Poetischer Akt in Form von Liebe

Mustafa Sabbagh

Er lässt sei­nen Blick nie an den all­seits bekann­ten Orten ver­wei­len, er sucht lie­ber die hin­ters­te Linie, die am Hori­zont ein­gra­viert ist. Er hin­ter­fragt Dun­kel­heit und Licht, Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Unwohl­sein, eth­ni­sche und sexu­el­le Viel­falt, Bewuss­tes und Unbe­wuss­tes. Das Reper­toire von Mus­ta­fa Sab­bagh (Amman, Jor­da­ni­en, 1961) ist facet­ten­reich und ent­wi­ckelt sich zu einer kom­ple­xen Hand­lung: Die Male­rei der Anfän­ge, der lan­ge Weg der Foto­gra­fie, Instal­la­tio­nen, Vide­os und schließ­lich die tast­ba­re, mate­ri­el­le Erfah­rung der Skulp­tu­ren. Ver­schie­den­ar­ti­ge Ver­se eines regel­rech­ten poe­ti­schen Akts, das Ergeb­nis eines unauf­halt­sa­men Flus­ses krea­ti­ver Ener­gie, der sich in ein Zei­chen ver­wan­deln kann, ein Zei­chen, das sich selbst durch­dringt, eine noma­di­sche Spur, die sich wei­gert, in einem vor­her fest­ge­leg­ten Alpha­bet kris­tal­li­siert zu bleiben.

Er ist in einer kul­ti­vier­ten und auf­ge­schlos­se­nen Fami­lie gebo­ren und auf­ge­wach­sen, „und dies ist das größ­te Pri­vi­leg, nicht mit Geld gebo­ren zu wer­den“ – so bekennt er. Von Anfang an ist er gezwun­gen, ver­schie­de­ne Wel­ten neben­ein­an­der bestehen zu las­sen: die des paläs­ti­nen­si­schen Vaters, der bereits Anfang der sech­zi­ger Jah­re zeit­ge­nös­si­sche Kunst sam­mel­te, und die sei­ner Mut­ter, die aus Ita­li­en stammt. Eine Begeg­nung unglei­cher Kul­tu­ren, die ihn dazu drän­gen, den Kon­flikt als Impuls­ge­ber und nicht nur als nega­ti­ven Weg­be­glei­ter zu begrei­fen. Die den Weg einer künst­le­ri­schen Kar­rie­re mar­kie­ren, die sich immer auf den Moment der Eröff­nung aus­rich­tet, auf einen Akt der Trans­pa­renz, der dem Bild ermög­licht, sich von der umschlie­ßen­den Hül­le zu befrei­en und in sei­ner gesam­ten Aus­drucks­kraft zu ent­fal­ten. Nach sei­nem Archi­tek­tur­stu­di­um an der IUAV in Vene­dig gilt Sab­bagh heu­te als eine der maß­geb­lichs­ten Stim­men auf dem Gebiet der zeit­ge­nös­si­schen Foto­gra­fie. Er zog nach Lon­don, wo er an der Sei­te des gro­ßen ame­ri­ka­ni­schen Foto­gra­fen und Por­trä­tis­ten Richard Ave­don als des­sen Assis­tent arbei­te­te, und wur­de Dozent am Cen­tral Saint Mar­tins Col­lege of Art and Design. Die Foto­gra­fie ist jedoch eher eine Kom­pli­zen­schafts­ver­ein­ba­rung, die ihre Wur­zeln weit in der Ver­gan­gen­heit hat, in der Kind­heit, in jenem impul­si­ven und spon­ta­nen Kind, das die Pola­roid-Tech­nik als eine Form des Spiels erleb­te. Die­se kind­li­che Lie­be hat sich im Lau­fe der Jah­re in eine anhal­ten­de Lei­den­schaft ver­wan­delt und auch im Erwach­se­nen­le­ben nicht nach­ge­las­sen. Sie geht auch durch den Ein­fluss ande­rer Belan­ge, durch ein gewis­ses Ratio­na­li­sie­rungs­be­dürf­nis nicht ver­lo­ren. Was bleibt, ist eine freie Form, die Bil­der erzeugt, obwohl sie in ihrer sen­so­ri­schen Qua­li­tät erwei­tert wur­de; Bil­der, in denen sich eine leben­di­ge Ener­gie und Kraft ver­dich­tet, die nie­mals von der Ver­wen­dung von Kör­pern, von dem Adre­na­lin, das sie aus­strah­len, von Eros und von ihrem vol­len Bewusst­sein getrennt sind.

