathews kennen, die bei einem Atelierbesuch ein Relief von Tinguely kauften. 1958 intensivierte sich der Kontakt zu Yves Klein, dem Kunstkritiker Pierre Restany und der Pariser Galeristin Iris Clert.
Kleins und Tinguelys Gemeinschaftsarbeiten wurden bei Iris Clert ausgestellt. Tinguely konstruierte mechanische Vorrichtungen, auf denen sich von Klein in verschiedenen Farben bemalte Scheiben mit hoher Geschwindigkeit drehten. Sie sollten sich so schnell drehen, dass die Oberfläche nicht mehr wahrnehmbar und nur noch eine Farbzone sichtbar war. Wie schon Jean Tinguely selbst zu Lebzeiten (1925–1991) mit verschiedenen Formen des Ausstellens von Kunstwerken experimentierte, präsentiert auch die Dauerausstellung im Museum Tinguely die Werke auf unterschiedliche Weisen. Die Werkgruppen und Themen sind in Form eines Parcours präsentiert, der von Raum zu Raum variierende Displayformate vorsieht. Diese reichen vom klassischen, vermeintlich neutralen «White Cube» bis hin zu suggestiven und immersiven Formaten. Dabei fließen auch jüngere Forschungsergebnisse zur (Ausstellungs-)Geschichte der gezeigten Arbeiten ein.
Ich liebe die Wiedergeburt gefundener Objekte, sie erneut zu erfinden, indem ich ihnen in einer neuen Dimension eine neue Existenzform gebe.
Der Ausstellungsrundgang beginnt im ersten Obergeschoss mit Tinguelys frühen Werken der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Den Auftakt bildet der erste Galerieraum, der den frühen, kinetischen Drahtskulpturen und Reliefs gewidmet ist, mit denen der Künstler seinen Ruf als Pionier der kinetischen Kunst begründete. Ausgehend von historischen Fotografien seines Ateliers in der Impasse Ronsin werden die Werke, darunter mehrere Leihgaben, in einer wandfüllenden Hängung präsentiert. Im anschließenden Raum sind alle frühen, dezidiert als Klangmaschinen konzipierten Werke des Künstlers versammelt: Es sind die beiden 1955 entstandenen Reliefs meta- mecanique sonore I und II, Ersteres eine Leihgabe des Kunsthaus Zürich, sowie Mesetoiles – Concert pour sept peintures (1957 – 1959). Die interaktive Arbeit Mesetoiles wird gemäß jüngerer Forschungsergebnisse auf einer schwarzen Wand gezeigt, so wie die Reliefs vom Künstler in der Galerie Iris Clert (1958) und der Galerie Schmela (1959) präsentiert wurden. Weitere Themen, die aus dieser Periode aufgegriffen werden, sind die Erfindung der Meta-MaticZeichenmaschinen und deren Weiterführung mit den Skulpturen von Le Transport sowie Tinguelys Zusammenarbeit mit Yves Klein und die Aktivitäten des Künstlers im Rheinland.
Im zweiten Geschoss werden in drei Galerieräumen die zentralen Schaffensperioden der 1960er Jahre fokussiert. Der Rundgang setzt sich hier fort mit drei Filmen, die Tinguelys Zerstörungsaktionen Anfang der 1960er Jahren zeigen. In einer immersiven Präsentation werden die Filme auf von der Decke hängende Leinwände projiziert. Es folgt ein Raum, der Tinguelys Werken aus Schrott gewidmet ist, und sodann im Kontrast dazu eine Präsentation seiner Serie von schwarzen Skulpturen, die ab der Mitte der 1960er Jahre entstanden. Durch die schwarze Bemalung treten die einzelnen Bestandteile der Skulpturen stärker in den Hintergrund zu Gunsten der unterschiedlichen – mal eleganten und leichten, mal schweren und martialischen – Bewegungsformen der Maschinen. Der letzte Saal ist ganz für das große Plateau agriculturel vorgesehen, einem zentralen Werk von 1978, das aus Landwirtschaftsmaschinen besteht.
Im Untergeschoss des Museums wird schließlich das späte Werk des Künstlers von den 1970er Jahren bis 1990 in den Blick genommen. Zu sehen ist hier eine Gruppe von kinetischen Skulpturen aus der Serie der Debri(s)collages (1974), eine augenzwinkernde Hommage Tinguelys an den „Homo-do-it-yourself“ mit Arbeiten, die Bohrmaschinen und grellfarbige Staubwedel kombinieren. Zwei Werke dieser Serie aus der Sammlung des Museum Tinguely konnten durch zwei private Leihgaben zu einer Gruppe ergänzt werden. Weiterhin zu sehen ist das Werk Pit-Stop (1984), das Tinguely in Fabrikhallen von Renault schuf, und das ebenfalls als Auftragswerk für Renault entstandene Relief Incitation a la Creation (1981). Einen weiteren Schwerpunkt bilden Tinguelys Entwürfe für die Gestaltung der Wettsteinbrücke in Basel. Seine Modelle für das sogenannte Geisterschiff stehen im Zentrum dieses Saals und werden durch Plakate und Zeichnungen des Künstlers sowie Archivmaterial ergänzt. Die Entwürfe und die Rolle Tinguelys bei diesem zentralen städtebaulichen Projekt in Basel um 1990 werden hierbei historisch aufgearbeitet, und die in der Stadt nur wenig bekannten Entwürfe einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Den krönenden Abschluss in diesem Geschoss bildet das Cafe Kyoto (1987), ein Spiegelkabinett aus Tischen, Stühlen und bunten, bewegten Lampen. Zudem können im Museum zwei große und permanent installierte Skulpturen des Künstlers besichtigt werden: die begehbare große Meta-Maxi-Maxi-Utopia (1987) und der Mengele-Totentanz (1986).
