Bombenangriff auf die Sinne

Paul Renner

Kalbs­kopf im Gan­zen, Frosch­schen­kel in Umi­do, Herm­aphro­di­ten auf Sauerampfer…so span­nend anders liest sich mit­un­ter die Idee des Gesamt­kunst­werks des Künst­lers Paul Ren­ner, der durch sein „Thea­trum Ana­to­mic­um“ und das „Ver­bo­te­ne Wirts­haus“ inter­na­tio­nal Auf­se­hen erreg­te. Der Vor­arl­ber­ger ist im Bre­gen­zer­wald, in der Nähe von Nea­pel und in der Welt zuhau­se und sieht das Rei­sen an sich als einen wesent­li­chen Bei­trag zu sei­ner Kunst: „Es geht nicht nur um kochen, malen, Musik schrei­ben, Skulp­tu­ren bau­en, son­dern es geht auch ums Rei­sen, denn du musst Ein­drü­cke sam­meln, um dei­ne Vor­stel­lungs­kraft aus­zu­schöp­fen.

Es geht nicht nur um kochen, malen, Musik schrei­ben, Skulp­tu­ren bau­en, son­dern es geht auch ums Rei­sen, denn du musst Ein­drü­cke sam­meln, um dei­ne Vor­stel­lungs­kraft auszuschöpfen. 

Mit sei­nem „The Hell Fire Tou­ring Club“ hat er 20 mys­ti­sche Orte Euro­pas bereist und Erleb­nis­se genos­sen, die ihn erschro­cken, ergrif­fen und sei­ne eige­nen Gren­zen über­schrei­ten lie­ßen, aber genau das ist für Paul Ren­ner die eigent­li­che Auf­ga­be der Kunst. „Unse­re Abläu­fe sind so auto­ma­ti­siert gesteu­ert, dass wir sie nur durch Erschüt­te­rung über die Kunst wie­der regu­lie­ren kön­nen.“ Ren­ners Inter­es­se wird dann erst rich­tig groß, wenn er etwas nicht ver­steht. Den Weg des Künst­lers zu beschrei­ten lös­te ein star­ker Pro­test gegen sei­ne Eltern aus, die bei­de extre­me Wur­zeln hat­ten: „Mei­ne Mut­ter war Nazi, Oberg­aufüh­re­rin und mein Vater war im Wider­stand. Die­se irre Geschich­te habe ich gespürt. Bei­de sind bis zum Tode ihrer Gesin­nung treu geblie­ben. Den­noch haben sie sich nie getrennt, gestrit­ten sehr wohl, wenn es um poli­ti­sche The­men ging, aber sonst haben sie sich geliebt.

Sei­ne drei Inspi­ra­to­ren waren Her­mann Nit­sch, Tade­usz Kan­tor und Sun Ra. Drei, die ihn in den 70ern um eine neue Welt der Vor­stel­lung berei­cher­ten, die er ver­ste­hen und von der er mehr erfah­ren woll­te. Bei einem den Paul Ren­ner selbst als Urva­ter des Punk bezeich­net, Her­mann Nit­sch, woll­te er schließ­lich alles über den Exzess, den Rausch und die Kunst ler­nen, wes­halb er über 10 Jah­re lang als Assis­tent bei Nit­sch tätig war. Schon damals in den Aktio­nen ver­trau­te Nit­sch, was die Koch­kunst anging, nur dem Paul. „Da mei­ne Groß­mutter ein Wirts­haus hat­te, wur­de bei mir zuhau­se immer viel gekocht. Die Kuli­na­rik spiel­te beim Thea­ter vom Nit­sch auch eine Rol­le und da ich kochen eben konn­te, habe ich für den Nit­sch gekocht. Ich habe gemerkt, dass die­se Spei­sen, die Gerü­che, der Geschmack Teil der Akti­on sind, Teil sei­ner Par­ti­tur. Das hat mich stolz gemacht.“ Als Ren­ner die bei­den Oxford-Pro­fes­so­ren Med­lar Lucan und Duri­an Grey und ihr „The Deca­dent Cook­book“ in den 90er Jah­ren ken­nen­lern­te, wur­de das für ihn zur Bibel. Die bei­den waren rei­ne Theo­re­ti­ker. Damit fand sich Paul Ren­ner tief in der Kunst, „denn das, was man nicht wirk­lich machen kann, das sam­pelt man, das ist eben die Vor­stel­lungs­welt. Die treibt dich vor­an für Ideen.“