Wenn der Unter­text die­se Dring­lich­keit nach Frei­heit ist, dann regis­triert die Über­lie­fe­rung der frü­hen Foto­gra­fie – der Mode­fo­to­gra­fie, die ihn inter­na­tio­nal bekannt gemacht hat – sofort ihre Unge­duld mit bestimm­ten vor­herr­schen­den Dog­men. Er lehnt die Abfla­chung im Umkreis des Gewohn­ten ab, expe­ri­men­tiert das Unbe­kann­te, geht „ande­re“ Wege. Er ver­sucht, den Abstand zwi­schen dem gol­de­nen Käfig der Mode­welt und dem sich wan­deln­den Umkreis der rea­len Welt zu ver­kür­zen und so die Enge in einer Spra­che aus Homo­lo­ga­tio­nen und Abs­trak­tio­nen zu ver­mei­den. „Ich erin­ne­re mich, dass ich damals stän­dig mit den Redak­teu­rin­nen zu kämp­fen hat­te, weil ich ihnen erklä­ren muss­te, dass die Welt in jenem Abschnitt der Geschich­te – also in den Neun­zi­ger­jah­ren – viel wei­ter ent­wi­ckelt war, als sie dach­ten. Am Ende war nicht ich der­je­ni­ge, der die Mode auf­ge­ge­ben hat, es war ein­fach so, dass sich die Mode aus mei­nen Gedan­ken ent­fern­te. Denn die­se Art der Foto­gra­fie ist lei­der nur noch ein funk­tio­na­les Werk­zeug für den Ver­kauf. Ich respek­tie­re das, aber ich möch­te nicht dar­an teil­ha­ben.“ Sei­ne künst­le­ri­sche Suche wen­det sich ab 2012 einer bei­spiel­lo­sen expres­si­ven und kom­mu­ni­ka­ti­ven Welt zu. Es ist das hart­nä­cki­ge Schwarz der berühm­ten Foto­se­rie Ono­re al Nero [2015]: das Schwarz, das zur völ­lig abso­lu­ten Inten­si­vie­rung ten­diert, bei der die Ober­flä­che schein­bar von tel­luri­schen Schwin­gun­gen, rei­ßen­den Schü­ben und Kräf­ten mit flie­ßen­dem Cha­rak­ter durch­zo­gen wird. Wo Men­schen die­je­ni­gen sind, von denen Pla­ton sag­te: die Bei­ne und der Hals in Ket­ten gezwängt, in einer unter­ir­di­schen Woh­nung in Form einer Höh­le, die den Zugang zum Licht geöff­net hat; fern von ihnen, dar­über und dahin­ter, leuch­tet ein Feuerschein.

Die Arbeit mit Schwarz ent­springt eigent­lich dem Mythos von Pla­tons Höh­le. Wenn du nicht selbst in der Höh­le bist, hast du nicht die Mög­lich­keit, das Licht zu sehen, denn wenn du in das Licht ein­tauchst, ist alles, was du siehst, nur die Dun­kel­heit. Des­halb mache ich lie­ber das Gegen­teil: Ich zie­he eine hel­le Per­spek­ti­ve vor, kei­ne dunk­le Per­spek­ti­ve. In Wirk­lich­keit ist das mit Schwarz eine sehr rea­lis­ti­sche Arbeit; ich wür­de sie sogar als cal­vi­nis­tisch bezeich­nen. Und außer­dem ist Schwarz eine magi­sche Far­be, eine Magie, über die ich gar nicht nach­den­ken möchte.“