Ende letzten Jahres konnte die Sammlung um zwei Neuankäufe von Skulpturen ergänzt werden. La Tour (Berner Zytglogge) und La Jalousie I, beide stammen aus dem Jahr 1960. Die Werke sind zentralen Werkphasen zuzuordnen. Sie entstanden für eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern. Es handelte sich um Tinguelys erste große Schau in der Schweiz. Tinguely, der bis dahin vor allem in Paris und in New York mit seinen Werken zu sehen war, stellte dort zusammen mit Bernhard Luginbühl und Norbert Kricke aus. Mit der turmartigen Konstruktion La Tour (Berner Zytglogge) bezog er sich auf das bekannte, mittelalterliche Wahrzeichen der Stadt Bern, die Zytglogge (Zeitglockenturm), das mit seiner astronomischen Uhr, dem Figurenspiel und seiner Mechanik die Menschen ebenso in den Bann zieht wie die kinetischen Skulpturen Tinguelys. Anders als bei der präzisen Uhrenmechanik, handelt es sich bei La Tour um eine windschiefe und wacklige Konstruktion, die, wenn sie in Bewegung gesetzt wird, quietscht und klackert. Ab 1960 hatte Tinguely damit begonnen Maschinenskulpturen aus ausrangierten Alltagsmaterialien zu fertigen. Die Objekte für seine Assemblagen aus Zivilisationsmüll stammten häufig vom Schrottplatz. „Ich liebe die Wiedergeburt gefundener Objekte, sie erneut zu erfinden, indem ich ihnen in einer neuen Dimension eine neue Existenzform gebe“, erläuterte er seinen Ansatz. Einen wichtigen Einfluss auf die Verwendung von Schrott als Material für seine kinetischen Skulpturen hatte auch die Begegnung mit den Künstlern Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Richard Stankiewicz Anfang des Jahres 1960 in New York.
Der tanzende Vorhang La Jalousie I besteht aus auf Fäden aufgereihten Bambusstücken mit schwarzer Bemalung. Ein Motor bewegt den Vorhang hin und her, sodass dieser je nach Geschwindigkeit fröhlich hin und her „swingt“ oder gar ekstatisch zu tanzen scheint. Die Arbeit zeichnet sich vor allem durch die besondere Bewegung aus. Sie ist äußerst rhythmisch. La Jalousie I stellt unter den Werken dieser Zeit eine Ausnahme dar, denn obwohl Tinguely Anfang der 1960er Jahre auf eine Bemalung der Teile seiner Skulpturen verzichtete, entschied er sich, dieses Werk schwarz zu fassen und erhöhte so den Kontrast zwischen dem Vorhang und der weißen Wand. Die Bewegung rückt dadurch stärker in den Mittelpunkt. La Jalousie I weist damit schon voraus auf die sogenannten schwarzen Skulpturen, die Tinguely vermehrt ab 1963 schuf und mit denen er sich durch die schwarze Bemalung bewusst von seinen Assemblagen aus Schrott und dem Nouveau Realisme abgrenzte.
Parallel zur Dauerausstellung zeigt das Museum Tinguely auch laufend Ausstellungen von Gegenwartskünstler*innen. So werden seit dem 1. Dezember 2020 Werke der in Berlin lebenden multimedial arbeitenden Künstlerin Katja Aufleger in der Ausstellung „GONE“ gezeigt. Aufleger sucht in ihren Werken nach der Gleichzeitigkeit von Möglichkeiten, um existenzielle Fragen zu stellen – skulptural wie filmisch, visuell wie auditiv. Die verführerische Ästhetik ihrer Arbeiten überrascht mit unerwarteten, gefährlichen oder tiefgründigen Wendungen. Solche Verknüpfungen entstehen zum Beispiel, wenn Aufleger eine gläserne Pendelkonstruktion in den Ausstellungsraum bringt, die die Betrachtenden zu dem Gedanken anregt, ebensolche in Bewegung setzen zu wollen. Neben der offensichtlichen Zerbrechlichkeit der Glaskolben befinden sich die Bestandteile von Nitroglycerin in der somit explosiven Installation im Museum. Mit solchen Ambivalenzen übt die Künstlerin Institutionskritik, hinterfragt Machtstrukturen und Systeme. In Auflegers Welt wird einem*einer erst auf den zweiten Blick die Flüchtigkeit eines Moments und seiner Vielschichtigkeit bewusst.
Museum Tinguely
Dienstag bis Sonntag 11–18 Uhr
Paul Sacher-Anlage 2, CH-4002 Basel
www.tinguely.ch