Sein aktu­el­les kuli­na­ri­sches Pro­jekt nennt sich The FAKE, des­halb, weil es dar­um geht aus­zu­pro­bie­ren, wie man Geschmack simu­liert, den man nicht kennt. Als Bei­spiel nennt er die fal­sche Schild­krö­ten­sup­pe vom Koch­buch sei­ner Groß­mutter. Gemein­sam mit einem Wie­ner Koch kre­iert er Spei­sen, von denen die bei­den den­ken, wie sie schme­cken könn­ten. Hier geht es auch um eine gesell­schafts­po­li­ti­sche Mes­sa­ge: „Der Kon­ter auf die­se ver­blö­den­de Lebens­mit­tel­in­dus­trie und die Gour­met­ma­ga­zi­ne, die voll von Blöd­sinn sind, wo man den Leu­ten ver­sucht auf­zu­drü­cken was gut ist und was nicht und wie bestimm­te Wei­ne und Gerich­te schme­cken sol­len. Mir geht es hin­ge­gen um den Genuss und nicht um die­se lächer­li­che Erklä­rung. Jetzt neh­men wir das, was die ande­ren faken.“ Paul Ren­ner ver­wen­det in sei­ner Kunst unter­schied­lichs­te Mate­ria­li­en und Tech­ni­ken. So über­zieht er z. B. bestehen­de Beton­wän­de mit Bie­nen­wa­ben. „Wenn ich von der Bie­nen­wa­be spre­che, dann spre­che ich vom Sozi­al­staat. Das ist das Wort, das man am meis­ten mit den Füßen tritt, was die Poli­tik für sich ver­ein­nahmt und in den Dreck zieht.“

La Cuc­ca­gna 2013, Acca­de­mia di Bre­ra Milano
The Hell Fire Tou­ring Club 2002 mit Med­lar Lucan & Duri­an Gray

Paul Ren­ners Ide­al­vor­stel­lung ist es, durch sein anar­chi­sches, sub­ver­si­ves und expe­ri­men­tel­les Han­deln alle Sin­ne gleich­zei­tig zu bom­bar­die­ren, einen Schock aus­zu­lö­sen. Er lehnt sich hier stark an die Phi­lo­so­phie des Schrift­stel­lers Oswald Wie­ner an. Der Mensch ent­schei­det nicht, was er will, son­dern durch inne­re Mecha­nis­men wird ent­schie­den. Die­se Mecha­nis­men und deren Ablauf inter­es­sie­ren Paul Ren­ner und füh­ren zu einem Spiel mit der Meta­phy­sik: „Ich bewe­ge mich noch auf dem Ter­rain die vier­te Dimen­si­on zu rea­li­sie­ren, aber tief in mir inter­es­siert mich das Meta­phy­si­sche wo es viel­leicht spi­ri­tu­ell wird.“ Ange­spro­chen auf die heu­ti­ge Kunst­ver­mitt­lung ver­misst Ren­ner das mög­li­che Emp­fin­den, dass Kunst die Stär­ke hat uns so zu ver­än­dern, dass wir nicht mehr kon­gru­ent mit der Gesell­schaft sind: Wir mei­nen, dass Emp­fin­den etwas ist, das man als Kon­zept nach­le­sen kann. Je ver­schüt­te­ter Emp­fin­den ist, des­to schwie­ri­ger ist es, die Gesell­schaft als sol­che anzu­neh­men. Das Ziel mei­ner Kunst ist die Trans­for­ma­ti­on von Destruk­ti­on in posi­ti­ve Energie.

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