In der Ent­hül­lung die­ser Inten­si­tät, in der Dicht­heit des Schwar­zen, offen­bart sich die Inten­si­tät der Schön­heit auch als eine Art ästhe­ti­scher „Gegen­ka­non“, der sich von Kon­tras­ten und Trä­nen, von Unru­he und Meta­mor­pho­se, von Wun­den und gezeich­ne­ter Haut ernährt. Denn für Sab­bagh besteht Schön­heit nicht aus Zah­len oder Maßen oder gar fes­ten Regeln. Wah­re Schön­heit, nicht nur die kör­per­li­che, son­dern auch die intel­lek­tu­el­le und im wei­te­ren Sin­ne die einer Gesell­schaft, ver­letzt und ist unan­ge­nehm; sie ist ein stö­ren­des Ele­ment, weil sie Kon­ta­mi­na­ti­on, Aggre­ga­ti­on, Aben­teu­er und Rei­bung ist. Sie ist der Aus­tausch von Gerü­chen und Schweiß. Sie ist eine Haut, deren Lini­en nicht mit Tin­te, son­dern mit Leben gezeich­net sind. Sie ist im Grun­de eine Unvollkommenheit.

Aber sie ist auch Unschuld, die von Can­di­do [2016], des Kin­des, das in sei­ner Brust ein rei­nes Herz ver­wahrt, das noch nicht von der Bar­ba­rei des Gewis­sens ver­un­rei­nigt wur­de. Schön­heit ist auch in sei­nen Hän­den ver­bor­gen, unab­hän­gig davon, womit sie befleckt wur­den, mit Tem­pe­ra oder Grau­sam­kei­ten; sie ist ver­bor­gen in dem Kind, das kein Schuld­ge­fühl kennt. „Ich bin für die Serie Ono­re al Nero bekannt, aber in Wirk­lich­keit ist für mich Can­di­do eine durch­schla­gen­de Arbeit. Eine Meta­pher, die Dar­stel­lung der rei­nen Unschuld. Das Kind steht für alles, was unbe­wusst weh tun kann, ohne sich dar­über klar zu wer­den. Das ist die Bedeu­tung die­ser Arbeit.“ Die Bil­der, die Schön­heit por­trä­tie­ren, wer­den in Sab­baghs Poe­tik leben­dig: in den viel­fäl­ti­gen Nuan­cen des Men­schen, der in sei­ner Gesamt­heit, in sei­ner Kom­ple­xi­tät ver­stan­den wird.

Sie ver­meh­ren sich, wobei sie über­flie­ßen und die Visi­on eines Künst­lers näh­ren, des­sen visu­el­le Gram­ma­tik sogar in der Lage ist, Ästhe­tik und Ethik zu ver­mi­schen. Die 30 Tafeln, aus denen das Pro­jekt Made in Ita­ly© – Hand­le with care [2015] besteht und das von der stän­di­gen Samm­lung zeit­ge­nös­si­scher Kunst des Muse­ums MAXXI in Rom erwor­ben wur­de, zei­gen ita­lie­ni­sche Jugend­li­che, die Kin­der von Ita­lie­nern sind, zusam­men mit ita­lie­ni­schen Jugend­li­chen, die Ein­wan­de­rer­kin­der und ein­ge­wan­der­te Kin­der Ita­li­ens sind. Die Ver­mark­tung einer gering­er­wer­ti­gen Mensch­heit – die Geor­ge Orwell „Unpeo­p­le“ nennt – vor dem Hin­ter­grund der hori­zon­ta­len Linie der Adria. Sie tra­gen Hosen, die selbst für die­se Kör­per von Hel­den­kin­dern zu groß sind. Sie ste­hen am Ufer, dort an der flie­ßen­den Gren­ze, die die Din­ge vom Ran­de der Din­ge trennt. Jedes Kind hat sein eige­nes Eti­kett, das die indi­vi­du­el­len Merk­ma­le auf­lis­tet und uns dar­an erin­nert, dass das ein­zig wirk­lich ver­wert­ba­re Pro­dukt eine Zukunft der Inte­gra­ti­on ist. „Ich habe über das The­ma der ita­lie­ni­schen Exzel­len­zen nach­ge­dacht und neben den drei Fs, Fashion – Food – Fur­ni­tu­re, die in die gan­ze Welt expor­tiert wur­den, auch über eine vier­te nach­ge­dacht, die reprä­sen­ta­tiv für Kin­der ist, näm­lich die Zukunft. Das soll kei­ne sozia­le Arbeit sein, denn die aus­drück­lich sozia­len Arbei­ten gefal­len mir nicht.

