FRIEDENSREICH HUNDERTWASSER
Als Hundertwasser im Jahr 1999 auf einem Blatt Papier die Worte „Beauty is a panacea – Schönheit ist ein Allheilmittel“ notierte, hatte er das klarste und einfachste „Schlüsselschlagwort“ gefunden für sein Ziel und seinen Anspruch, den er mit seiner Malerei, seiner Architektur, seinem Engagement für ein Leben in Harmonie mit der Natur und der individuellen Kreativität verfolgte. Welche Wertmaßstäbe liegen Hundertwassers Begriff der „Schönheit“ zu Grunde und auf welchen Wegen kamen sie zustande? Stellen wir uns den jungen Friedrich Stowasser vor, der gerade einige Monate auf der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Robin Christian Andersen studiert hatte und unbefriedigt von dessen Lehrprogramm und der Kunstausübung auf der Akademie aufbrach nach Italien, das seit jeher eine magische Anziehungskraft auf junge Künstler ausgeübt hatte und ihnen die Augen für die Kunst öffnete. 1949 begegnete er in Italien den Künstlern René Brô und Bernard Rousseau und reiste mit ihnen nach Paris, dem Zentrum der künstlerischen Avantgarde. Brô schien ihm ein Bahnbrecher aus einer besseren und schöneren Welt. „Zur höchsten Stufe durch Schönheit hinzugelangen war keine Utopie mehr, sondern ein Weg, ein durchaus reeller und verwirklichbarer Vorgang“, schrieb er 1996 in einem Text über Brô, rückblickend auf die Faszination, die dessen piktoraler, philosophischer und literarischer Einfallsreichtum damals auf ihn ausübte.
Ausgehend von dieser Begegnung, dem Erlebnis der Kunst Italiens, aber auch unter dem Eindruck bedeutender Maler wie Vincent van Gogh, Paul Klee, Gustav Klimt und vor allem Egon Schiele entfaltete der Künstler, der sich nun Hundertwasser nannte, in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre seine koloristische Sensitivität, seine zeichnerische Ausdruckskraft und unvergleichliche Bildsprache. Was ihm zum Maßstab seiner Malerei wurde, formulierte er das erste Mal 1950 in einem Text, den er später unter dem Titel „Ich liebe Schiele“ publizierte: „Eine Malerei von dir ist nur dann gut, wenn sie mehr sagen kann als die Zeichnungen der Kinder, gleich schön ist wie die Formen der gepflügten Felder und wie die Menschen und Mädchen, die dir entgegengehen und fast so schön wie die Blätter der Bäume und Gräser, wie die Blumen.“ Der Vergleich zwischen den Ausformungen der Kunst und jener der Natur wird Hundertwassers theoretischen und praktischen Ansatz Zeit seines Lebens prägen. Die Schönheit der Natur, ihre Harmonie und ihre Ordnung sind beispielgebend. Die Pflanzen sind seine wahren Lehrmeister. Das Entstehen des Bildes ist vergleichbar mit den Wachstumsvorgängen und dem Werden der Natur. In einem Brief an einen Wiener Kritiker schreibt er 1954 über seine neuesten Arbeiten: „… es sind … Schöpfungen, so wie eine Blume und ein Baum Schöpfungen sind. Tatsächlich gehe ich nach Beendigung des Bildes in den Garten und vergleiche mein Bild mit den Pflanzen, oder, wenn kein Garten da ist, mit den Sprüngen im Trottoir…“.
Ab den 1970er-Jahren spricht er von einer „vegetativen Malerei“, einer Malerei, die sich an den Wachstums- und Schöpfungsprozessen der Natur orientiert und diese zum Vorbild nimmt. Das Organische ist für ihn die schöne Form. Der Vorstellung vom naturhaften, langsamen, spiraloiden Werden, vom Wachsen, aber auch vom Vergehen entspricht das Motiv der Spirale, das Hundertwasser 1953 in seine Bildwelt aufnimmt. Angeregt wird er durch Spiralbilder schizophrener Patienten des Hôpital Saint Anne in Paris, die er in dem französischen Dokumentarfilm „Images de la Folie“ sieht. Wie schon das erste Spiralbild in Öl auf Holz 169 Das Blut das im Kreis fließt und ich habe ein Fahrrad verdeutlicht, ist Hundertwassers Spirale keine geometrische Spirale, sie ist eine biologische, hat Ausbuchtungen, Verengungen, Einschlüsse und Partikel, die ihren Verlauf zu einem unregelmäßigem Mäandern bringen. Sie wächst vegetativ und entfaltet eine unerhörte Sogwirkung von außen nach innen und umgekehrt. Die Spirale ist in Hundertwassers Bildwelt Symbol des Transzendenten und entfaltet auch im Spätwerk ihre volle Kraft, wie das Werk 937 Unendlichkeit ganz nahe beweist.