Mich inter­es­sier­te eher die künst­le­ri­sche Ges­te, Her­an­wach­sen­de als Trä­ger eines neu­en Wer­tes: des Reich­tums in der Viel­falt.“ Neben der Öff­nung zur Zukunft ist sicher­lich auch die Expe­ri­men­tier­freu­dig­keit die mäch­tigs­te Eigen­schaft die­ses Künst­lers, der in sei­nem jüngs­ten mul­ti­me­dia­len Instal­la­ti­ons­pro­jekt MKUltra [2019] eine leb­haf­te Wech­sel­wir­kung zwi­schen ver­schie­de­nen Aus­drucks­wei­sen her­vor­hebt. Durch die künst­le­ri­sche Ges­te sucht die Form die Bestä­ti­gung der Sub­jek­ti­vi­tät inner­halb einer Ver­viel­fäl­ti­gung von kran­ken Gesich­tern, Ver­let­zun­gen der Iden­ti­tät, post-huma­nen Reli­qui­en und Brü­chen. Aus­gangs­punk­te, die, wie bei dem von Bar­thes schrift­lich iden­ti­fi­zier­ten Null­grad, den­je­ni­gen Null­grad reprä­sen­tie­ren, den Sab­bagh für die Kul­tur ver­folgt und kata­lo­gi­siert. Eine Gehirn­wä­sche, aus­ge­löst durch einen stum­men Exor­zis­mus, der zwi­schen Foto­gra­fie, Skulp­tur und Video ein­ge­zwängt ist, der Alter und Iden­ti­tät ver­ödet, indem Merk­ma­le ver­brannt, Gesich­ter bom­bar­diert, Bli­cke zer­stört, Men­schen und ihre Pro­jek­tio­nen in unmög­li­che Raum-Zeit-Kor­re­spon­den­zen gebracht wer­den, wobei jedoch bei nähe­rer Betrach­tung klar wird, dass sie noch nie der­ma­ßen real waren. Alles hat bei Sab­bagh nur den ein­zi­gen Zweck: nie­mals den Gedan­ken zu entschärfen.

Por­trait von Mus­ta­fa Sab­bagh, © Eli­sa­bet­ta Claudio

Die Kunst von Mus­ta­fa Sab­bagh ist wie eine Schieß­schar­te in der Welt, aus der eine Viel­zahl von Aus­drucks­for­men der Lie­be her­vor­kommt, die sich auf krei­sen­de Bewe­gun­gen stüt­zen, die immer um die­sel­ben Anzie­hungs­punk­te her­um auf­ge­baut sind: Unschuld und Sün­de, Eros und Tha­na­tos, Gut und Böse, Posi­ti­ves und Negatives.

Ein gren­zen­lo­ses Gebiet, in dem sich Extre­me anzie­hen, koexis­tie­ren und zu einer ein­heit­li­chen Bezie­hung ein­la­den. Ein Vor­gang der Ver­ei­ni­gung von Gegen­sät­zen. Ein Ver­such, die Dicho­to­mie zwi­schen Gegen­sät­zen wie­der zusammenzubringen.

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geschrieben von

ist Autorin, unabhängige Kuratorin und Performerin. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, kuratiert Kunstbücher, Ausstellungskataloge, Ausstellungen der Fotografie und der zeitgenössischen Kunst und verfasst Videokunstkritiken. Seit 2016 ist sie als Performerin tätig. Sie hat an mehreren Videoperformances teilgenommen und öffentliche Performances realisiert, an Kurzfilmen und Filmen mit experimentellem Charakter mitgewirkt, die auf internationalen Festivals präsentiert wurden.

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