Man sollte nicht auf die Zeit schauen, sondern auf die Schönheit. Die Schönheit ist zeitlos. Das Raffen der Zeit hat den Menschen unfrei gemacht. Der Fortschritt liegt in der Schönheit.
Hundertwasser schlägt in einem Kommentar zu diesem Werk eine Brücke zu den großen und berühmten Spiralbildern der 1950er-Jahre wie 224 Der große Weg oder 241 Stadt von jenseits der Sonne aus gesehen, und spricht selbst von dem Bemühen, „durchzustoßen“ in eine andere Dimension. Die besondere Wirkmächtigkeit von Hundertwassers Malerei entspringt der unvergleichlichen Art und Verwendung der Farben. Der Kunsthistoriker Robert Fleck bezeichnet Hundertwasser als den Erfinder einer neuen Malerei, die sich modernster Farben und Malmittel bedient und zugleich auf die ältesten Pigment-Rezepturen zurückgreift. Nicht unwesentlich scheint in diesem Zusammenhang der Austausch mit Yves Klein im Paris der 1950er- Jahre gewesen zu sein, vor allem wenn man den intensiven Ton der Farbe Blau im Werk der beiden Künstler vergleicht. Theoretisch definierte Hundertwasser in den 1950er-Jahren seine Malweise als „Transautomatismus“ und verstand darunter die Überwindung des tachistischen Automatismus. Sein Farbauftrag geschieht nicht wie bei anderen Künstlern der informellen Abstraktion gestisch, impulsiv, unbewusst, sondern in seiner Malerei entstehen kontemplativ, langsam reflektorisch pulsierende optische Effekte in geradezu psychedelischen Farbwirkungen, wie sie insbesondere in den Werken der 1960er-Jahre hervortreten. Das Mixed Media Werk 604 Autofahrer in der Nacht zeigt diese vibrierende Farbigkeit und ist auch ein Beispiel für Hundertwassers einzigartige Bilderfindungen, die als abstrakte Liniengefüge und Farbflächen, als eine zelluläre Ornamentik wahrnehmbar sind und zugleich auch Figurales erkennen lassen. Möglicherweise braucht es einen zweiten Blick, um den aus einem Fensterausschnitt ragenden Kopf im Dreiviertelprofil zu erkennen, dessen Augen wie von Scheinwerfern des Gegenverkehrs geblendet hell aufstrahlen.
Die Hinwendung zum Organischen, dem die Schönheit des Kreatürlichen innewohnt, bedingt die Ablehnung der vom Menschen gemachten geometrisch geraden Linie, drastisch artikuliert in einem Text für seine erste Ausstellung in der Galerie Facchetti 1954 in Paris: „Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit“. Den Gedanken führt er in Manifesten und Reden zur Architektur weiter, beispielsweise im „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“, vorgetragen 1958 anlässlich eines internationalen Kunstgesprächs der Wiener Galerie St. Stephan im Kloster Seckau in der Steiermark. Er verurteilt darin die Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen Architektur und die gerade Linie als gottlos, unmoralisch und nicht schöpferisch. Er postuliert das Recht jedes Einzelnen, sich aus seinem Fenster zu beugen und – soweit seine Arme reichen – das Mauerwerk zu bemalen.
Seit den 1950er-Jahren protestierte Hundertwasser gegen die Hässlichkeit und unmenschliche Bauweise und plädierte für Schönheit, für die Wiedergewinnung der Menschenwürde in der Architektur. Das Glatte und das Monochrome ist für ihn ein Irrweg, das gleichförmige Rastersystem stellt sich gegen unseren Lebensnerv. Die monotone Reihung geometrisch gerader Linien bedeutet für ihn Sterilität und Sterilität bedeutet Tod. Schönheit und Lebensfreude gewinnt der Mensch wesentlich aus seinem Zusammenleben mit einem Stück hauseigener Natur. Schon in seiner 1968 im Presseclub Concordia vorgetragenen Rede „Los von Loos – Gesetz für individuelle Bauveränderungen oder Architektur-Boykott- Manifest“ fordert er, dass das Erdstück, das beim Bau eines Hauses verloren geht, auf das Dach verlegt wird. Eine dicke Erdschicht soll die Dächer bedecken, damit riesige Bäume wachsen können. Im Text „Verwaldung der Städte“ von 1971 schreibt er: „Die Waagrechte gehört der Natur, die Senkrechte dem Menschen. Also, alles was waagrecht unter freiem Himmel ist, gehört der Vegetation, nur das, was senkrecht ist, kann der Mensch für sich beanspruchen. (…) Freie Natur muss überall dort wachsen, wo im Winter der Schnee hinfällt.“
In diesem Text entwickelt er die konkrete Vorstellung, Vegetationsschichten in Stockwerken anzulegen. Kurz darauf entstehen erste Architekturmodelle wie das Hoch- Wiesen-Haus, das Terrassenhaus, das Spiralhaus, Grubenhäuser und das Augenschlitzhaus, in denen dieser Grundsatz umgesetzt ist und die Entfremdung des Menschen von der Natur aufgehoben wird. Nicht Oberflächengestaltung ist also das Wesen seiner Architektur, sondern die Einbeziehung der Natur. Seine Beispiele einer natur- und menschengerechteren Architektur, die er beginnend mit dem Hundertwasser-Haus in Wien ab den 1980er-Jahren realisieren kann, sind eine Revolte der Schönheit gegen den Rationalismus in der Architektur.
Schönheit ist für ihn das Konzept der Schönheitshindernisse, der nicht-reglementierten Unregelmäßigkeiten, der Vielfalt, des Formen- und Farbenreichtums. Es ist die Dachbewaldung seiner Häuser, die Stille gibt, Reinheit, Luft, Schönheit, Geborgenheit und optimalen Schutz. Nicht nur Dachbewaldung, auch die Begrünung der Fassaden fordert Hundertwasser und wird mit seinem Konzept des „Baummieters“ zum Vorläufer der Vertikalbegrünung der Architektur. Der Baummieter ist ein Schönheitsspender. Im Zusammenwirken von Natur und Architektur sieht Hundertwasser die Grundbedingung der Schönheit der Architektur, meint damit aber nicht nur die Bepflanzung, sondern auch das Einwirken der Natur im Alterungsprozess eines Gebäudes, wenn sich Regenbahnen an der Fassade abbilden, Unregelmäßigkeiten schaffen und sich Spontanvegetation ansiedelt. Hundertwasser kritisierte zu Recht die Zersiedlung der Landschaft, die stetig voranschreitende Versiegelung von Grünflächen, den Flächenfraß durch Industrie- und Gewerbebetriebe und sprach von der optischen Umweltverschmutzung, die die Seele des Menschen tötet. Aus diesem Grund übernahm er die Gestaltung von Industriebauten wie das Fernwärmewerk Spittelau oder die Müllverbrennungsanlage in Osaka, um diesen Bauten ihre verloren gegangene Schönheit wiederzugeben. Seine Wohnbauten für Bad Soden, Plochingen, Darmstadt und Magdeburg zeigen beispielhaft, wie der Mensch, eingebettet in die Natur, Geborgenheit und Lebensfreude finden kann.
Hundertwasser war überzeugt, dass der enthusiastische Elan des Menschen sich mit dem Wirken der Natur vereinen muss, um Schönheit hervorzubringen. Es war daher nur logisch, dass er sich in einer Zeit, in der die Grünbewegung gerade erst im Entstehen war, für die Erhaltung unseres natürlichen Lebensraumes einsetzte und ein Leben in Harmonie mit den Gesetzen der Natur forderte. Im Zentrum von Hundertwassers ökologischem Handeln stand die Idee, der Natur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, durch Baumpflanz- und Begrünungsaktionen, die Wiederherstellung natürlicher Kreisläufe (durch Humustoilette und Pflanzenkläranlagen), den Schutz des Wassers und den Kampf für eine abfallfreie Gesellschaft. Hundertwasser verstand es als die Aufgabe des Künstlers „diese Welt zu erhalten, zu verbessern, was falsch gemacht wurde, zu verschönern, was hässlich gemacht wurde, zu warnen mit all seiner musischen und seherischen Macht“ (ein Zitat aus: Die falsche Kunst, 1981/1983). Der Künstler ist ein Mittler zwischen Mensch und Natur, er kann Tore aufstoßen in eine andere, bessere, schönere Welt, in eine echtere Welt.
In einem Tonbandbrief an seine Studenten an der Akademie der bildenden Künste verdeutlicht er den Auftrag der Kunst: „Die Kunst muss einen Ausweg finden in eine schönere Welt. Die schönen Künste müssen schön sein, ansonsten können sie nicht existieren. Wenn die schönen Künste hässlich sind, so ist es keine Kunst. Eine schöne Kunst kann sehr wohl und muss sehr wohl kritisch und hart sein und Blut zeigen, aber sie muss gleichzeitig Substanz haben und einen gangbaren Weg aufzeigen, den alle beschreiten können.“ Als eine erste Kompilation aller Schriften Hundertwassers erschien, herausgegeben von Walter Schurian 1983, erhielt sie den Titel „Schöne Wege – Gedanken über Kunst und Leben“.
Die „schönen Wege“ deuten darauf hin, einem veränderten Bewusstsein und einem veränderten Leben Ausdruck zu geben, zu überleben angesichts der ökologischen und gesellschaftlichen Gefahren und der damit einhergehenden Ängste, angesichts der Verachtung der Schönheit, der Profitgier und des Gierens nach kurzfristigen Vorteilen, die die Menschheit an den Abgrund führen. Insbesondere in den Zeiten der Gefahren, der Verirrungen und der Angst ist es die Wahrnehmung des Schönen, die unsere Sichtweisen bereichert und den Geist entspannt. Für Hundertwasser ist das Schöne die wesentliche Seite der Wirklichkeit.